Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 599/2003
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I 599/03

Urteil vom 21. April 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Ackermann

M.________, 1949, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Dr. Michael
Weissberg, Zentralstrasse 47, 2502 Biel,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 10. Juli 2003)

Sachverhalt:

A.
M.________, geboren 1949, war von August 1995 bis Ende August 2000 als
Hilfsarbeiterin bei der Firma Q.________ angestellt. Am 7. Januar 1999
rutschte sie auf Glatteis aus und stürzte auf den Rücken. Die vom zuständigen
Unfallversicherer auf den 15. April 1999 vorgenommene Leistungseinstellung
wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 3. März 2002
bestätigt, ohne dass dagegen ein Rechtsmittel ergriffen worden ist.
Am 3. April 2001 meldete sich M.________ bei der Invalidenversicherung zum
Rentenbezug an, worauf die IV-Stelle Bern die Akten des Unfallversicherers
einholte (insbesondere gemeinsames Gutachten des Dr. med. A.________, FMH
Psychiatrie und Psychotherapie, und der Frau Dr. med. A.________, FMH
Physikalische Medizin und Rehabilitation, vom 20. März 2000). Weiter zog die
Verwaltung je einen Bericht des Arbeitgebers vom 1. Mai 2001 sowie des
Hausarztes Dr. med. B.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 12. Juli 2001
bei. Schliesslich veranlasste sie eine interdisziplinäre Begutachtung durch
Frau Dr. med. L.________, Spezialärztin FMH für Neurochirurgie (Gutachten vom
20. Oktober 2001) und Dr. med. H.________, Psychiatrie, Psychotherapie FMH
(Gutachten vom 12. November 2001). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren
sprach die IV-Stelle mit Verfügung vom 4. April 2002 M.________ mit Wirkung
ab dem 1. März 2001 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu und
erachtete sie in einer leidensangepassten Tätigkeit als 50 % arbeitsfähig.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 10. Juli 2003 ab, nachdem es (unter anderem) einen Bericht
des Spitals X.________ vom 9. Dezember 2002 zu den Akten genommen hatte.

C.
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Verwaltungsverfügung sei
ihr ab dem 1. März 2001 eine ganze Rente der Invalidenversicherung
zuzusprechen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Wie das kantonale Gericht zu Recht festgehalten hat, ist das am 1. Januar
2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall
nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (April 2002) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Dasselbe gilt für die Bestimmungen der auf den
1. Januar 2004 in Kraft getretenen 4. IVG-Revision. Zutreffend sind im
Weiteren die Darlegungen der Vorinstanz über den Invaliditätsbegriff (Art. 4
IVG), die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28
Abs. 1 und 1bis IVG), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen
anhand des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie die Aufgabe der
Ärzte bei der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4). Darauf wird
verwiesen.

2.
Streitig ist der Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung und
in diesem Zusammenhang allein das Ausmass der zumutbaren Arbeitsfähigkeit.

2.1 Die Vorinstanz stellt auf die interdisziplinäre Einschätzung der
Gutachter Dres. med. L.________ und H.________ ab und geht von einer
Arbeitsfähigkeit von 50 % aus. Die Beschwerdeführerin ist demgegenüber der
Auffassung, es bestehe eine vollständige Arbeitsunfähigkeit; dies ergebe sich
aus dem Bericht des Spitals X.________ von Dezember 2002 sowie den damit
übereinstimmenden Meinungen der Dres. med. A.________ und des Hausarztes.

2.2 Im Gutachten vom 20. Oktober 2001 kommt Frau Dr. med. L.________ zum
Schluss, aufgrund der degenerativen Veränderungen im unteren Bereich der
Lendenwirbelsäule bestehe aus neurochirurgischer Sicht eine Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit von 40 %. Da in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht
keine Einwendungen gegen diese überzeugende Expertise erhoben werden, ist in
somatischer Hinsicht darauf abzustellen (vgl. BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb).

2.3 Weiter ist die Einschränkung im psychischen Bereich zu prüfen.

2.3.1 Dr. med. H.________ stellt in der Expertise vom 12. November 2001 fest,
dass "auch bei geduldiger Exploration keine wesentlichen psychischen
Störungen nachweisbar" seien. Weiter seien bei psychosomatischen Störungen
"die quälenden Schmerzen in der Regel von deutlichen Depressionen und Ängsten
begleitet", was bei der Versicherten jedoch nicht der Fall sei. Da aber "eine
Aggravationstendenz und gewisse fixierende Anteile" auffielen, lasse dies auf
eine mild ausgeprägte psychosomatische Störung schliessen, welche die
Arbeitsfähigkeit etwa 10 % einschränke. Zusammen mit der von Frau Dr. med.
L.________ festgestellten (somatischen) Einschränkung im Bereich der
Lendenwirbelsäule (vgl. Erw. 2.2 hievor) ergebe sich interdisziplinär eine
Restarbeitsfähigkeit von 50 %.
Das Gutachten des Dr. med. H.________ vom 12. November 2001 ist für die
streitigen Belange umfassend, beruht auf allseitigen Untersuchungen,
berücksichtigt die geklagten Beschwerden und ist in Kenntnis der Vorakten
abgegeben worden; zudem ist es in der Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtend und enthält
begründete Schlussfolgerungen (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Damit kommt dieser
Expertise grundsätzlich volle Beweiskraft zu.

2.3.2 Nicht gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens spricht das in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erwähnte Argument, dass Dr. med. H.________ -
wie auch Frau Dr. med. L.________ - oft für die IV-Stelle Gutachten erstelle
und deshalb nicht unabhängig sei. Auch wenn der Experte ein Angestellter der
Verwaltung wäre, könnte nach der Rechtsprechung allein daraus nicht auf
mangelnde Objektivität und auf Befangenheit geschlossen werden; vielmehr
müssten besondere Umstände vorliegen, welche das Misstrauen in die
Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen lassen
(BGE 125 V 353 f. Erw. 3b/ee). Es ist hier jedoch kein Anhaltspunkt
ersichtlich, dass sich der psychiatrische Experte von aussermedizinischen
Gesichtspunkten hätte leiten lassen, sodass seine Expertise unter diesem
Gesichtspunkt nicht zu beanstanden ist.

2.3.3 Die Dres. med. A.________ vertreten in ihrem Gutachten vom 20. März
2000 zuhanden des Unfallversicherers die Auffassung, die Versicherte sei
"derzeit" 100 % arbeitsunfähig und zwar sowohl in der angestammten wie auch
in einer anderen Tätigkeit. Jedoch ist diese Expertise im Verfügungszeitpunkt
bereits mehr als zwei Jahre alt gewesen und überdies im
Unfallversicherungsverfahren erstellt worden, in dem vor allem die Frage der
Kausalität zu beantworten war (was bei der Invalidenversicherung infolge
ihres Finalcharakters nicht notwendig ist; vgl. BGE 124 V 178 Erw. 3b mit
Hinweisen). Weiter fällt auf, dass im Gutachten A.________ von März 2000 zwar
die Diagnosen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4)
sowie einer Anpassungsstörung (Angst und depressive Reaktion gemischt; ICD-10
F43.22) gestellt werden (was für sich allein aber noch nichts über die
Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit aussagt; vgl. BGE 127 V
298 Erw. 4c), jedoch ebenfalls ausgeführt wird, das "subjektive
Beeinträchtigungsgefühl" verhindere die Erwerbsfähigkeit zu 100 %. Damit ist
aber nicht klar, ob die Arbeitsunfähigkeit wirklich auf den diagnostizierten
Leiden oder einem bloss subjektiven Beeinträchtigungsgefühl beruht, welches
für sich allein den Krankheitsbegriff nicht erfüllt: Nicht als Auswirkungen
einer krankhaften seelischen Verfassung und damit
invalidenversicherungsrechtlich als nicht relevant gelten nämlich
Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte Person bei
Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in ausreichendem Masse zu verrichten,
zu vermeiden vermöchte, wobei das Mass des Forderbaren weitgehend objektiv
bestimmt werden muss (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen).
Weiter stützen die Experten ihre Beurteilung massgebend auf die subjektiven
Angaben der Beschwerdeführerin, da ihr ein Simulieren nicht unterstellt
werden könne. Jedoch fehlt in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit
den Ausführungen über eine Aggravation in den - im Rahmen der Verfassung des
Gutachtens berücksichtigten - Berichten des Neurologen Dr. med. G.________,
Neurologie FMH, vom 5. Juli 1999 und der Rheumaklinik des Spitals Y._________
vom 27. August 1999. Schliesslich sind die Gutachter Dres. med. A.________
der Auffassung, der Heilungsverlauf könne durch "soziokulturelle Faktoren"
behindert werden, woraus geschlossen werden muss, dass in die Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit auch invaliditätsfremde Aspekte eingeflossen sind (vgl. BGE
127 V 299 Erw. 5a). Damit ist die von den Dres. med. A.________ gezogene
Schlussfolgerung einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % nicht genügend begründet
(BGE 125 V 352 Erw. 3a) und spricht in der Folge nicht gegen die
Zuverlässigkeit des Gutachtens des Dr. med. H.________ von November 2001 (BGE
125 V 353 Erw. 3b/bb).

2.3.4 In seinem Bericht vom 12. Juli 2001 hält Dr. med. B.________ fest, in
der jetzigen Verfassung sei keine Tätigkeit mehr möglich, was er jedoch mit
invaliditätsfremden Gesichtspunkten (fehlende Ausbildung und Kommunikation)
begründet; so stellt der Arzt (unter anderem) denn auch die Diagnose "soziale
Problematik". Wegen der Berücksichtigung invaliditätsfremder Aspekte spricht
auch dieser Bericht nicht gegen die Einschätzung des Dr. med. H.________ (BGE
125 V 353 Erw. 3b/bb).

2.3.5 Schliesslich betrifft der im vorinstanzlichen Verfahren eingereichte
Bericht des Spitals X.________ vom 9. Dezember 2002 einen Zeitpunkt nach dem
- Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildenden (BGE 121 V 366 Erw.
1b) - Zeitraum bis Verfügungserlass (April 2002); so wird denn auch
ausgeführt, "im Moment" stehe eine mittelschwere Depression deutlich im
Vordergrund. Schon aus diesem Grund kann die Versicherte daraus nichts zu
ihren Gunsten ableiten.
Damit ist auf die interdisziplinäre Einschätzung der Gutachter Dres. med.
L.________ und H.________ abzustellen und eine Arbeitsfähigkeit von 50 %
anzunehmen.

2.4 Da Validen- und Invalideneinkommen gemäss kantonalem Entscheid
ziffernmässig nicht bestritten und nach der Aktenlage auch nicht zu
beanstanden sind (BGE 110 V 53 Erw. 4a), besteht beim daraus folgenden
Invaliditätsgrad Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 21. April 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: