Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 568/2003
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I 568/03

Urteil vom 27. Januar 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Meyer;
Gerichtsschreiber Hochuli

H.________, 1968, Beschwerdeführerin, vertreten durch X.________ AG,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 27. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
H. ________, geboren 1968, verheiratet seit Sommer 2002, bis 30. Juni 2000
als Sachbearbeiterin/Sekretärin bei der Y.________ AG vollzeitlich
erwerbstätig, leidet seit September 1998 - trotz einer am 13. November 1998
durchgeführten Diskushernien-Operation L5/S1 - an Rückenschmerzen. In der
Folge dieses Eingriffs erfüllte sie ab 16. Februar 1999 wieder ihr
angestammtes Pensum. Per 1. Juli 2000 trat sie eine neue
Vollzeit-Arbeitsstelle als Liegenschaftsverwalterin bei der Firma Z.________
(nachfolgend: Arbeitgeberin) an. Wegen den gesundheitlichen Beschwerden
reduzierte sie ihr Pensum ab 3. Dezember 2001 auf 70 %. Am 5. Juni 2002
meldete sie sich bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn zum Leistungsbezug
an. Nach erwerblichen Abklärungen holte die Verwaltung verschiedene
medizinische Unterlagen ein. Der Hausarzt Dr. med. B.________, FMH für
Allgemeinmedizin, bestätigte mit Bericht vom 19. Juni 2002, dass die
Versicherte ihre bisherige Tätigkeit weiter ausführen könne, allerdings mit
einem um 30 % reduzierten Pensum. Daraufhin lehnte die IV-Stelle mit
Vorbescheid vom 13. September 2002 das Leistungsgesuch mit der Begründung ab,
die Versicherte sei in ihrer angestammten Tätigkeit weiterhin zu 70 %
arbeitsfähig und bei ihrem aktuellen Arbeitgeber optimal eingegliedert.
Hiegegen wendete H.________ mit Schreiben vom 23. September 2002 ein, sie
habe erneut einen Rückfall erlitten und arbeite gemäss beiliegender Kranken-
und Unfallkarte des Dr. med. B.________ seit dem 14. August 2002 nur noch zu
60 %. Nachdem der Hausarzt vermehrte Verspannungen der paravertebralen
Muskulatur seit Sommer 2002 bestätigt hatte (Bericht vom 22. Oktober 2002),
veranlasste die Verwaltung eine Expertise durch Dr. med. A.________, FMH für
orthopädische Chirurgie, welcher sein Gutachten am 2. Dezember 2002
erstattete. Gestützt darauf lehnte die IV-Stelle sodann mit Verfügung vom 11.
Dezember 2002 einen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung ab,
weil bei einer Arbeitsfähigkeit von 70 % kein Anspruch auf Rentenleistungen
bestehe und die Versicherte in ihrer aktuellen Beschäftigung optimal
eingegliedert sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der H.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 27. Juni 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt H.________ unter Aufhebung der
Verwaltungsverfügung und des kantonalen Gerichtsentscheids die Rückweisung
der Sache an die IV-Stelle beantragen; "diese sei anzuweisen, den
rechtserheblichen Sachverhalt zu vervollständigen und ein neurochirurgisches
Gutachten in Auftrag zu geben".
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG) sowie den Anspruch auf eine Invalidenrente
und die Bemessung der Invalidität nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 1, 1bis und 2 IVG) zutreffend dargelegt.
Richtig sind auch die Hinweise zur praxisgemässen Bedeutung ärztlicher
Auskünfte im Rahmen der Invaliditätsschätzung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V
134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1) und zur antizipierten
Beweiswürdigung (BGE 124 V 94 Erw. 4b und AHI 2003 S. 288 Erw. 3a/dd, je mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

1.2 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000 in Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: vom 11. Dezember 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2), sind die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar. Aus denselben Gründen sind hier die mit der 4.
Revision des IVG per 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen vom 21.
März 2003 (vgl. AS 2003 3837) unbeachtlich.

2.
Fest steht, dass die Versicherte in ihrer nach wie vor ausgeübten Tätigkeit
als Liegenschaftsverwalterin mit körperlich wenig belastender, nicht
ausschliesslich sitzend oder stehend, sondern in wechselnder Stellung
auszuführender Arbeit beschäftigt und daher an sich bestmöglich eingegliedert
ist. Hingegen ist streitig, ob die Beschwerdeführerin aufgrund der
Verhältnisse, wie sie sich bis zum Erlass der angefochtenen
Ablehnungsverfügung (hier: vom 11. Dezember 2002) entwickelt haben (BGE 121 V
366 Erw. 1b), einen Anspruch auf Rentenleistungen der Invalidenversicherung
hat. Dabei ist zu prüfen, ob Vorinstanz und Verwaltung zu Recht auf die
Ergebnisse des Gutachtens des Dr. med. A.________ vom 2. Dezember 2002
(nachfolgend: Gutachten) abstellten. Eine gegebenenfalls nach dem 11.
Dezember 2002 eingetretene Änderung des Gesundheitszustandes und deren
allfällige Auswirkungen auf den Anspruch auf Versicherungsleistungen bildet
nicht Gegenstand dieses Verfahrens und ist hier folglich nicht zu
berücksichtigen.

3.
3.1 Der Gutachter untersuchte die Versicherte am 26. November 2002 und
diagnostizierte einen Status nach Operation einer Diskushernie L5/S1 rechts
mit Restbeschwerden im Sinne einer chronisch-rezidivierenden Lumbalgie, einen
Zustand nach arthroskopischer Teilmeniskektomie rechts, eine morbide
Adipositas, arterielle Hypertonie und ein anamnestisch nicht ossifizierendes
Fibrom an der distalen Tibia rechts. Unter Berücksichtigung sämtlicher
medizinischer Unterlagen gelangte er zur Auffassung, die Beschwerdeführerin
leide "unter glaubhaften, nach längerer Belastung auftretenden lumbalen
Rückenschmerzen, zum Teil in Form von chronischen Lumbalgien/Lumboischialgien
nach rechts". Die Versicherte weise eine ausgezeichnete Funktion der
Lendenwirbelsäule auf. Die Kontroll-Aufnahme der Lendenwirbelsäule vom 25.
September 2002 sei bis auf eine leichte Osteochondrose L4/L5 und L5/S1
eigentlich unauffällig. Mit einem Body-Mass-Index von 34,9 leide die
Beschwerdeführerin an einem beträchtlichen Übergewicht, was negative Folgen
für den Bewegungsapparat habe. Sie gedenke, möglicherweise in der nächsten
Zeit eine Gewichtsreduktion anzustreben. Dr. med. A.________ riet ihr, sich
körperlich fit zu halten, damit es möglichst wenig zu rezidivierenden
Lumbalgieschüben komme. Er hielt es für zumutbar, dass die Beschwerdeführerin
- trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen - in ihrem Beruf, welcher
körperlich wenig belastend, in wechselnder Stellung und insbesondere nicht
ausschliesslich sitzend zu verrichten sei, eine Arbeitsfähigkeit von
mindestens 70 % verwerten könne, auch wenn von Zeit zu Zeit bei einem akuten
Schub vermehrter Rückenschmerzen vorübergehend mit einer höheren
Arbeitsunfähigkeit zu rechnen sei.

3.2 Demgegenüber wendet die Beschwerdeführerin ein, sie könne seit 14. August
2002 in ihrer angestammten Tätigkeit als Liegenschaftsverwalterin nur noch
eine Arbeitsfähigkeit von höchstens 60 % verwerten. Sie habe ihre
entsprechende Belastungsgrenze Dr. med. A.________ mitgeteilt. Trotzdem sei
der Gutachter von einer Arbeitsfähigkeit von 70 % ausgegangen. Nach einem
Rückfall mit akuter Zunahme der Beschwerden im September 2001 habe ihr Dr.
med. B.________ eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % vom 3. September bis 7.
Oktober 2001, von 50 % vom 8. Oktober bis 2. Dezember 2001 und von 30 % ab 3.
Dezember 2001 bescheinigt. Bei einem Sturz mit Kontusion der
Lendenwirbelsäule und des Beckens vom 20. Dezember 2001 sei es zu einer
Zunahme der Beschwerden gekommen. Gemäss Bericht des Hausarztes vom 22.
Oktober 2002 habe sich der Gesundheitszustand seither verschlechtert. Auf die
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Dr. med. A.________ sei nicht
abzustellen, weil diese mangels einer Begründung nicht nachvollziehbar sei.
Um die Abweichung der subjektiv erlebten Arbeitsunfähigkeit von der objektiv
festgestellten Arbeitsunfähigkeit begründen zu können, hätte der Gutachter
sich mit der beruflichen Tätigkeit der Beschwerdeführerin auseinandersetzen
und erklären müssen, weshalb die Versicherte wöchentlich vier Stunden mehr
arbeiten könne.

4.
4.1 Die Vorinstanz gelangt nach umfassender Würdigung sämtlicher medizinischer
Unterlagen zum Schluss, entgegen der Beschwerdeführerin komme der Expertise
des Dr. med. A.________ voller Beweiswert zu. Der Gutachter stütze seinen
Befund auf die aktenmässig erstellte Krankengeschichte sowie die eigene
Untersuchung und Befragung der Versicherten. Sein Bericht berücksichtige die
geklagten Leiden und seine Schlussfolgerung, wonach die Arbeitsunfähigkeit in
der angestammten und ausgeübten Tätigkeit zur Zeit nicht mehr als 30 %
betrage, leite er nachvollziehbar aus den medizinischen Befunden ab. Es sei
daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin trotz gesundheitlicher
Beschwerden die Verwertung einer Arbeitsfähigkeit von 70 % zumutbar sei. Eine
allfällige Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit Erlass der
angefochtenen Verwaltungsverfügung sei gegebenenfalls im Rahmen einer
Neuanmeldung geltend zu machen.

4.2 In Bezug auf die für die Schmerzverursachung relevante Diagnosestellung
unterscheiden sich die von der Beschwerdeführerin eingereichten Berichte der
sie behandelnden Ärzte nicht wesentlich von derjenigen des Dr. med.
A.________. Während Dr. med. E.________, welcher die Versicherte am 13.
November 1998 im Spital Q.________ operiert hatte, in seinem Bericht vom 4.
August 2003 keine eigenständige Beurteilung der Arbeitsfähigkeit vornahm,
hielt Dr. med. R.________ die Beschwerden der Versicherten, ohne eine klare
Diagnose zu erheben, lediglich für glaubhaft und schloss daraus, die
Beschwerdeführerin müsse deshalb "zur Zeit als 40 % arbeitsunfähig eingestuft
werden". Obwohl Dr. med. B.________ in seinem Bericht vom 22. Oktober 2002
auf eine Kontusion der Lendenwirbelsäule vom 20. Dezember 2001 und auf
"seither vermehrte Schmerzen bei längerem Stehen und Sitzen" hinwies,
attestierte er der Versicherten ab 3. Dezember 2001 bis 13. August 2002
durchgehend eine Arbeitsfähigkeit von 70 %, welche sie ausweislich der Akten
mindestens bis und mit Juni 2002 ohne krankheitsbedingte Ausfälle zu
verwerten vermochte. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, dass eine
angeblich im Dezember 2001 erlittene und als ursächlich bezeichnete Kontusion
der Lendenwirbelsäule erst mehr als ein halbes Jahr später zur behaupteten
zusätzlichen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit geführt haben soll. Bei
dieser Ausgangslage ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz in
zulässiger antizipierter Beweiswürdigung auf weitere Abklärungen verzichtete
und gestützt auf das Gutachten des Dr. med. A.________ die Auffassung
vertrat, dass die Beschwerdeführerin in ihrer ausgeübten Tätigkeit zu
mindestens 70 % arbeitsfähig ist. Durch die zumutbare Verwertung dieser
Arbeitsfähigkeit in ihrem angestammten Beruf kann die Versicherte ihr seit 3.
Dezember 2001 entsprechend angepasstes Pensum gemäss Bericht der
Arbeitgeberin vom 10. Juli 2002 ohne über die Pensumsreduktion hinausgehende
Lohneinbusse erfüllen. Angesichts dieser Verhältnisse ist die Anwendung des
Prozentvergleichs gerechtfertigt. Die Differenz zwischen den beiden mit
voller und 70%iger Arbeitsfähigkeit realisierbaren Einkommen vermag bei den
gegebenen Verhältnissen den für den Rentenanspruch massgeblichen Grenzwert
von 40 % nicht zu erreichen (BGE 104 V 136 f. Erw. 2b; AHI 1998 S. 252 Erw.
2a mit Hinweis). Verwaltung und Vorinstanz haben deshalb das
Leistungsbegehren der Beschwerdeführerin zu Recht abgelehnt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 27. Januar 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: