Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 578/2003
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I 578/03

Urteil vom 8. Juni 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Grunder

B.________, 1954, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Tim
Walker, Hinterdorf 27, 9043 Trogen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 30. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 13. Juni 2001 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
der 1954 geborenen B.________ eine ganze Rente der Invalidenversicherung
(nebst Zusatzrente für den Ehegatten und Kinderrente) mit Beginn ab 1. Mai
1999 zu und ordnete gleichzeitig die Verrechnung des Nachzahlungsbetrages für
die Zeitspanne vom Mai 1999 bis Mai 2001 im Umfang von Fr. 76'230.- mit einer
nicht genannten Forderung an.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies der Präsident der Abteilung II des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 30. Juni 2003
ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ die Rechtsbegehren
stellen, Dispositiv-Ziffer 1 und 3 des kantonalen Entscheids und die
Verwaltungsverfügung seien aufzuheben, soweit sie nicht den gesetzlichen
Bestimmungen entsprechen, für das vorinstanzliche Verfahren sei eine
angemessene Parteientschädigung zuzusprechen und es sei ein zweiter
Schriftenwechsel anzuordnen. Gleichzeitig wird um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.

D.
Der Instruktionsrichter hat den Präsidenten der Abteilung II des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen ersucht, die Gründe darzulegen,
weshalb der angefochtene Entscheid in einzelrichterlicher Zuständigkeit
gefällt wurde. Der kantonale Richter hat sich am 28. Mai 2004 vernehmen
lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In formeller Hinsicht beanstandet die Beschwerdeführerin, dass der kantonale
Beschwerdeentscheid über die Zulässigkeit der von der IV-Stelle angeordneten
Verrechnung als einzelrichterlicher Entscheid erging. Diese Rüge der
funktionellen Unzuständigkeit des Einzelrichters ist vorab zu prüfen, da bei
deren Begründetheit der angefochtene Entscheid ohne Prüfung der materiellen
Streitfrage aufzuheben ist (vgl. BGE 125 V 502 Erw. 2c). Auf die beantragte
Durchführung eines weiteren Schriftenwechsels (Art. 110 Abs. 4 OG) ist zu
verzichten.

2.
2.1 Die Rechtspflegebestimmung des seit 1. Januar 2003 geltenden ATSG (Art.
61) enthält keine Vorschrift über die Zusammensetzung der kantonalen
Versicherungsgerichte. Die Regelung dieser Frage obliegt somit den Kantonen.
Mit den kantonalen Verfahrensbestimmungen hat sich das Eidgenössische
Versicherungsgericht nicht zu befassen (Art. 128 in Verbindung mit Art. 97
Abs. 1 OG und Art. 5 Abs. 1 VwVG; Art. 104 lit. a OG). Es hat nur zu prüfen,
ob ihre Auslegung und Anwendung zu einer Verletzung von Bundesrecht (Art. 104
OG), insbesondere des Willkürverbots (Art. 9 BV), geführt hat (BGE 129 V 338
Erw. 1.3.2 mit Hinweisen).
Gemäss der materiell unverändert von Art. 58 aBV in Art. 30 Abs. 1 BV
überführten, auch in Art. 6 Abs. 1 enthaltenen Garantie des
verfassungsmässigen Richters haben die Prozessparteien im Sinne einer
unabhängig vom anwendbaren Prozess- und Organisationsrecht geltenden
Minimalgarantie Anspruch auf die richtige Besetzung des Gerichts (BGE 129 V
338 Erw. 1.3 mit Hinweisen).

2.2 Nach Art. 17 Abs. 2 des Gerichtsgesetzes des Kantons St. Gallen vom 2.
April 1987 ist das Versicherungsgericht in Abteilungen gegliedert. Es spricht
Recht durch Kammern von drei oder fünf Mitgliedern. Für einfache Fälle können
Einzelrichterentscheide vorgesehen werden. Der Regierungsrat hat von dieser
Kompetenz mit Erlass von Art. 14 der Verordnung über die Organisation des
Versicherungsgerichts vom 24. Februar 1998 Gebrauch gemacht. Gemäss Abs. 1
dieser Bestimmung entscheiden in einfachen Fällen die Abteilungs- bzw.
Kammerpräsidenten sowie die teilamtlichen Mitglieder als Einzelrichter. Als
einfache Fälle gelten insbesondere Streitsachen mit einem unbestrittenen oder
eindeutigen Sachverhalt, die aufgrund einer klaren Rechtslage oder einer
feststehenden Gerichtspraxis beurteilt werden können (Abs. 2).

2.3 Die Regelung des Kantons St. Gallen hinsichtlich der einzelrichterlichen
Zuständigkeit ist vergleichbar mit der für die eidgenössische
Rekurskommission in Art. 85bis Abs. 3 AHVG aufgestellten Ordnung. Danach kann
ein einzelnes vollamtliches Mitglied mit summarischer Begründung auf
Nichteintreten oder Abweisung erkennen, wenn die Vorprüfung vor oder nach
einem Schriftenwechsel ergibt, dass die Beschwerde unzulässig oder
offensichtlich unbegründet ist. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat
hiezu im nicht veröffentlichten Urteil H. vom 30. Oktober 2002, I 622/01,
erkannt, dass Beschwerden gegen Verfügungen der IV-Stelle für Versicherte im
Ausland als offensichtlich unbegründet zu betrachten sind, wenn ihnen von
vornherein aufgrund einer summarischen, nichtsdestoweniger genauen Prüfung
keinerlei Erfolgschancen eingeräumt werden kann. Dies setzt eine klare Sach-
und Rechtslage in dem Sinne voraus, dass sich der Abweisungsentscheid
summarisch begründen lässt. Bestehen Zweifel in Bezug auf die richtige und
vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts oder die
gesetzeskonforme Auslegung und Anwendung des Rechts durch die verfügende
Behörde, hat die Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im
Ausland wohnenden Personen mindestens in Dreierbesetzung zu entscheiden. Im
nicht veröffentlichten Urteil D. vom 3. November 1998, K 163/97, hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, Art. 10 des waadtländischen
Gesetzes über das Versicherungsgericht sei vom erstinstanzlichen Richter
willkürlich angewendet worden, weil nicht nur diese Bestimmung im
angefochtenen Entscheid nicht erwähnt wurde, sondern auch die kantonale
Beschwerde nicht als offensichtlich unbegründet bezeichnet werden konnte.

2.4 Die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen enthält keine Angaben
zu der zur Verrechnung gebrachten Forderung, noch finden sich dazu Angaben in
den Akten der Verwaltung. Der kantonale Einzelrichter sah diese
offensichtliche und von ihm als schwerwiegend bezeichnete Verletzung der
Begründungspflicht als geheilt an. Entgegen dieser Auffassung setzt die
Heilung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2
BV) nicht nur voraus, dass die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich
vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie auch
die Rechtslage frei überprüfen kann. Es muss sich auch um einen nicht
besonders schwerwiegenden Mangel handeln und überdies soll die Annahme einer
Heilung die Ausnahme bleiben. Sodann kommt es nicht darauf an, ob die
Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung
von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheids
veranlasst wird (BGE 127 V 437 Erw. 3d/aa, 126 V 132 Erw. 132 Erw. 2b mit
Hinweisen). Schliesslich ergibt sich aus den vorinstanzlichen Verfahrensakten
weder ausdrücklich noch eindeutig aufgrund konkludenten Verhaltens, dass die
Versicherte auf die in der kantonalen Beschwerde gerügte Verletzung des
Anspruchs auf das rechtliche Gehör verzichtet hatte. Im Lichte der
dargelegten Praxis bestehen zumindest Zweifel, ob die von der Verwaltung
verletzte Begründungspflicht als geheilt gelten und ob aus dem Verhalten der
Beschwerdeführerin während des kantonalen Verfahrens auf einen Verzicht der
geltend gemachten Verletzung des Gehörsanspruchs geschlossen werden kann.
Bereits aus diesem Blickwinkel erscheint die Anwendung von Art. 14 Abs. 2 der
kantonalen Verordnung über die Organisation des Versicherungsgerichts
fraglich.
Weiter ist in der kantonalen Beschwerde vorgebracht worden, die von der
IV-Stelle angeordnete Verrechnung greife in das Existenzminimum der
Versicherten ein. Der kantonale Einzelrichter hat festgestellt, diese Frage
sei nur bei Verrechnung von Forderungen mit laufenden Renten zu prüfen.
Indessen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im nicht
veröffentlichten Urteil S. vom 10. Juni 1992, I 375/90, Erw. 5b, erkannt,
dass eine Schranke für die Verrechnung von zurückzuerstattenden Leistungen
der Invalidenversicherung mit nachzuzahlenden Renten die Gefährdung des
Existenzminimums des Versicherten in der durch die Nachzahlung bestimmten
Zeitspanne bildet. Vorliegend wäre demnach zu prüfen gewesen, ob diese Praxis
auch gilt, wenn persönliche Beiträge der AHV mit nachzuzahlenden
Invalidenrenten verrechnet werden. Bejahendenfalls wäre abzuklären, ob und
inwieweit das Existenzminimum der Versicherten durch die Verrechnung tangiert
wird. Von einem für die Bejahung der einzelrichterlichen Zuständigkeit im
Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung über die Organisation des
Versicherungsgerichts notwendigen unbestrittenen oder eindeutigen
Sachverhalt, welcher aufgrund einer klaren Rechtslage oder feststehenden
Praxis beurteilt werden könnte, kann unter den gegebenen Umständen nicht
gesprochen werden.
Nach dem Gesagten hat der vorinstanzliche Einzelrichter die Bestimmung von
Art. 14 Abs. 2 der kantonalen Verordnung über das Versicherungsgericht zu
Unrecht angewendet. Dafür spricht auch, dass der angefochtene Entscheid sich
nicht summarisch begründen liess und der vorinstanzliche Einzelrichter das
Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung gutgeheissen hat. Dies setzt voraus,
dass das Rechtsmittel nicht zum Vorneherein aussichtslos erscheint und der
Beizug eines Anwalts angesichts der gesamten Umstände und der sich stellenden
Rechtsfragen angezeigt ist (Art. 61 Abs. 1 lit. f ATSG; vgl. BGE 125 V 202
Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Zusammengefasst ist der
angefochtene Entscheid aufzuheben, ohne dass zur materiell streitigen Frage
der Zulässigkeit der Verrechnung Stellung zu nehmen ist.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).
Dem Prozessausgang entsprechend steht der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu (Art. 159 in Verbindung mit Art. 135 OG). In
Anbetracht der besonderen Umstände rechtfertigt es sich, die
Parteientschädigung ausnahmsweise nicht der unterliegenden Partei, sondern
dem Kanton St. Gallen aufzuerlegen (vgl. BGE 129 V 342 Erw. 4 mit Hinweis).
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der unentgeltlichen
Verbeiständung ist somit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid vom 30. Juni 2003 aufgehoben und die Sache an das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen wird, damit es in
richtiger Besetzung über die Beschwerde gegen die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons St. Gallen vom 13. Juni 2001 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton St. Gallen hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons Appenzell A.Rh.,  dem Bundesamt für
Sozialversicherung und dem Kanton St. Gallen zugestellt.
Luzern, 8. Juni 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: