Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 572/2003
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I 572/03

Urteil vom 15. März 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Hadorn

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________, 1993, Beschwerdegegner, handelnd durch seine Mutter B.________

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 24. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 6. September 2002 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau
ein Gesuch von A.________ (geb. am 8. April 1993) um medizinische Massnahmen
zur Behandlung eines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS) ab.

B.
Die von A.________, vertreten durch seine Mutter, hiegegen erhobene
Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid
vom 24. Juni 2003 gut. Es sprach dem Versicherten die zur Behandlung des POS
notwendigen medizinischen Massnahmen zu.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben.

Während A.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch auf
medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art.
1 Abs. 1 und 2 GgV) richtig dargelegt. Korrekt wiedergegeben ist sodann Ziff.
404 GgV Anhang mit den Voraussetzungen, unter welchen die
Invalidenversicherung die Behandlung eines angeborenen POS zu übernehmen hat,
sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113). Ferner trifft zu,
dass das ATSG materiellrechtlich nicht anwendbar ist. Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Invalidenversicherung unter Ziff. 404 GgV
Anhang medizinische Massnahmen zu erbringen hat.

2.1 Die Vorinstanz hat erwogen, die Diagnose eines POS sei erstmals am 7.
Dezember 2001 von Dr. med. S.________, Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychotherapie FMH, in eindeutiger Weise gestellt worden. Der genannte Arzt
habe den Begriff des AufmerksamkeitsDefizit-Syndroms (ADS; englisch ADD)
verwendet. Dies sei im deutschen Sprachgebrauch die übliche Bezeichnung für
ein kongenitales POS. Die Diagnose sei somit vor dem vollendeten 9.
Altersjahr (d.h. vor dem 8. April 2002) gestellt worden. Spätere, im Herbst
2002 von Frau Dr. med. X.________, Fachärztin FMH für Kinder- und
Neuropädiatrie, vorgenommene Untersuchungen hätten diese rechtzeitige
Diagnose bestätigt, was rechtlich zulässig sei. Sämtliche von der
Rechtsprechung verlangten Symptome seien nachweisbar gewesen. Spätestens nach
der Diagnosestellung durch Dr. S.________ seien die Behandlungen, namentlich
Ritalin- und Verhaltenstherapien, im Hinblick auf ein POS erfolgt. Daher
liege auch der Behandlungsbeginn vor vollendetem 9. Altersjahr, womit die
Voraussetzungen gemäss Ziff. 404 GgV Anhang erfüllt seien.

2.2 Hiegegen wendet die IV-Stelle ein, die für das Vorliegen eines
kongenitalen POS relevanten Symptome seien nicht alle, jedenfalls nicht im
geforderten Ausmass, vorhanden gewesen. Sodann sei die Gleichsetzung von ADS
und POS unzutreffend. Dr. S.________, welcher mit den Schweizer Verhältnissen
bestens vertraut sei, habe bewusst kein POS, sondern ein ADS ohne
Hyperaktivität diagnostiziert. Demgegenüber macht die Mutter des Versicherten
geltend, ihr Kind sei seit dem Kleinkindalter stets unruhig und hyperaktiv
gewesen; sämtliche Voraussetzungen nach Ziff. 404 GgV Anhang seien erfüllt.

2.3 Im Bericht vom 7. Dezember 2001 diagnostiziert Dr. S.________ ein
Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ohne Hyperaktivität (ICD-10 F 90.0). Es liege
ein Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 404 GgV Anhang vor. Da der medizinische
Dienst der IV-Stelle zum Schluss kam, dass die Voraussetzungen nach dieser
Ziffer aus dem Bericht nicht klar ersichtlich seien, wurde Dr. S.________
gebeten, einen ergänzenden Fragebogen zum POS auszufüllen. Der Arzt kam
diesem Begehren am 16. Februar 2002 nach. Dabei führte er aus, das Verhalten
des Versicherten sei vor allem in der Schule geprägt von wenig Ausdauer bei
komplexen Arbeiten; er beginne zu stören. Sein Antrieb sei teils impulsiv,
teils depressiv gehemmt. Schriftliche Anweisungen verstehe er nur mit Hilfe
der Lehrerin und unter Aufbringen enormer Konzentrationskraft. In der Schule
sei er unkonzentriert, unaufmerksam und stark ablenkbar. Er vergesse das
Erlernte schnell. Sein Intelligenzquotient sei im Normbereich. Gestützt auf
diese Angaben schloss der medizinische Dienst der IV-Stelle, dass die
angegebenen Störungen testmässig nicht belegt und teilweise nicht typisch
bzw. beweisend für ein POS seien, weshalb Ziff. 404 GgV Anhang nicht
ausgewiesen sei. Später reichte die Mutter des Versicherten Testergebnisse
des schulpsychologischen Dienstes Y.________ vom 10. Oktober 2001 ein. Der
medizinische Dienst der IV-Stelle erwog hiezu, diese Tests seien von Dr.
S.________ im Bericht vom 7. Dezember 2001 erwähnt worden, somit in seine
Beurteilung eingeflossen. Dr. S.________ habe damals trotz dieser Tests ein
Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ohne Hyperaktivität diagnostiziert, weshalb
Ziffer 404 GgV Anhang nach wie vor nicht erfüllt sei.

2.4 In einem erst im kantonalen Verfahren eingereichten Bericht vom 11.
Oktober 2002 beschreibt Frau Dr. X.________ die einzelnen, anlässlich der
neuropädiatrischen/neuropsychologischen Abklärung vom 5. und 9. Oktober 2002
beim Versicherten festgestellten Symptome und kommt zum Ergebnis, dass es
sich eindeutig um ein POS handle.

2.5 Zum Leistungsbezug angemeldet wurde der Versicherte von seinen Eltern
wegen einer schweren Lese- und Schreibstörung (Legasthenie) und einer
Dyskalkulie, eventuell eines leichten ADS. Der Schulpsychologische Dienst
Y.________ führte mit dem Jungen mehrere Tests durch und empfahl im Bericht
vom 10. Oktober 2001 eine Legasthenie- und eine Dyskalkulietherapie. Diese
seien auf privater Basis zu finanzieren. Von einem POS oder einer Anmeldung
bei der Invalidenversicherung ist in diesem Bericht nicht die Rede. Dr.
S.________ diagnostizierte im Bericht vom 7. Dezember 2001 ein ADS ohne
Hyperaktivität. Zusätzlich gab er wohl an, es liege ein Geburtsgebrechen nach
Ziff. 404 GgV Anhang vor. Indessen hat Dr. S.________ den Begriff POS
nirgends verwendet. Auch im ergänzenden Bericht vom 16. Februar 2002 benützt
er diesen nicht. Damit wurde die Diagnose eines POS bis zum vollendeten 9.
Altersjahr (8. April 2002) nie ausdrücklich gestellt.

2.6 Die Vorinstanz bejaht das Vorliegen eines POS mit der Begründung, der
Terminus ADS sei die im deutschen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung für ein
kongenitales Psychoorganisches Syndrom. Einen Nachweis für seine Behauptung
bleibt das kantonale Gericht jedoch schuldig. Aus Pschyrembel, Klinisches
Wörterbuch, 259. Auflage, Berlin, New York 2002, lässt sich dieser Schluss
nicht ziehen, behandelt das genannte Nachschlagwerk doch das
Aufmerksamkeitsdefizit (a.a.O. S. 154) getrennt vom organischen Psychosyndrom
(a.a.O., S. 1381), beschreibt sie unterschiedlich und verweist nicht vom
einen auf das andere Stichwort. Auch auf die psychische Fachliteratur lässt
sich die Gleichsetzung der Vorinstanz nicht stützen. In der von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen Internationalen
Klassifikation psychischer Störungen, 4. Auflage, Bern, Göttingen, Toronto,
Seattle 2000, wird die von Dr. med. S.________ genannte Klassifikation ICD-10
F 90.0 unter dem Sammeltitel hyperkinetischer Störungen als "einfache
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung" beschrieben. Der Begriff POS findet
sich in diesem Kapitel nicht. Im ebenfalls von der WHO herausgegebenen
Lexikon zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen (ebenda, 2002), S.
98, wird ausgeführt, dass der Begriff des organischen Psychosyndroms wegen
seiner Mehrdeutigkeit keinen Eingang in die ICD-10-Klassifikation gefunden
hat (mit Ausnahme des organischen Psychosyndroms nach Schädelhirntrauma).
Unter "Aufmerksamkeitsstörung" (a.a.O., S. 20) wird auf den Begriff der
hyperkinetischen Störung (F90) hingewiesen. Möller/Laux/Kapfhammer (Hrsg.),
Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin, Heidelberg, New York 2000, S. 844,
führen unter dem Begriff "Psychoorganische Syndrome ersten Ranges" eine Reihe
von näher spezifizierten Leiden an. Die Aufmerksamkeitsstörung wird hingegen
unter dem Titel hyperkinetischer Störungen auf S. 1623 ff. behandelt. Aus
diesen Zitaten lässt sich erkennen, dass die Vorinstanz mit ihrer
Gleichstellung von ADS und POS zu undifferenziert vorgegangen ist. Auch in
AHI 2003 S. 104 Erw. 1 erfüllte eine hyperkinetische Störung die
Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang nicht.

2.7 Nach dem Gesagten fehlt es an einer eindeutigen, rechtzeitig vor dem 9.
Altersjahr gestellten Diagnose eines POS. Auf eine solche kann aber nicht
verzichtet werden, ist sie doch eine Anspruchsvoraussetzung für Leistungen
der Invalidenversicherung nach Ziff. 404 GgV Anhang (BGE 122 V 122 Erw.
3c/bb). Dass Dr. S.________ im Bericht vom 7. Dezember 2001 Ziff. 404 GgV
Anhang genannt hat, genügt nicht. Daher braucht nicht näher geprüft zu
werden, ob sämtliche Symptome des POS bis zum vollendeten 9. Altersjahr
kumulativ vorgelegen haben, ist dies doch nur für die beweisrechtliche Frage
relevant, ob die Diagnose auch zutrifft (BGE 122 V 117 Erw. 2f). Da keine
(rechtzeitige) Diagnose vorliegt, wird die Invalidenversicherung so oder
anders nicht leistungspflichtig.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 24. Juni 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 15. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: