Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 57/2003
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I 57/03

Urteil vom 3. April 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Keel Baumann

M.________, 1947, Beschwerdeführer, handelnd durch den SMUV Region
Winterthur-Uster, Lagerhausstrasse 6, 8400 Winterthur, und dieser vertreten
durch Rechtsanwalt Hans Ulrich Würgler, Merkurstrasse 25, 8400 Winterthur,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 9. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
In Nachachtung eines Urteils des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom
19. Juni 2000 holte die IV-Stelle des Kantons Zürich zur Arbeitsfähigkeit des
1947 geborenen M.________ bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) ein
polydisziplinäres Gutachten ein, welches am 10. Dezember 2001 erstattet
wurde. Gestützt darauf verfügte sie am 23. Juli 2002, dass M.________ ab 1.
Februar 1997 bis Ende des der Verfügung folgenden Monats, somit bis Ende
August 2002, Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung (samt
Zusatzrente für die Ehefrau) habe, und verneinte für die Zeit danach einen
Rentenanspruch. Im Weitern entzog sie einer gegen diese Verfügung gerichteten
Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

B.
M.________ liess hiegegen Beschwerde erheben und das Rechtsbegehren stellen,
es sei ihm mit Wirkung ab 1. Februar 1997 eine (unbefristete) ganze Rente
auszurichten; eventualiter sei die Sache zur Ergänzung des MEDAS-Gutachtens
und zur Durchführung von Arbeitsversuchen an die IV-Stelle zurückzuweisen. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragte er die Gewährung der aufschiebenden
Wirkung und die Weiterausrichtung der halben Rente auch ab 1. Oktober (recte:
1. September) 2002. Mit Verfügung vom 9. Januar 2003 forderte das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den Versicherten auf, innert 20
Tagen zur angedrohten reformatio in peius Stellung zu nehmen und zu erklären,
ob er seine Beschwerde zurückziehen wolle, wobei im Falle von Säumnis
Festhalten an der Beschwerde angenommen werde (Ziffer 1). Das Gesuch um
Zubilligung der aufschiebenden Wirkung bzw. um Erlass einer vorsorglichen
Massnahme wies das Gericht ab (Ziffer 2).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt M.________ beantragen, die Verfügung
vom 9. Januar 2003 sei bezüglich Ziffer 2 aufzuheben und der Beschwerde sei
die aufschiebende Wirkung zu erteilen. Es sei ihm auch ab 1. September 2002
weiterhin eine halbe Rente der Invalidenversicherung auszurichten.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim Beschwerdeverfahren betreffend die aufschiebende Wirkung oder andere
vorsorgliche Massnahmen in einem Leistungsprozess geht es um die Bewilligung
oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (vgl. BGE 121 V 180 Erw. 4a;
SVR 1999 IV Nr. 18 S. 53 Erw. 2b). Die Überprüfungsbefugnis des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts ist daher nicht auf die Verletzung von
Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens
beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der
angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die
Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132
OG).

2.
2.1 Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidgenössische Versicherungsgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne
von Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG auf dem Gebiet der Sozialversicherung.
Hinsichtlich des Begriffs der mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbaren
Verfügungen verweist Art. 97 OG auf Art. 5 VwVG. Nach Art. 5 Abs. 1 VwVG
gelten als Verfügungen Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf
öffentliches Recht des Bundes stützen (und im Übrigen noch weitere, nach dem
Verfügungsgegenstand näher umschriebene Voraussetzungen erfüllen).
Verfügungen im Sinne dieser Umschreibung können nach dem Wortlaut des zweiten
Absatzes von Art. 5 VwVG auch Zwischenverfügungen sein, insoweit sie den
Anforderungen des vorangehenden ersten Absatzes entsprechen. Zudem verweist
Art. 5 Abs. 2 VwVG bezüglich der Zwischenverfügungen auf Art. 45 des gleichen
Gesetzes, laut dem nur solche Zwischenverfügungen anfechtbar sind, die einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 45 Abs. 1 VwVG).
Dieser grundsätzliche Vorbehalt gilt als Voraussetzung für die Zulässigkeit
eines selbstständigen, der Endverfügung vorangehenden Beschwerdeverfahrens,
insbesondere für alle in Art. 45 Abs. 2 VwVG - nicht abschliessend -
aufgezählten Zwischenverfügungen. Für das letztinstanzliche
Beschwerdeverfahren ist ferner zu beachten, dass gemäss Art. 129 Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 101 lit. a OG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen
Zwischenverfügungen nur zulässig ist, wenn sie auch gegen die Endverfügung
offen steht (BGE 128 V 201 Erw. 2a, 124 V 85 Erw. 2 mit Hinweisen).

2.2 Endverfügungen im Bereich der Invalidenversicherung unterliegen der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht
(Art. 69 IVG in Verbindung mit Art. 86 AHVG), womit diese
Eintretensvoraussetzung vorliegend erfüllt ist. Ob auch das Erfordernis eines
nicht wiedergutzumachenden Nachteils (vgl.  dazu BGE 126 V 247 Erw. 2c, 124 V
87 Erw. 4, 121 V 116 mit Hinweisen) gegeben ist, kann offen gelassen werden,
weil sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde - wie zu zeigen ist (Erw. 4
hiernach) - jedenfalls als unbegründet erweist.

3.
3.1 Zur Frage des Suspensiveffektes erwog die Vorinstanz, dass mit der
Verneinung des Rentenanspruchs ab September 2002 eine negative Verfügung
vorliege, weil mit ihr die Leistung von Anfang an begrenzt bzw. ab September
2002 nicht mehr gewährt werde. In Frage komme einzig eine vorsorgliche
Massnahme, wobei zu erwähnen sei, dass die Qualifizierung als positive oder
negative Verfügung aufgrund des engen Zusammenhanges von aufschiebender
Wirkung und vorsorglicher Massnahme keine grosse Rolle spiele. Die
Interessenabwägung falle bei der Würdigung der Erfolgsaussichten der
Beschwerde ohnehin zu Ungunsten des Versicherten aus, weshalb kein Raum für
die Anordnung einer vorsorglichen Massnahme oder die Zubilligung der
aufschiebenden Wirkung bestehe.

3.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, es bestehe
Anspruch auf Beibehaltung des bisherigen Zustandes, weil  mit der Verfügung
vom 23. Juli 2002 der zeitliche Anspruch nicht von Anfang begrenzt, sondern
ein bereits früher ausgewiesener Anspruch beendet worden sei. Es gehe auch
nicht an, dem Beschwerdeführer ab 1. September 2002 keine Rentenleistungen
mehr auszurichten, hätte dies doch die fatale und unzumutbare Konsequenz,
dass er für die Bestreitung seines Lebensunterhaltes die Sozial- und
Wirtschaftshilfe in Anspruch nehmen müsste.

4.
Die von der Vorinstanz unter Hinweis auf die geringen praktischen
Unterschiede letztlich offen gelassene Frage, ob sich das vom Versicherten
gestellte Gesuch - entsprechend seinem Wortlaut - auf die Wiederherstellung
der aufschiebenden Wirkung (Art. 55 VwvG) oder - sinngemäss - auf die
Anordnung vorsorglicher Massnahmen (Art. 56 VwVG) richtete, ist in letzterem
Sinne zu entscheiden. Denn rechtsprechungsgemäss stellt eine Verfügung,
welche - wie die vorliegende - den Anspruch auf Versicherungsleistungen von
Anfang an zeitlich begrenzt, insoweit eine negative Verfügung dar, weshalb
der Beschwerde gegen eine solche Verfügung keine aufschiebende Wirkung
zukommen kann (BGE 123 V 39).

4.1 Die über die Anordnung vorsorglicher Massnahmen nach Art. 56 VwVG
befindende Behörde hat zu prüfen, ob die Gründe, die für die sofortige
Vollstreckbarkeit der Verfügung sprechen, gewichtiger sind als jene, die für
die gegenteilige Lösung angeführt werden können. Dabei steht ihr ein gewisser
Beurteilungsspielraum zu. Im Allgemeinen wird sie ihren Entscheid auf den
Sachverhalt stützen, der sich aus den vorhandenen Akten ergibt, ohne
zeitraubende weitere Erhebungen anzustellen. Bei der Abwägung der Gründe für
und gegen die sofortige Vollstreckbarkeit können auch die Aussichten auf den
Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache ins Gewicht fallen; sie müssen
allerdings eindeutig sein (BGE 117 V 191 Erw. 2b mit Hinweisen, wo diese zur
aufschiebenden Wirkung gemäss Art. 55 VwVG ergangenen Grundsätze ausdrücklich
im Bereich des Art. 56 VwVG für sinngemäss anwendbar erklärt wurden; vgl.
auch BGE 124 V 88 Erw. 6a mit Hinweis).

4.2 Bei der Abwägung der Gründe für und gegen eine sofortige Vollstreckung
der Verfügung steht dem Interesse der IV-Stelle, eine Rückforderung wegen der
damit verbundenen administrativen Erschwernisse und der Gefahr der
Uneinbringlichkeit nach Möglichkeit zu vermeiden, das Interesse des
Beschwerdeführers gegenüber, während der Dauer der Prozesses nicht von der
Fürsorge abhängig zu sein und durch die - mit Inkrafttreten des Gesetzes über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000
am 1. Januar 2003 allerdings aufgehobene (vgl. Art. 26 Abs. 2 ATSG und Art. 6
und 7 ATSV) - fehlende Verzinsung allfälliger Rentennachzahlungen keine
finanzielle Einbusse zu erleiden. Geltend gemacht wird vom Beschwerdeführer,
wohl weil letzterer Punkt kaum ins Gewicht fällt, einzig, dass er bei
Einstellung der Rentenleistungen während der Dauer des Beschwerdeverfahrens
auf die Fürsorge angewiesen wäre. Diesem Umstand kommt indessen praxisgemäss
nur dann ausschlaggebende Bedeutung zu, wenn mit grosser Wahrscheinlichkeit
anzunehmen ist, dass der Versicherte im Hauptverfahren obsiegen wird (BGE 105
V 269 Erw. 3; vgl. auch AHI 2000 S. 185 Erw. 5 mit Hinweisen; jüngst
bestätigt in den Urteilen S. vom 29. Januar 2002, I 749/01, und B. vom 12.
März 2002, I 51/02). Da diese Voraussetzung vorliegend nicht erfüllt ist,
sind die für die sofortige Vollstreckbarkeit sprechenden Gründe gewichtiger
als jene, die für die gegenteilige Lösung angeführt werden können. Fällt die
Interessenabwägung demnach zuungunsten des Beschwerdeführers aus, hat die
Vorinstanz das sinngemäss auf die Anordnung vorsorglicher Massnahmen lautende
Gesuch im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

5.
Das Verfahren ist kostenlos, wenn sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gegen eine kantonale Zwischenverfügung betreffend die aufschiebende Wirkung
oder eine (andere) vorsorgliche Massnahme in einem Leistungsprozess richtet
(BGE 121 V 180 Erw. 4a; AHI 2000 S. 182 Erw. 2b).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 3. April 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: