Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 532/2003
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I 532/03

Urteil vom 22. Januar 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiberin
Bollinger

L.________, 1977, Beschwerdeführerin, vertreten durch den Sozialdienst des
Kantons Glarus, Winkelstrasse 22, 8750 Glarus,

gegen

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 11. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1977 geborene L.________ schloss im Jahre 1996 eine Lehre als
Lebensmittelverkäuferin ab. Nach verschiedenen Stellenwechseln arbeitete sie
vom 2. März 1998 bis 31. Dezember 1999 als Verkäuferin in der Firma
X.________. Ende des Jahres 1999 stellte ihr damaliger Hausarzt Dr. med.
S.________, Allgemeine Medizin FMH, erstmals Zeichen einer schweren
psychischen Störung mit Albträumen, Schlafstörungen, Angstzuständen und
körperlicher Erschöpfung bei seltsamer Aufgedrehtheit fest, die er als
agitierte Depression interpretierte. In der Folge zog L.________ in den
Kanton Tessin, wo sie vom 6. März bis 29. August 2000 in der Firma Y.________
arbeitete. Am 14. August und 8. September 2000 begab sie sich zu Dr. med.
Z.________, Allgemeine Medizin FMH, in Behandlung, welcher eine depressive
Störung mit psychotisch paranoider Komponente diagnostizierte. Vom 15. bis
18. Januar 2001 sowie während zweier Wochen im Februar 2001 war die
Versicherte bei der Firma W.________  angestellt. Vom 5. März bis 26. März
2001 arbeitete sie bei der Firma Q.________. Am 23. April 2001 wurde sie
notfallmässig in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik U.________
hospitalisiert; eine weitere Hospitalisation in der gleichen Klinik erfolgte
vom 10. bis 21. Mai 2001. Die untersuchenden Ärzte stellten nebst einem
Cannabis-Missbrauch eine akute schizophreniforme psychotische Störung (ICD
10: F 23.31 und F 20.09) fest. Vom 25. bis 30. Mai 2001 sowie zwischen 1. und
14. Juli 2001 war L.________ als Buffet-/Serviceaushilfe im Hotel V.________
angestellt. Wegen eines zunehmend psychotischen Zustandes wurde sie vom 12.
bis 20. Juli 2001 in der psychiatrischen Abteilung des Spitals T.________
stationär behandelt. Vom 1. bis 21. September 2001 arbeitete sie in der Firma
P.________. Ab 5. November 2001 hielt sie sich stationär in der Kantonalen
Psychiatrischen Klinik N.________ auf.

Am 21. November 2001 meldete sich die Versicherte bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Graubünden holte Arbeitgeberberichte der Firma Y.________ vom 3. Dezember
2001, der Firma W.________ vom 11. Dezember 2001, der Firma X.________ vom
14. Dezember 2001, der Firma Q.________ vom 11. März 2002, des Hotels
V.________ vom 19. März 2002 sowie Arztberichte der Kantonalen
Psychiatrischen Klinik N.________ vom 6. Dezember 2001 und des Spitals
T.________ vom 27. Februar 2002 ein. Nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens sprach sie L.________ mit Verfügung vom 18. Oktober
2002 rückwirkend ab 1. Mai 2002 eine ganze Invalidenrente zu.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher L.________ die Zusprechung einer
ganzen Rente ab 1. November 2001 beantragen liess, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 11. Februar 2002
ab. Im Laufe dieses Verfahrens hatte L.________ ein Schreiben des Dr. med.
S.________ vom 2. Dezember 2002 sowie einen Bericht der Kantonalen
Psychiatrischen Klinik A.________ vom 6. Juni 2001 auflegen lassen.

C.
L.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Zusprechung
einer ganzen Rente rückwirkend ab 1. September 2001 beantragen.

Die Vorinstanz und die IV-Stelle schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Mit Eingabe vom 1. Oktober 2003 lässt L.________ weitere Beweismittel zu den
Akten reichen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

1.2 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in BGE 127 V 353 entschieden,
dass es - selbst in Verfahren, in denen das letztinstanzliche Gericht nicht
an die Feststellung des Sachverhalts gebunden ist (Art. 132 lit. b OG) - im
Lichte von Art. 108 Abs. 2 OG grundsätzlich unzulässig ist, nach Ablauf der
Beschwerdefrist neue Beweismittel beizubringen, es sei denn, dass
ausnahmsweise ein zweiter Schriftenwechsel (Art. 110 Abs. 4 OG) angeordnet
wurde (a.a.O., Erw. 3b und 4a). Namentlich ist es nicht zulässig, dass eine
Person in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ihre Absicht kundtut, nach Ablauf
der Beschwerdefrist ein künftiges Beweismittel einzureichen, oder dass sie zu
diesem Zweck die Sistierung des Verfahrens beantragt (a.a.O., Erw. 3b in
fine). Zu berücksichtigen sind in der Regel nur solche Eingaben, welche dem
Gericht innert der gesetzlichen Frist (Art. 106 Abs. 1 OG) vorliegen. Anders
verhält es sich lediglich dann, wenn die nach Ablauf der Beschwerdefrist oder
nach Abschluss eines zweiten Schriftenwechsels unaufgefordert eingereichten
Schriftstücke neue erhebliche Tatsachen oder schlüssige Beweismittel
enthalten, welche eine Revision im Sinne von Art. 137 lit. b OG zu
rechtfertigen vermöchten (a.a.O., Erw. 4b).

Die mit Eingabe vom 1. Oktober 2003 eingereichten Arbeitgeberauskünfte
erfüllen diese Voraussetzungen nicht, weshalb sie bei der Entscheidfindung
ausser Acht zu lassen sind.

1.3 Wie das kantonale Gericht zutreffend erwog, ist das am 1. Januar 2003 in
Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar, da nach
dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 18.
Oktober 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1,
121 V 366 Erw. 1b).

Ebenfalls richtig dargelegt hat die Vorinstanz, dass bei langandauernder
Krankheit der Anspruch auf eine volle Invalidenrente beginnt, wenn die
Versicherte während eines Jahres wenigstens zu zwei Dritteln arbeitsunfähig
war und daran anschliessend weiterhin mindestens in gleichem Umfang
erwerbsunfähig ist (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG; BGE 121 IV 274 Erw. 6b/cc).

Zu ergänzen ist, dass es für den Beginn des Wartejahres genügt, wenn eine
Arbeitsunfähigkeit von 20 % vorliegt, sofern am Ende dieses Jahres eine
Arbeitsunfähigkeit von durchschnittlich mindestens 40 % und ohne wesentlichen
Unterbruch von 30 aufeinanderfolgenden Tagen mit voller Arbeitsfähigkeit
(Art. 29ter IVV) sowie eine Erwerbsunfähigkeit von ebenfalls mindestens 40 %
- oder in einem für die betreffende Rentenabstufung erforderlichen höheren
Ausmass - vorliegt (BGE 121 IV 274 Erw. 6b/cc). Gemäss Art. 28 Abs. 1 IVG (in
der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) haben Versicherte
Anspruch auf eine ganze Rente, wenn sie mindestens zu 662/3 %, auf eine halbe
Rente, wenn sie mindestens zu 50 %, oder auf eine Viertelsrente, wenn sie
mindestens zu 40 % invalid sind.

2.
Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin an einer paranoiden
Schizophrenie leidet und deshalb seit Mai 2001 vollständig invalid ist.
Streitig und zu prüfen ist, ob - und allenfalls in welchem Umfang - bereits
vor dem 1. Mai 2002 ein Rentenanspruch besteht.

2.1 Den vorliegenden Berichten ist zu entnehmen, dass die gesundheitliche
Situation der Beschwerdeführerin seit längerer Zeit sehr wechselhaft war.
Zwar gab es immer wieder Phasen ohne äusserlich erkennbare
Krankheitssymptome, wie etwa der Bericht ihrer Vorgesetzten in der Firma
Q.________ zeigt, welche im März 2001 mit Ausnahme einer ärztlich belegten
Absenz vom 16. bis 22. März 2001 keine Auffälligkeiten feststellen konnten.
Insgesamt geht aber aus den Akten hervor, dass sich der Gesundheitszustand
der Versicherten etwa ab Mitte des Jahres 2000 deutlich verschlechterte. So
schilderte sie sowohl gegenüber ihren Eltern als auch gegenüber Dr. med.
S.________, dass sie bereits während ihrer von März bis August 2000 dauernden
Tätigkeit bei der Firma Y.________ Stimmen gehört und geglaubt habe, es werde
ein Komplott gegen sie geschmiedet. Als sie im November 2000 in der Firma
X.________ erneut um Arbeit fragte, stellte auch ihr ehemaliger Arbeitgeber -
der ihr für die Tätigkeit bis 31. Dezember 1999 ein ausgezeichnetes
Arbeitszeugnis ausgestellt hatte - fest, die Versicherte habe nervös und
unkonzentriert gewirkt, was völlig ungewohnt gewesen sei; eine neue
Anstellung wäre deshalb nicht mehr möglich gewesen. Sodann ging die
Beschwerdeführerin ab Herbst 2000 zahlreiche Arbeitsverhältnisse von kurzer
Anstellungsdauer - teilweise von nur wenigen Tagen - ein. Entgegen der
Annahme der Verwaltung, die häufigen Stellenwechsel seien aus
invaliditätsfremden Gründen erfolgt, lässt sich aufgrund der vorhandenen
Unterlagen nicht abschliessend beurteilen, ob die sprunghafte Stellensuche
krankheitsbedingt oder zumindest krankheitsgeprägt war. Es ist nicht
auszuschliessen, dass bereits vor Mai 2001 eine das Wartejahr auslösende
Arbeitsunfähigkeit vorlag, zumal auch im Bericht der Kantonalen
Psychiatrischen Klinik N.________ vom 6. Dezember 2001 lediglich festgehalten
wurde, es habe "mindestens seit Mai 2001" eine vollständige
Arbeitsunfähigkeit bestanden. Bei dieser medizinischen Aktenlage wäre die
Verwaltung in Anbetracht der sich bei der Beschwerdeführerin lange vor dem
ersten Klinikeintritt (23. April 2001) anbahnenden psychotischen Entwicklung
nach dem Untersuchungsgrundsatz (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je
mit Hinweisen) verpflichtet gewesen, weitere Abklärungen zum Beginn der
Arbeitsunfähigkeit zu treffen. Insbesondere hätte sie einen Bericht des Dr.
med. Z.________ einholen müssen, der die Versicherte im August/September 2000
behandelt und bereits damals die sich später als zutreffend erweisende
Diagnose einer psychotisch paranoiden Erkrankung gestellt hatte. Das im
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren eingereichte, nicht näher begründete
und ungenaue Zeugnis von Dr. med. Z.________ vom 12. August 2003 ist - worauf
die IV-Stelle in ihrer Vernehmlassung an sich zu Recht hinweist - ungenügend.
Jedoch ist nicht auszuschliessen, dass Dr. med. Z.________ anhand seiner
echtzeitlichen Aufzeichnungen (Krankengeschichte) substantiierte Angaben über
den Gesundheitszustand der Versicherten im Herbst 2000 machen kann, die eine
genauere Beurteilung der damaligen Arbeitsunfähigkeit ermöglichen. Sodann hat
die IV-Stelle auch in erwerblicher Hinsicht weitere Abklärungen zu treffen,
d.h. im Hinblick auf eine allfällige das Wartejahr unterbrechende
wiedererlangte volle Arbeitsfähigkeit von wenigstens 30 aufeinanderfolgenden
Tagen für die fragliche Zeit lückenlose Arbeitgeberberichte und ferner auch
die Akten der Arbeitslosenversicherung einzuholen.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der Beschwerdeführerin steht keine
Parteientschädigung zu, da sie durch eine Institution der öffentlichen
Sozialhilfe vertreten wird (BGE 126 V 13 Erw. 5).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 11. Februar 2003
und die Verfügung vom 18. Oktober 2002 aufgehoben werden und die Sache an die
IV-Stelle des Kantons Graubünden zurückgewiesen wird, damit sie, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu
verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben und keine Parteientschädigung
ausgerichtet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse der Schokolade-,
Biscuits- und Confiserie-, Teigwaren- und Kondensmilch-Industrien, ALBICOLAC,
Bern, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 22. Januar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: