Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 538/2003
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I 538/03

Urteil vom 12. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Scartazzini

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

W.________, 1957, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg
Lienhard, Pelzgasse 15, 5001 Aarau

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 3. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1957 geborene W.________ erlitt am 19. September 1995 als
Hochspannungsleitungsmonteur einen Arbeitsunfall, der zu einer
Erwerbsunfähigkeit von 15 % und zur Ausrichtung einer entsprechenden
Invalidenrente sowie einer Integritätsentschädigung durch die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) führte (Verfügung vom 12. November 1997).
Am 17. März 1998 zog sich der Versicherte beim Laden von gepressten Heuballen
eine Rückenkontusion zu. Diese Nebenerwerbstätigkeit war über eine bis 30
Tage nach Beendigung des versicherten Arbeitsverhältnisses bei der
Versicherung Q.________ versichert, welche die Unfalltaggelder erbrachte und
für die Heilkosten aufkam. In ihrem Auftrag erstattete sowohl das Spital
X.________ als auch die MEDAS zwei Gutachten, wobei die Versicherung
Q.________ gestützt auf das MEDAS-Gutachten vom 25. Juni 2000 ihre
Versicherungsleistungen mit Verfügung vom 27. September 2000 auf den 1.
September 2000 einstellte und mit Einspracheentscheid vom 21. August 2001
bestätigte. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde vom Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. März 2003 gutgeheissen. Seit dem
letzten Unfall war W.________ nicht mehr erwerbstätig gewesen und am 11. Juni
1999 hatte er sich mit Antrag auf Ausrichtung einer Rente bei der
Invalidenversicherung angemeldet.
Nach verschiedenen Abklärungen und durchgeführtem Vorbescheidverfahren
erliess die IV-Stelle des Kantons Aargau am 25. Mai 2001 eine Verfügung,
worin sie dem Versicherten bei einer 100%igen Invalidität ab 1. März 1999
eine ganze und bei einem Invaliditätsgrad von 63 % ab 1. Mai 1999 eine halbe
Rente zusprach.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher die Rechtsbegehren gestellt
wurden, es sei dem Versicherten eine volle Rente zuzusprechen, eventualiter
seien weitere medizinische Abklärungen vorzunehmen, hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau nach Einholung eines durch die Klinik
Y.________ am 20. November 2002 erstellten orthopädischen Gerichtsgutachtens
mit Entscheid vom 3. Juni 2003 in dem Sinne gut, dass es in Aufhebung der
Verwaltungsverfügung die Sache zum Erlass einer neuen Verfügung an die
IV-Stelle zurückwies, mit der Feststellung, dass der Beschwerdeführer bei
einem Invaliditätsgrad von 100 % ab 1. März 1999 und von 68,6 % ab 1. Mai
1999 Anspruch auf eine ganze Rente habe. Ferner verpflichtete es die
IV-Stelle, dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, der ein Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege gestellt hatte, die Parteikosten im Betrag von
Fr. 2607.70 zu ersetzen.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, in deren
Gutheissung sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Verfügung vom 25.
Mai 2001 zu bestätigen.

W. ________ lässt auf Bestätigung des angefochtenen Entscheides schliessen,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zum
Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zu den
Voraussetzungen und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
IVG) und zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten
nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; vgl. BGE 104 V 136
f. Erw. 2a und b; AHI 2000 S. 309 Erw. 1a; vgl. auch BGE 128 V 30 Erw. 1),
namentlich die Verwendung von Tabellenlöhnen bei der Ermittlung des trotz
Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch realisierbaren Einkommens
(Invalideneinkommen; BGE 126 V 76 f. Erw. 3b mit Hinweis; AHI 2002 S. 67 Erw.
3b) und den in diesem Zusammenhang gegebenenfalls vorzunehmenden
behinderungsbedingten Abzug (AHI 1999 S. 181 Erw. 3b; siehe auch BGE 126 V 78
ff. Erw. 5; AHI 2002 S. 67 ff. Erw. 4) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt
für die Rechtsprechung zur Aufgabe des Arztes bei der Invaliditätsbemessung
(BGE 125 V 261 f. Erw. 4 mit Hinweisen) und zum Beweiswert ärztlicher
Berichte und Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis; AHI 2000 S. 152
Erw. 2c). Darauf wird verwiesen. Richtig ist auch, dass das am 1. Januar 2003
in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) nach den von der Rechtsprechung entwickelten
intertemporalrechtlichen  Regeln (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b) in
materiellrechtlicher Hinsicht auf den vorliegenden Sachverhalt nicht
anwendbar ist. Zu ergänzen ist, dass die am 1. Januar 2004 in Kraft
getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom
21. März 2003 und der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai
2003 ebenfalls nicht zur Anwendung gelangen (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).

2.
2.1 Streitig und zu prüfen ist der Invaliditätsgrad. Das kantonale Gericht hat
erwogen, dass der Versicherte seit 1. Mai 1999 aus somatischen Gründen in
einer angepassten Tätigkeit eine Arbeitsunfähigkeit von 33 % bis 50 %
aufweise. Zudem sei von einer 25%igen Arbeitsunfähigkeit aus psychischen
Gründen in einer leidensangepassten Tätigkeit auszugehen, mithin von einer
Gesamtarbeitsunfähigkeit von 58 %. Dr. med. S.________, FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie, habe in seiner im Auftrag der MEDAS durchgeführten
Untersuchung vom 11. Februar 2000 zwar keine schwerwiegende psychische
Erkrankung feststellen können. Vielmehr habe er eine psychische Überlagerung
der körperlichen Beschwerden bei Status nach Unfall diagnostiziert und dabei
eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von rund 25 % attestiert, aber auch
festgestellt, spätestens nach Ablauf von sechs Monaten, wenn der Explorand
aus somatischen Gründen wieder einen stabilen Zustand erreicht habe, gelte er
wegen der psychischen Gesundheitssituation wieder als voll arbeitsfähig. In
ihrem MEDAS-Teilgutachten vom 22. März 2000 habe Dr. med. E.________ sodann
zu Unrecht dem Umstand Rechnung getragen, dass derjenige Zustand, wie er sich
nach dem Verlauf des krankhaften Vorzustandes auch ohne Unfall eingestellt
hätte, rund zwei Jahre danach erreicht worden wäre. Eine Verminderung der
Wirbelsäulenbeschwerden lasse sich aus dem orthopädischen Teilgutachten
allerdings nicht ableiten, sondern lediglich, dass der Versicherte zwei Jahre
nach dem Unfallereignis zufolge Fortschreitens des krankhaften Vorzustandes
auch ohne Unfall unter den gleichen Beschwerden gelitten hätte, weshalb auch
die psychischen Leiden fortbestehen würden. In erwerblicher/ wirtschaftlicher
Hinsicht wurde ein massgebliches Valideneinkommen von Fr. 61'037.70 einem
Invalideneinkommen von Fr. 19'164.10 gegenübergestellt. Dabei gelangte die
Vorinstanz zu einem Invaliditätsgrad von 68,6 % ab 1. Mai 1999 und bejahte
den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente.

2.2 Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, zusätzlich zu einer
somatisch bedingten Restarbeitsfähigkeit von 50 % in einer angepassten
Tätigkeit habe keine dauernde Einschränkung aus psychischen Gründen
objektiviert werden können. Auch ein halbes Jahr nach Erlass des
MEDAS-Gutachtens seien anlässlich eines zweiwöchigen Aufenthaltes in der
Klinik Z.________ im September 2000 keine psychischen Leiden mit dauerndem
Krankheitswert festgestellt worden, und zwar, weder solche, die mit dem
Unfallereignis im Zusammenhang stehen könnten, noch allfällige andere. Die
diagnostizierten Anpassungsstörungen seien nicht dauernden Charakters und die
erhobenen Befunde fänden allein in der psychosozialen Situation ihre
Erklärung. Offen bleiben könne, ob die von der Vorinstanz berechneten
Vergleichseinkommen richtig seien, da sich auch diesfalls ein
Invaliditätsgrad von unter 66 2/3 % ergebe.

3.
3.1 Dieser Betrachtungsweise ist beizupflichten. Wie Dr. med. S.________ in
seinem psychiatrischen Gutachten vom 19. April 2000 ausgeführt hat, liess
sich bei seiner Untersuchung vom 11. Februar 2000 keine schwerwiegende
psychische Erkrankung feststellen. Dabei habe es sich um
Persönlichkeitsfaktoren gehandelt, welche für sich genommen nicht als
Krankheit gelten und im Allgemeinen auch keine Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit bewirken würden, die aber unter Belastung im Sinne des
Unfalles vom 17. März 1998 vorübergehend Krankheitswert erlangt hätten. Er
attestierte daher eine lediglich vorübergehende Arbeitsunfähigkeit aus
psychischen Gründen von 25 %, welche mit der Stabilisierung des somatischen
Gesundheitszustandes nach Ablauf eines halben Jahres nicht fortbestanden
habe. Diese Erkenntnis geht auch aus dem am 29. September 2000 von der Klinik
Z.________ erstellten Austrittsbericht eindeutig hervor. Darin wurde
hauptsächlich festgehalten, der Beschwerdegegner habe seit seinem zweiten
Unfall eine Anpassungsstörung gekoppelt mit erhöhtem Alkoholabusus nach
Arbeitsunfähigkeit, finanziellen Problemen sowie Problemen in der Ehe
erlitten. Übermässiges Trinken sowie familiäre Probleme hätten sich im
Anschluss an den zweiten Unfall gehäuft. Beim Austritt habe sich der
Beschwerdegegner recht ausgeglichen und zuversichtlich gezeigt. Einer von der
IV-Stelle nachträglich eingeholten Stellungnahme der Klinik Z.________ vom
11. Januar 2001 ist ferner zu entnehmen, dass im Zeitpunkt des Austritts eine
100%ige Arbeitsunfähigkeit auf Grund der psychiatrischen Erkrankung während
lediglich 14 Tagen vorlag. Der Versicherte hat der Verwaltung in einem
Schreiben vom 13. Januar 2001 selber mitgeteilt, er befinde sich in keiner
psychiatrischen Behandlung und wüsste auch nicht warum.

3.2 Da keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich aus dem Gesagten in
erwerblicher/wirtschaftlicher Hinsicht eine rentenbeeinflussende Änderung
ergeben hat, hat die IV-Stelle dem Versicherten ab 1. Mai 1999 zu Recht eine
halbe Invalidenrente zugesprochen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 3. Juni 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Akten werden dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau zugestellt,
damit es über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das kantonale
Verfahren entscheide.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 12. März 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: