Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 533/2003
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I 533/03

Urteil vom 28. Oktober 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari und Kernen; Gerichtsschreiber
Arnold

S.________, 1949, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland
Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 23. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Die IV-Stelle Bern sprach S.________, geb. 1949, rückwirkend ab 1. Juli 1996
eine halbe Invalidenrente zu (Verfügung vom 16. September 1999,
letztinstanzlich bestätigt durch das Eidgenössische Versicherungsgericht mit
Urteil vom 11. Januar 2001, I 116/00). Sie hatte vorgängig die medizinischen
und beruflich-erwerblichen Verhältnisse abgeklärt und dafür u.a. das
polydisziplinäre Gutachten des Zentrums X.________ (vom 12. November 1997)
eingeholt. Im Rahmen einer im Herbst 2000 an die Hand genommenen Revision von
Amtes wegen gelangte die IV-Stelle zum Schluss, die Überprüfung des
Invaliditätsgrades habe keine rentenbeeinflussende Änderung ergeben, weshalb
weiterhin Anspruch auf eine halbe Invalidenrente bestünde (Verfügung vom 12.
März 2001). Dieser Verwaltungsakt blieb unangefochten.
Am 16. April 2002 liess S.________ durch ihren Rechtsvertreter unter Beilage
eines Arztzeugnisses des Dr. med. K.________ (vom 9. April 2002) um
Rentenrevision sowie Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ersuchen. Zur
Begründung des Revisionsgesuchs wurde vorgebracht, auf Grund der durch Dr.
med. K.________ bestätigten 100%igen Arbeitsunfähigkeit müsse von einer
deutlichen Verschlechterung der medizinischen Situation ausgegangen werden.
Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verfügte die IV-Stelle am 24.
Oktober 2002 formell die Abweisung des Leistungsbegehrens. Sie stellte sich,
wie bereits in den Schreiben vom 25. April und 11. Juni 2002, auf den
Standpunkt, eine anspruchserhebliche Gesundheitsverschlechterung sei nicht
glaubhaft gemacht worden, insbesondere sei trotz mehrmaliger Fristerstreckung
kein differenzierter Arztbericht eingereicht worden, weshalb androhungsgemäss
im verfügten Sinne verfahren würde.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern ab (Entscheid vom 23. Juni 2003).

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in
Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides sei das Verfahren zur weiteren
Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen; es sei ihr eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen; eventuell seien berufliche Massnahmen zu
gewähren. Ferner sei ihr die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen in der Invalidenversicherung geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der strittigen Verfügung (hier: 24.
Oktober 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im hier zu beurteilenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
Die Verwaltung erledigte das Gesuch um Rentenrevision vom 16. April 2002
formell durch auf Abweisung des Leistungsbegehrens lautende Verfügung vom 24.
Oktober 2002. Aus der Begründung des Verwaltungsaktes ergibt sich indes, dass
die Beschwerdegegnerin den Rentenanspruch nicht abermals materiell geprüft,
sondern mangels Glaubhaftmachung einer anspruchserheblichen Tatsachenänderung
auf Nichteintreten erkannt hat. Weil Verfügungen und Rechtsmittelentscheide,
unter Vorbehalt der Problematik von Treu und Glauben, nicht nach ihrem
Wortlaut, sondern nach ihrem tatsächlichen rechtlichen Bedeutungsgehalt zu
verstehen sind (in BGE 123 V 106 nicht veröffentlichte, aber in SVR 1998 ALV
Nr. 5 S. 16 wiedergegebene Erw. 1c), ist, wie bereits die Vorinstanz
zutreffend erwog, Prozessthema einzig die Frage, ob die Verwaltung zu Recht
Nichteintreten verfügt hat. Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
materielle Anträge gestellt werden, kann auf diese demgegenüber nicht
eingetreten werden.

3.
Nach dem Gesagten ist darüber zu befinden, ob die Beschwerdegegnerin auf das
Revisionsgesuch vom 16. April 2002 hin zu Recht Nichteintreten verfügt hat.
Zu beurteilen ist mithin die Frage, ob glaubhaft im Sinne des Art. 87 Abs. 3
IVV (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) ist, dass sich
die tatsächlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin in für den Anspruch auf
Rente erheblicher Weise geändert haben. In zeitlicher Hinsicht ist die
Periode zwischen dem 16. September 1999 (Zusprechung einer halben Rente) und
dem 24. Oktober 2002 (Erlass der diesem Prozess zu Grunde liegenden
Verwaltungsverfügung) massgeblich. Einer Verfügung, welche die ursprüngliche
Rentenverfügung bloss bestätigt, kommt bei der Bemessung des
Vergleichszeitraums keine Bedeutung zu (vgl. BGE 105 V 30, 109 V 265 Erw.
4a). Verwaltung wie Vorinstanz kann nicht beigepflichtet werden, soweit sie
die unangefochten gebliebene Verfügung vom 12. März 2001 als Beginn des
relevanten Zeitraums erachteten.

3.1 Im zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil D. vom
16. Oktober 2003, I 249/01, gelangte das Eidgenössische Versicherungsgericht
nach Auslegung des Art. 87 Abs. 3 IVV (in der bis 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Fassung) zum Schluss, dass die versicherte Person mit dem
Revisionsgesuch oder der Neuanmeldung die massgebliche Tatsachenänderung
glaubhaft machen muss. Der Untersuchungsgrundsatz, wonach das Gericht von
Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen
Sachverhalts zu sorgen habe (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit
Hinweisen), spiele insoweit nicht. Werde im Revisionsgesuch oder in der
Neuanmeldung kein Eintretenstatbestand glaubhaft gemacht, sondern bloss auf
ergänzende Beweismittel, insbesondere Arztberichte, hingewiesen, die noch
beigebracht würden oder von der Verwaltung beizuziehen seien, sei der
versicherten Person eine angemessene Frist zur Einreichung der Beweismittel
anzusetzen. Diese Massnahme setze voraus, dass die ergänzenden
Beweisvorkehren geeignet seien, den entsprechenden Beweis zu erbringen. Sie
sei mit der Androhung zu verbinden, dass ansonsten gegebenenfalls auf
Nichteintreten zu erkennen sei. Das Gericht hielt weiter fest, die analoge
Anwendung der Grundsätze von Art. 73 IVV auf das Verfahren nach Art. 87 Abs.
3 IVV rechtfertige sich sowohl unter dem Aspekt von Treu und Glauben (Art. 5
Abs. 3 und 9 BV; Urteil B. vom 13. Juli 2000, H 298/98) als auch deshalb,
weil es sozialversicherungsrechtlich atypisch sei, dass die versicherte
Person für das Vorliegen eines Eintretenstatbestandes beweisführungsbelastet
ist (anders z.B. im Bereich der Kontoberichtigung, vgl. BGE 117 V 265 Erw.
3d). Ergehe eine Nichteintretensverfügung im Rahmen eines
Verwaltungsverfahrens, das den eben umschriebenen Erfordernissen betreffend
Fristansetzung und Androhung der Säumnisfolgen genüge, hätten die Gerichte
ihrer beschwerdeweisen Überprüfung den Sachverhalt zu Grunde zu legen, wie er
sich der Verwaltung geboten habe. Daran vermöge für den letztinstanzlichen
Prozess auch Art. 132 lit. b OG nichts zu ändern.

3.2
3.2.1Das in der Beilage zum Revisionsgesuch vom 16. April 2002 eingereichte
Arztzeugnis des Dr. med. K.________ (vom 9. April 2002), worin ohne jede
Begründung eine bereits seit 14. Juli 1994 bestehende, teils krankheits-,
teilweise unfallbedingte 100 %ige Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wird, vermag
für sich keine revisionsrechtlich wesentliche Verschlechterung des
Gesundheitszustandes glaubhaft zu machen. Von der Verwaltung (am 25. April
und 11. Juni 2002) aufgefordert, die behauptete Verschlechterung der
Gesundheit rechtsgenüglich zu belegen, andernfalls das Revisionsgesuch als
unbegründet qualifiziert werden müsse, hat die Beschwerdeführerin in der
Folge den von ihr in Aussicht gestellten umfassenden Bericht des Dr. med.
K.________ trotz mehrmaliger Fristerstreckung nicht eingereicht. Sie hat sich
vielmehr im Schreiben vom 16. September 2002 auf den Standpunkt gestellt, die
Verwaltung möge nunmehr ihrerseits bei Dr. med. K.________ vorstellig werden
und den fraglichen Arztbericht einverlangen, um nicht weiter Zeit zu
verlieren.

3.2.2 Die Beschwerdeführerin hat letztlich trotz mehrmaliger Fristerstreckung
einzig auf ergänzende Beweisvorkehren hingewiesen, ohne dass sie ihrerseits
der Aufforderung nachgekommen wäre, die behauptete
Gesundheitsverschlechterung weiter zu belegen. Weil zudem gestützt auf die
Schreiben der Verwaltung (vom 25. April und 11. Juni 2002) klar und
unmissverständlich war, dass bei dieser Sachlage Nichteintreten auf das
Revisionsgesuch verfügt werden würde (vgl. Erw. 2 hievor), ist den in Erw.
3.1 hievor umschriebenen Erfordernissen Genüge getan worden und die
vorinstanzlich bestätigte Nichteintretensverfügung vom 24. Oktober 2002
rechtens.

4.
Die Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung (Art. 152 in Verbindung
mit Art. 135 OG) fällt zufolge Aussichtslosigkeit (vgl. BGE 125 V 202 Erw. 4a
und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen) ausser Betracht, soweit die Zusprechung
von Leistungen nach IVG (ganze Invalidenrente, berufliche Massnahmen)
beantragt wird. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist insoweit unzulässig, da
es an einem Anfechtungsgegenstand mangelt (vgl. Art. 128 OG in Verbindung mit
Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG; BGE 119 Ib 36 Erw. 1b, 118 V 313 Erw. 3b, je
mit Hinweisen).

Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt werden, soweit
zumindest sinngemäss gerügt wird, Verwaltung wie Vorinstanz hätten zu Unrecht
das Revisionsgesuch nicht materiell behandelt, sondern auf Nichteintreten
erkannt. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist in diesem Punkt vor dem
Hintergrund der in Erw. 3.1 dargestellten, jüngst ergangenen
Rechtsprechungsänderung nicht als von vornherein aussichtslos zu bezeichnen.
Daran ändert nichts, dass letztinstanzlich die von Verwaltung und Vorinstanz
vertretene Rechtsauffassung nunmehr bestätigt wird. Weil die
Beschwerdeführerin zudem nach Lage der Akten bedürftig ist und die Vertretung
geboten war (BGE 124 V 309 Erw. 6 mit Hinweisen; AHI 1999 S. 85 Erw. 3), ist
insoweit ein Anspruch ausgewiesen. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152
Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse
Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge teilweiser Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird
Rechtsanwalt Dr. Roland Ilg, Zürich, für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine reduzierte
Entschädigung von Fr. 500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ostschweizerische AHV-Ausgleichskasse
für Handel und Industrie, St. Gallen, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 28. Oktober 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: