Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 510/2003
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I 510/03

Urteil vom 16. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Riedi Hunold

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, 1958, Beschwerdegegner, vertreten durch den Winterthur-ARAG
Rechtsschutz, Monbijoustrasse 22, 3001 Bern

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 6. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
F. ________ (geboren 1958) betrieb ab 1986 ein Fitnessstudio. 1992 erlitt er
einen Muskelfaserabriss und war in der Folge arbeitsunfähig. Mit Anmeldung
vom 10. November 1994 ersuchte er um Leistungen der Invalidenversicherung. Im
Rahmen der ihm zugesprochenen Umschulung richtete die Invalidenversicherung
Taggelder aus, deren betragsmässige Festsetzung von der IV-Stelle des Kantons
Solothurn wiederholt korrigiert werden musste. Mit Schreiben vom 7. und 14.
August 2000 liess F.________ um Zahlung eines Verzugszinses infolge
verspäteter Auszahlung ersuchen. Die IV-Stelle lehnte dies mit Verfügung vom
4. September 2000 ab.

B.
F.________ liess hiegegen Beschwerde führen. Der kantonale Prozess wurde im
Einverständnis mit den Parteien sistiert. Nachdem das Eidgenössische
Versicherungsgericht mit Urteil vom 27. Dezember 2002 (I 273/02) entschieden
hatte, dass F.________ zu viel bezogene Betriebszulagen im Betrag von Fr.
48'775.80 zurückzuerstatten habe, hob das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn die Sistierung auf und hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 6.
Juni 2003 insofern gut, als es die IV-Stelle verpflichtete, für den Zeitraum
vom 1. Januar 1999 bis 9. Juni 2000 auf dem Betrag von Fr. 124'814.50 einen
Verzugszins von 5 % zu bezahlen.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Das kantonale Gericht schliesst in
seiner Stellungnahme auf eine teilweise Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, da derjenige Teil, welchen F.________
zurückzuerstatten habe, nicht der Verzugszinspflicht unterliegen könne.
F.________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der Invalidenversicherung
geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben, und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 4.
September 2000) eingetretenen Sachverhalt abstellt, sind die bis zum 31.
Dezember 2002 geltenden Bestimmungen massgebend (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit
Hinweisen).

2.
2.1 Nach den in Erw. 1 dargelegten Gründen hat auch die auf den 1. Januar 2004
in Kraft getretene Revision des IVG keinen Einfluss auf die Beurteilung des
vorliegenden Falles.

2.2 Die Vorinstanz hat die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze
über die Voraussetzungen der ausnahmsweise geltenden Pflicht zur Bezahlung
von Verzugszinsen (BGE 124 V 345 Erw. 3, 119 V 81 Erw. 3a, 117 V 351, 108 V
13; RKUV 2000 Nr. U 360 S. 32, 1999 Nr. KV 88 S. 441 Erw. 2a, je mit
Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Mit Verfügung vom 25. Oktober 1995 setzte die IV-Stelle das Taggeld des
Versicherten auf Grund eines durchschnittlichen Einkommens von Fr. 67.50
fest. Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die Vorinstanz mit Entscheid vom
19. Februar 1997 gut und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese
das Einkommen, welches der Versicherte ohne gesundheitliche Beeinträchtigung
unmittelbar vor der Eingliederung erzielt hätte, abkläre. Die IV-Stelle legte
das Taggeld wiederum gestützt auf ein durchschnittliches Einkommen von Fr.
67.50 fest und sprach dem Versicherten zusätzlich eine Betriebszulage zu
(Verfügung vom 23. September 1997). Der Versicherte erhob erneut Beschwerde,
welche das kantonale Gericht am 8. September 1998 guthiess und festhielt,
dass sich die IV-Stelle entgegen den Anweisungen im Entscheid vom 19. Februar
1997 bei der Taggeldberechnung wiederum auf dieselben Zahlen zur
Einkommensermittlung abstützte. In der Folge holte die IV-Stelle das von der
Vorinstanz angeordnete Gutachten ein und nahm gestützt darauf am 9. Juni 2000
die Schlusszahlung für die Taggelder von 4. Juli 1995 bis 30. September 1998
über den Betrag von Fr. 124'814.50 vor. Mit Urteil vom 27. Dezember 2002 (I
273/02) verpflichtete das Eidgenössische Versicherungsgericht den
Versicherten, der IV-Stelle Fr. 48'775.80 für zu Unrecht bezogene
Betriebszulagen in der Zeit von 1. Januar 1997 bis 6. Juli 1999
zurückzuerstatten.

3.2 Mit der Vorinstanz ist festzuhalten, dass eine Zahlungsverzögerung
infolge eines Rechtsmittelverfahrens an sich keine Pflicht zur Leistung von
Verzugszinsen auszulösen vermag. Dem kantonalen Gericht ist auch darin
zuzustimmen, dass das Verhalten der IV-Stelle im Nachgang zum Entscheid vom
19. Februar 1997 als "besondere Umstände" im Sinne der Rechtsprechung zur
Frage von Verzugszinsen zu betrachten ist: Indem sich die IV-Stelle bei der
Verfügung vom 23. September 1997 bezüglich der Ermittlung des
durchschnittlichen Einkommens auf dieselben Zahlen wie in der Verfügung vom
25. Oktober 1995 stützte, welche vom kantonalen Gericht ausdrücklich
beanstandet wurden und die Sache gerade zur erneuten Abklärung des
durchschnittlichen Einkommens an die Verwaltung zurückgewiesen wurde,
unterliess die IV-Stelle wiederum die Anwendung von Art. 21 Abs. 2 IVV und
setzte sich über die klaren Anweisungen der Vorinstanz hinweg; damit war
jedoch der Anlass für ein zweites Beschwerdeverfahren und eine
ungerechtfertigte weitere Verzögerung der Auszahlung gegeben. Nach dem
Gesagten hat die Vorinstanz die Pflicht der Verwaltung zur Zahlung von
Verzugszinsen zu Recht bejaht.

4.
Den Ausführungen des kantonalen Gerichts bezüglich der Höhe des Zinssatzes
(BGE 119 V 131, 101 V 120 Erw. 4; ARV 1991 S. 97 Erw. 4) sowie der Dauer des
geschuldeten Zinses hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nichts
beizufügen. Indessen hat die Vorinstanz bei ihrem Entscheid das Urteil des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 27. Dezember 2002, I 273/02, nicht
in Betracht gezogen. Nachdem der Versicherte einen beachtlichen Teil der
Zahlung vom 9. Juni 2000 infolge unrechtmässigem Bezug einer Betriebszulage
zurückzuerstatten hat, geht es nicht an, dass die IV-Stelle auch auf diesem
Betrag einen Verzugszins zu leisten hat. Dementsprechend ist der zu
verzinsende Betrag um Fr. 33'923.75 (638 Betriebszulagen à Fr. 56.- für die
Zeit von 1. Januar 1997 bis 30. September 1998 abzüglich 5.05 % AHV-Beiträge)
zu reduzieren. Die IV-Stelle schuldet somit dem Versicherten für die Zeit vom
1. Januar 1999 bis 9. Juni 2000 auf dem Betrag von Fr. 90'890.75 (Fr.
124'814.50 - Fr. 33'923.75) einen Verzugszins von 5 %.

5.
5.1 Sind Verzugszinsen wegen verspäteter Auszahlung von
Versicherungsleistungen streitig, so handelt es sich um ein Verfahren über
die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen gemäss Art. 132
und 134 OG (BGE 108 V 14 Erw. 1, 101 V 117 Erw. 2; nicht publizierte Erw. 2
von ZAK 1990 S. 41; Urteil H. vom 21. März 2003,  C 122/01), weshalb das
Verfahren kostenlos ist.

5.2 Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die IV-Stelle dem Versicherten eine
reduzierte Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 6. Juni 2003
insoweit abgeändert, als die IV-Stelle des Kantons Solothurn dem Versicherten
einen Verzugszins von 5 % für den Zeitraum vom 1. Januar 1999 bis 9. Juni
2000 auf dem Betrag von Fr. 90'891.50 schuldet.

2.
Es werden für diesen Entscheid keine Kosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat dem Beschwerdegegner eine
Parteientschädigung von Fr. 300.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: