Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 571/2003
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I 571/03

Urteil vom 9. Januar 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Arnold

I.________, 1953, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Fredy
Fässler, Oberer Graben 42, 9000 St. Gallen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 30. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen sprach I.________, geb. 1953,
rückwirkend ab 1. Oktober 1992 gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 61 %
eine halbe Invalidenrente zu (Verfügung vom 26. April 1995, bestätigt durch
den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26. April
1996). Sie hatte vorgängig die medizinischen und beruflich-erwerblichen
Verhältnisse abgeklärt und dafür u.a. das polydisziplinäre Gutachten des
Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB), vom 27. September 1994
eingeholt.
Im Rahmen einer im Herbst 1996 an die Hand genommenen Revision von Amtes
wegen, welche die Expertise des ZMB vom 7. August 1997 umfasste, gelangte die
IV-Stelle zum Schluss, die Überprüfung des Invaliditätsgrades habe keine
rentenbeeinflussende Änderung ergeben. Es bestünde weiterhin Anspruch auf
eine halbe Invalidenrente (Mitteilung vom 30. Januar 1998). In gleicher Weise
verfügte die Verwaltung, entsprechend der Mitteilung vom 4. Mai 1999, am 10.
Januar 2000 hinsichtlich des am 27. August 1998 durch Dr. med. E.________,
Arzt für Neurologie, gestellten Revisionsgesuchs, wobei als
Beurteilungsgrundlage u.a. die Expertise des ZMB vom 19. April 1999 diente.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das kantonale Gericht ab. Dies nachdem
es in den Erwägungen ausgeführt hatte, es könne offen bleiben, ob bei der
Invaliditätsbemessung von einer Arbeitsfähigkeit von 0 % oder 50 % auszugehen
sei, da jedenfalls ein Anspruch auf eine ganze Rente bestünde (Entscheid vom
24. April 2001). Das Eidgenössische Versicherungsgericht trat auf die
hiegegen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde wegen Verspätung nicht
ein (Urteil vom 10. September 2001).
Mit Eingabe vom 22. Oktober 2001 gelangte I.________ ein weiteres Mal an die
Verwaltung. Nach Einholung verschiedener Berichte des behandelnden Arztes Dr.
med. V.________, Arzt für Allgemeinmedizin,  vom 22. November 2001 und 8.
Januar 2002 sowie einer Stellungnahme des Dr. med. B.________, RAD
Y.________, vom 29. Januar 2002 erliess die IV-Stelle einen auf
Nichteintreten lautenden Vorbescheid (vom 1. Februar 2002). Gestützt auf das
Zeugnis des Dr. med. V.________ (vom 18. Februar 2002), wonach I.________ im
Dezember 2001 eine Radiusfraktur der linken Ulna erlitten hatte, holte die
Verwaltung ergänzende Auskünfte beim behandelnden Arzt (Verlaufsbericht vom
19. März 2002) sowie eine Stellungnahme des Dr. med. G.________, RAD
Y.________ vom 4. März 2002 ein. Am 2. Mai 2002 verfügte sie, auf das
Leistungsbegehren werde zufolge unveränderter Verhältnisse nicht eingetreten.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen ab (Entscheid vom 30. Juni 2003, Dispositiv-Ziff. 1). Laut
Dispositiv-Ziff. 2 überwies das Gericht die "Akten der Verwaltung zur Prüfung
des Eintretens auf ein allfälliges, im Lauf des Beschwerdeverfahrens neu
gestelltes Revisionsgesuch". I.________ hatte am 13. November 2002 Berichte
des Spitals F.________ vom 3. Oktober 2002 sowie des Spitals X.________ vom
7. und 18. Oktober 2002 aufgelegt, die seiner Auffassung nach eine erhebliche
Verschlechterung der gesundheitlichen Verhältnisse bestätigen würden.

C.
I.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, das
Urteil der Vorinstanz vom 30. Juni 2003 sei aufzuheben und die Sache sei im
Sinne der Erwägungen zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen; ferner beantragt er die unentgeltliche Verbeiständung.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin am 2. Mai 2002 zu Recht
Nichteintreten auf das Revisionsgesuch vom 22. Oktober 2001 verfügt hat.
Prozessthema bildet die Frage, ob glaubhaft im Sinne von Art. 87 Abs. 3 IVV
(in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) ist, dass sich die
tatsächlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers in für den Anspruch auf
Rente erheblicher Weise geändert haben. Das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist nicht anwendbar, da
nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der strittigen
Verwaltungsverfügung (hier: 2. Mai 2002) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweis).

2.
2.1 Im noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Urteil D. vom 16.
Oktober 2003, I 249/01, gelangte das Eidgenössische Versicherungsgericht nach
Auslegung des Art. 87 Abs. 3 IVV (in der bis 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Fassung) zum Schluss, dass die versicherte Person mit dem
Revisionsgesuch oder der Neuanmeldung die massgebliche Tatsachenänderung
glaubhaft machen muss. Der Untersuchungsgrundsatz, wonach das Gericht von
Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen
Sachverhalts zu sorgen habe (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit
Hinweisen), spiele insoweit nicht. Werde im Revisionsgesuch oder in der
Neuanmeldung kein Eintretenstatbestand glaubhaft gemacht, sondern bloss auf
ergänzende Beweismittel, insbesondere Arztberichte, hingewiesen, die noch
beigebracht würden oder von der Verwaltung beizuziehen seien, sei der
versicherten Person eine angemessene Frist zur Einreichung der Beweismittel
anzusetzen. Diese Massnahme setze voraus, dass die ergänzenden
Beweisvorkehren geeignet seien, den entsprechenden Beweis zu erbringen. Sie
sei mit der Androhung zu verbinden, dass ansonsten gegebenenfalls auf
Nichteintreten zu erkennen sei. Das Gericht hielt weiter fest, die analoge
Anwendung der Grundsätze von Art. 73 IVV auf das Verfahren nach Art. 87 Abs.
3 IVV rechtfertige sich sowohl unter dem Aspekt von Treu und Glauben (Art. 5
Abs. 3 und Art. 9 BV; Urteil B. vom 13. Juli 2000, H 298/98) als auch
deshalb, weil es sozialversicherungsrechtlich atypisch sei, dass die
versicherte Person für das Vorliegen eines Eintretenstatbestandes
beweisführungsbelastet ist (anders z.B. im Bereich der Kontoberichtigung,
vgl. BGE 117 V 265 Erw. 3d). Ergehe eine Nichteintretensverfügung im Rahmen
eines Verwaltungsverfahrens, das den eben umschriebenen Erfordernissen
betreffend Fristansetzung und Androhung der Säumnisfolgen genüge, hätten die
Gerichte ihrer beschwerdeweisen Überprüfung den Sachverhalt zu Grunde zu
legen, wie er sich der Verwaltung geboten habe. Daran vermöge für den
letztinstanzlichen Prozess auch Art. 132 lit. b OG nichts zu ändern.

2.2 Nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens datierende Arztberichte sind in
analoger Weise nicht massgeblich, wenn, wie im hier zu beurteilenden Fall,
die IV-Stelle auf ein sinngemäss gestelltes Revisionsgesuch hin von sich aus
Abklärungen an die Hand nimmt, um nach Einholung verschiedener Berichte des
behandelnden Arztes, zweier Stellungnahmen ihres medizinischen Dienstes sowie
der Durchführung des Vorbescheidverfahrens Nichteintreten zu verfügen. Dies
nachdem der Beschwerdeführer unter Verwendung des Formulars "Anmeldung zum
Bezug von IV-Leistungen für Erwachsene" seine gesundheitlichen
Beeinträchtigungen geschildert hatte; freilich ohne dass er eine
Verschlechterung der tatsächlichen Verhältnisse behauptet, geschweige denn
den Beweis dafür geliefert hätte. Dem kantonalen Gericht ist, auch unter
Berücksichtigung von Treu und Glauben, darin zuzustimmen, dass die mit
Eingabe vom 13. November 2002 im kantonalen Prozess neu aufgelegten
medizinischen Berichte des Spitals F.________ vom 3. Oktober 2002 und des
Spitals X.________ vom 7. und 18. Oktober 2002 deshalb - vor- wie
letztinstanzlich - nicht zu berücksichtigen sind.

3.
3.1 Nicht beigepflichtet werden kann der Vorinstanz darin, dass es für die
Beurteilung, ob eine erhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse
vorliegt, einerlei ist, auf welchen tatsächlichen Grundlagen die formell
rechtskräftige Rentenzusprechung basiert, deren Anpassung in Frage steht.
Entgegen der Rechtsauffassung des kantonalen Gerichts läuft es Art. 41 IVG
(in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) zuwider, für die
Bejahung einer erheblichen Tatsachenänderung von den Verhältnissen des
Einzelfalles zu abstrahieren und eine nicht näher umschriebene "für alle
Rentner, unabhängig vom konkreten Invaliditätsgrad, (...) gleiche
Erheblichkeitsgrenze" zu verlangen. Gemäss Art. 41 IVG ist die Rente für die
Zukunft zu erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben, wenn sich der Grad der
Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen Weise ändert. Eine
Tatsachenänderung ist demnach revisionsbegründend und als solche erheblich im
Sinne des Gesetzes, wenn sie dazu führt, dass die bisherige Rentenzusprechung
angepasst wird. Eintretensrechtlich ist daher erforderlich und hinreichend,
dass eine Tatsachenänderung glaubhaft gemacht wird, welche im Rahmen der
materiellen Anspruchsprüfung gegebenenfalls zu einem höheren Rentenanspruch
zu führen vermag. Diese gesetzliche Konzeption ist Ausdruck dessen, dass
Gegenstand des Revisionsverfahrens nicht die erstmalige Invaliditätsbemessung
nach Art. 28 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) ist;
vielmehr ist im Revisionsverfahren und -prozess zu prüfen, ob seit der
formell rechtskräftigen Rentenzusprechung Änderungen im für die
Rentenberechtigung erheblichen Tatsachenspektrum eingetreten sind
(Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 253
[zu Art. 41 IVG]). Sie hat zur Konsequenz, dass die Erheblichkeitsschwelle
für den Anspruch auf eine ganze statt wie bisher eine halbe Rente zum
Beispiel höher liegt, wenn die bisherige Rentenzusprechung auf einem
Invaliditätsgrad von 50 % beruhte, als wenn hiefür eine Erwerbsunfähigkeit
von 65 % ermittelt worden war. Im Rahmen einer Neuanmeldung nach vorgängiger
Ablehnung eines Rentengesuchs wegen fehlender Invalidität ist in sinngemässer
Anwendung von Art. 87 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 87 Abs. 3 IVV (ZAK 1989
S. 267 Erw. 1c) nur einzutreten, wenn die Gesuch stellende Person eine
Änderung des Invaliditätsgrades im Umfang von mindestens 40 % glaubhaft zu
machen vermag (nicht veröffentlichtes Urteil B. vom 30. August 1999, I
439/98).

3.2 Mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass die von der Verwaltung
eingeholten Berichte des behandelnden Arztes Dr. med. V.________ darauf
schliessen lassen, dass sich der Gesundheitszustand, zwischenzeitlich
abermals verschlechtert hat. Vor dem Hintergrund, dass die Zusprechung einer
halben Invalidenrente zuletzt revisionsweise laut Entscheid des kantonalen
Gerichts vom 24. April 2001 auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 64
% bestätigt worden ist, mithin nur rund 2 % für die Ausrichtung einer ganzen
Rente fehlten, kann, entgegen der Vorinstanz, nicht auf eine
eintretensrechtlich bloss unbedeutende Verschlechterung des
Gesundheitszustandes erkannt werden. Es ist vielmehr glaubhaft im Sinne von
Art. 87 Abs. 3 IVV, dass eine für den Anspruch auf eine ganze Rente
erhebliche Tatsachenänderung eingetreten ist. Hiefür ist, anders als bei dem
sozialversicherungsrechtlich regelmässig erforderlichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 121 V 47 Erw. 2a, 208 Erw. 6b), einzig
vorausgesetzt, dass für die geltend gemachte rechtserhebliche
Sachverhaltsänderung wenigstens gewisse Anhaltspunkte bestehen, auch wenn
durchaus noch mit der Möglichkeit zu rechnen ist, bei eingehender Abklärung
werde sich die behauptete Verschlechterung nicht erstellen lassen (SVR 2003
IV Nr. 25 S. 77 Erw. 2.3 mit Hinweis).

Nach dem Gesagten ist die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, damit sie
das Revisionsgesuch vom 22. Oktober 2001 materiell prüfe. Sie wird dabei auch
die Berichte des Spitals F.________ vom 3. Oktober 2002 und des Spitals
X.________ vom 7. und 18. Oktober 2002 berücksichtigen. Im eben genannten
Bericht vom 7. Oktober 2002 ist die Rede davon, dass sich der
Gesundheitszustand wesentlich verschlechtert und das Krankheitsbild
entsprechend kompliziert habe, indem z.B. eindeutige psychosomatische
Erscheinungen wie das Zittern der rechten Hand aufgetreten seien.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
steht dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 und 2
OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Juni 2003 und die
Verfügung vom 2. Mai 2002 aufgehoben, und die Sache wird an die IV-Stelle des
Kantons St. Gallen zurückgewiesen, damit sie das Revisionsgesuch vom 22.
Oktober 2001 materiell prüfe.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine Neuverlegung
der Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 9. Januar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: