Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 588/2003
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I 588/03

Urteil vom 10. Februar 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Attinger

A.________, 1974, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt
Johann-Christoph Rudin, Zollikerstrasse 4, 8008 Zürich, und dieser vertreten
durch Rechtsanwalt Ronald Jenal, Zollikerstrasse 4, 8008 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 30. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1974 geborene A.________ arbeitete nach dem Abschluss ihrer Lehre als
Zahnarztgehilfin teilweise im erlernten Beruf, teilweise in verschiedenen
Überbrückungstätigkeiten, bevor sie ab Oktober 1996 als Kassa- und
Infomitarbeiterin der Firma E.________ AG angestellt wurde.

Am 29. November 1994 war A.________ als Beifahrerin in einem Personenwagen in
einen Auffahrunfall verwickelt, in dessen Folge sie Schmerzen im Hinterkopf,
in der Halswirbelsäule (HWS), im Rücken sowie in der rechten Rippengegend
verspürte. Die Behandlung konnte bei eingetretener Beschwerdefreiheit Mitte
Dezember 1994 abgeschlossen werden. Ab Oktober 1995 litt die Versicherte
wieder unter Schmerzen im Bereich der rechten Schulter und der rechten
Nackenmuskulatur, was zu Abklärungen an der Klinik B.________ Anlass gab
(Berichte vom 28. Oktober 1996, 22. Januar und 3. Februar 1997).

Anlässlich der Wassergeburt ihres ersten Kindes am 24. September 1999 traten
Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule und der rechten Schulter mit
Schwächung des rechten Armes auf. Dr. med. R.________, Oberärztin der
Frauenklinik des Spitals Y.________, diagnostizierte einen Verdacht auf
Zerrung/Unterkühlung im Schulterbereich (Arztzeugnis vom 9. August 2000). Dr.
med. H.________, Spezialärztin FMH für Physikalische Medizin, äusserte in
einem Bericht vom 5. Januar 2000 einen Verdacht auf Scapula alata, welcher
durch eine Untersuchung bei Dr. med. W.________, Spezialarzt FMH für
Neurologie, bestätigt wurde (Bericht vom 31. Januar 2000). Die Diagnose
lautete: "Status nach neuralgischer Schulteramyotrophie im September 1999 mit
residueller Parese des M. serratus anterior und konsekutiver Scapula alata,
Dysbalance-Syndrom des rechten Schultergürtels mit Schulterknarren (Snapping
der Scapula) und Status nach HWS-Schleudertrauma 1994."

Am 18. Juli 2000 meldete sich A.________ bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug (Rente) an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich holte
verschiedene Unterlagen berufsbezogener, versicherungstechnischer und
medizinischer Art ein, unter Letzteren ein multidisziplinäres Gutachten des
Medizinischen Zentrums X.________ (MZX) vom 18. März 2002. Nach Durchführung
des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 1. Oktober
2002 das Leistungsbegehren ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 30. Juni 2003 abgewiesen.

C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Rechtsbegehren,
vorinstanzlicher Entscheid und Verwaltungsverfügung seien aufzuheben und es
sei ihr mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter wird
die Rückweisung zur Vornahme weiterer Abklärungen über den Invaliditätsgrad
beantragt.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die massgeblichen Gesetzesbestimmungen und
Grundsätze zutreffend dargelegt. Es betrifft dies: die Nichtanwendbarkeit der
materiellen Bestimmungen des seit 1. Januar 2003 in Kraft stehenden
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000, den Begriff der Invalidität (Art. 4 IVG); die
Voraussetzungen und den Umfang des Anspruchs auf eine Invalidenrente (Art. 28
Abs. 1 IVG); die Bemessung der Invalidität nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs bei erwerbstätigen Versicherten (Art. 28 Abs. 2 IVG),
nach der spezifischen Methode des Betätigungsvergleichs bei
Nichterwerbstätigen (Art. 28 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 26bis und Art.
27 Abs. 1 IVV; BGE 104 V 136 Erw. 2a; AHI 1997 S. 291 Erw. 4a) und nach der
gemischten Methode bei teilweise Erwerbstätigen (Art. 27bis Abs. 1 IVV) und
schliesslich die praxisgemässen Anforderungen an einen beweistauglichen
ärztlichen Bericht (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweisen). Darauf wird
verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass auch die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen
Änderungen des IVG (4. IVG-Revision, AS 2003 3837) im vorliegenden Fall keine
Anwendung finden, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (hier: 1. Oktober 2002)  eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine
Invalidenrente.

3.
Alle mit dem Fall befassten Ärzte und Gutachter sind sich darin einig, dass
bei der Beschwerdeführerin eine Scapula alata rechts vorliegt. Umstritten
ist, welche Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit sich daraus ergeben. Dr.
med. H.________ erachtete in ihrem Bericht vom 14. August 2000 eine bleibende
Arbeitsunfähigkeit für nicht gegeben, zumindest soweit voraussehbar.
Eingeschränkt sei die Versicherte aber bei starken Belastungen des rechten
Arms, Überkopfarbeiten und beim Tragen und Heben schwerer Lasten. In der
bisherigen Berufstätigkeit sei ein halbtägiges, in behinderungsangepassten
Tätigkeiten ein volles Pensum zumutbar. Dr. med. W.________ gab in seinem
Bericht vom 23. Oktober 2000 an, die Fragen nach Einschränkungen in der
beruflichen Tätigkeit oder im Haushalt nicht sicher beantworten zu können,
doch bestehe wahrscheinlich keine schwerwiegende Einschränkung in der
Arbeitsfähigkeit als Verkäuferin. Dr. med. T.________, Facharzt FMH für
Chirurgie, diagnostizierte in seinem Arztbericht vom 6. Dezember 2000
zuhanden der Winterthur Versicherungen eine traumatische Rissläsion der
Serratus-anterior-Muskulatur mit folgender Scapula alata rechts. Die
Versicherte sei in ihrer beruflichen Tätigkeit und im Haushalt zu 50 %
arbeitsfähig. Die Gutachter des MZX, die Dres. med. M.________ und
L.________, zählten als Diagnosen mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eine
Scapula alata rechts und eine funktionelle Dysbalance der
Schultergürtelmuskulatur auf, als Diagnosen ohne Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit eine Inguinalhernie rechts, einen Status nach Distorsion der
HWS 1994 und eine Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.1). Sie erachteten die
Beschwerdeführerin als voll arbeitsfähig, sowohl in ihren bisherigen
beruflichen Tätigkeiten als auch - unter Hinweis auf Unterstützung durch den
Ehemann - im Haushalt. Am 14. August 2002 erstellte Dr. med. T.________
aufgrund zweier inzwischen durchgeführter MRI-Untersuchungen des
Schultergelenkes und der periscapulären Muskulatur einen weiteren
Arztbericht, worin er eine definitive Atrophie mit höchstgradiger Verfettung
der Serratus-anterior-Muskulatur festhielt. Die Versicherte sei in vielen
Arbeiten wesentlich behindert, vor allem beim Arbeiten mit Gewichten in
vorgehaltener Armstellung. In einem Nachtrag vom 27. August 2002 präzisierte
er, die Arbeitsunfähigkeit betrage nach wie vor 50 %.

4.
4.1 Nach den Erwägungen der Vorinstanz durfte die IV-Stelle auf die
Beurteilung der Ärzte des MZX abstellen, welche eine 100%ige Arbeitsfähigkeit
angenommen hatten. Der im August 2002 verfasste Bericht des Dr. med.
T.________, welcher den MZX-Gutachtern noch nicht vorgelegen hatte, vermöge
diese Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht in Frage zu stellen. Die
Einschätzungen von Dr. T.________ seien widersprüchlich; während laut Bericht
vom 3. Juli 2002 im Prinzip mit dem rechten Arm alle Bewegungen ausgeführt
werden könnten, sei dies eineinhalb Monate später nicht mehr der Fall. Eine
solche Entwicklung sei auch angesichts der im August 2002 erhobenen Befunde
nicht glaubhaft.

Dieser Beweiswürdigung kann nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz meint in den
beiden Berichten von Dr. T.________ vom 3. Juli 2002 und 14. August 2002
einen Widerspruch auszumachen, indem sie ausführt, der Zustand der
Beschwerdeführerin könne sich während eineinhalb Monaten nicht derart
verschlechtert haben. Dabei übersieht das kantonale Gericht, dass die beiden
Berichte auf völlig verschiedenen Grundlagen beruhen. Im Bericht vom 3. Juli
2002 führte Dr. T.________ aus, der Zustand der Beschwerdeführerin habe sich
in der Zwischenzeit, das heisst seit der Untersuchung vor zwei Jahren, nicht
wesentlich verändert. Dazu ist festzuhalten, dass die ursprüngliche
Untersuchung einen schlechteren Befund zeigte, als er ein Jahr später vom MZX
erhoben worden ist. Dr. T.________ stellte sodann in seinem Bericht vom 3.
Juli 2002 eine eingehende Untersuchung mittels MRI in Aussicht. Gestützt auf
diese MRI-Untersuchung attestierte er am 14. August 2002 einen eindrücklichen
Zustand in Bezug auf die Scapula alata und eine definitive Atrophie mit
höchstgradiger Verfettung der Serratus-anterior-Muskulatur. Aufgrund dieser
Untersuchungsergebnisse war Dr. T.________ in der Lage, die von der
Beschwerdeführerin geklagten Schmerzen in den Schultern zu erklären: In
diesem Bereich liege zwar kein struktureller pathologischer Befund vor, aber
durch die Kippung der Scapula werde eine Fehlfunktion der Schulterstrukturen
provoziert.

Die Abweichungen vom MZX-Gutachten sind offensichtlich. In diesem war
lediglich die Rede von einer "mässigen Scapula alata" und die
Serratus-anterior-Muskulatur wurde als leicht insuffizient beurteilt. Nachdem
der Bericht von Dr. T.________ vom 14. August 2002 auf einer MRI-Untersuchung
beruht, während das MZX diese - laut Debrunner, Orthopädie, orthopädische
Chirurgie, 4. Aufl. Bern 2002, S. 718, für die erweiterte Schulterdiagnostik
am besten geeignete - Untersuchungsmethode nicht eingesetzt hat, ist
medizinisch vom Bericht von Dr. T.________ auszugehen.

4.2 Die vorliegenden ärztlichen Berichte ergeben kein klares Bild über die
Einschränkungen in der Arbeitsfähigkeit und in der Haushalttätigkeit. Im
Hinblick auf die durch die Kernspintomographie gewonnenen Erkenntnisse kann
jedenfalls - entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts - nicht ohne
weiteres von einer uneingeschränkten Leistungsfähigkeit in den bisher
ausgeübten erwerblichen Tätigkeiten (wozu insbesondere auch der erlernte
Beruf als Zahnarztgehilfin zu zählen ist) ausgegangen werden.  Die Sache ist
daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie, in Berücksichtigung der
nach Erstellung des MZX-Gutachtens erhobenen medizinischen Befunde,
ergänzende Abklärungen zur Arbeitsfähigkeit vornehme. Dabei wird auch zu
prüfen sein, in welchem Ausmass die Beschwerdeführerin ohne Behinderung
erwerbstätig wäre. Je nach Ergebnis wird für den Haushaltbereich ein
Betätigungsvergleich durchzuführen sein (vgl. Erw. 1 hievor).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Juni
2003 und die Verfügung vom 1. Oktober 2002 aufgehoben, und es wird die Sache
an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit diese, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch der
Beschwerdeführerin neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse Grosshandel und Transithandel  und dem Bundesamt
für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 10. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: