Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 506/2003
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I 506/03

Urteil vom 3. Dezember 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Schmutz

Z.________, 1962, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Beat
Müller-Roulet, Schwarztorstrasse 28, 3000 Bern 14,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 24. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Z. ________, geboren 1962, war zuletzt im Februar 2001 für die G.________ AG
als Reinigungsmitarbeiterin im Bahnhof X.________ beschäftigt und meldete
sich am 19. März 2001 unter Hinweis auf Schmerzen im Bereich des Rückens und
der Wirbelsäule sowie auf ein Schulter-Arm-Schmerzsyndrom und wiederholte
Kollapse bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach
Abklärungen in medizinischer und beruflich-erwerblicher Hinsicht - darunter
der Arbeitgeberbericht vom Mai 2001, die im Mai 2002 von Dr. med. H.________,
Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, und von Dr. med. R.________,
Spezialarzt FMH für Rheumatologie und physikalische Medizin, erstatteten
Gutachten und der am 9. Oktober 2002 gestützt auf die Erhebung vom 25.
September 2001 erstellte Abklärungsbericht Haushalt - verweigerte ihr die
IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 18. November 2002 bei einem Invaliditätsgrad
von 31 % den Anspruch auf eine IV-Rente.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 24. Juni 2003 ab. Es hielt die Verwaltung dazu an, noch
über die von der Versicherten beantragte Zusprechung beruflicher Massnahmen
(Umschulung, Stellenvermittlung) zu verfügen.

C.
Z.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Anträgen, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung und
zum Neuentscheid an die Vorinstanz oder die Verwaltung zurückzuweisen;
eventualiter sei vom Eidgenössischen Versicherungsgericht ein Gutachten
anzuordnen; gestützt darauf sei der Invaliditätsgrad festzustellen und die
Invalidenversicherung zu verpflichten, eine IV-Rente in der vom Gericht zu
bestimmenden Höhe auszurichten; auch sei die Invalidenversicherung zu
verpflichten, sämtliche Sachleistungen, insbesondere Umschulung und
Stellenvermittlung, zu erbringen; zudem sei die unentgeltliche Rechtspflege
zu gewähren.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 18.
November 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

3.
Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidgenössische Versicherungsgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne
von Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Im
verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur
Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige
Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung
genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den beschwerdeweise
weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es an einem
Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und
insoweit keine Verfügung ergangen ist (BGE 125 V 414 Erw. 1a, 119 Ib 36 Erw.
1b, je mit Hinweisen).

4.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), zu den Voraussetzungen und dem Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), zur Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 104 V 136 Erw. 2a und
b), bei nichterwerbstätigen Versicherten nach der spezifischen Methode (Art.
5 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 sowie Abs. 2
IVV in der am 1. Januar 2001 in Kraft getretenen Fassung vom 2. Februar 2000;
BGE 104 V 136 Erw. 2a) und bei Teilerwerbstätigen nach der gemischten Methode
(Art. 27bis Abs. 1 IVV in der am 1. Januar 2001 in Kraft getretenen Fassung
vom 2. Februar 2000; BGE 104 V 136 Erw. 2a) richtig dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

5.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine
Invalidenrente hat. Für die anderen geltend gemachten Ansprüche auf
Leistungen der Invalidenversicherung fehlt es an einem Anfechtungsgegenstand
(vgl. Erw. 3 hievor), weshalb insoweit auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
nicht eingetreten werden kann. Zunächst hat die Verwaltung noch im Sinne von
Erwägung 1.2 des kantonalen Entscheides vorzugehen. Fest steht, dass die
Versicherte als teilerwerbstätige Hausfrau zu qualifizieren ist und die
Invaliditätsbemessung nach der gemischten Methode (Art. 27bis Abs. 1 IVV) zu
erfolgen hat. Unbestritten ist des Weiteren, dass der Beschäftigungsanteil
für die Erwerbstätigkeit mit 87 % und derjenige für die Haushalttätigkeit mit
13 % anzunehmen ist.

6.
6.1 Unter gewissen Umständen können schmerzhafte somatoforme Beschwerden oder
Schmerzverarbeitungsstörungen eine Arbeitsunfähigkeit verursachen. Sie fallen
unter die Kategorie der psychischen Leiden, für die grundsätzlich ein
psychiatrisches Gutachten erforderlich ist, wenn es darum geht, über die
durch sie bewirkte Arbeitsunfähigkeit zu befinden (AHI 2000 S. 159 Erw. 4b
mit Hinweisen; Urteile L. vom 6. Mai 2002 [I 275/01] Erw. 3a/bb und b sowie
Q. vom 8. August 2002 [I 783/01] Erw. 3a). In Anbetracht der sich mit Bezug
auf Schmerzen naturgemäss ergebenden Beweisschwierigkeiten genügen mithin die
subjektiven Schmerzangaben der versicherten Person für die Begründung einer
(teilweisen) Invalidität allein nicht; vielmehr muss im Rahmen der
sozialversicherungsrechtlichen Leistungsprüfung verlangt werden, dass die
Schmerzangaben durch damit korrelierende, fachärztlich schlüssig
feststellbare Befunde hinreichend erklärbar sind, andernfalls sich eine
rechtsgleiche Beurteilung der Rentenansprüche nicht gewährleisten liesse
(Urteil W. vom 9. Oktober 2001 [I 382/00] Erw. 2b).

Die ärztlichen Stellungnahmen zur Arbeits(un)fähigkeit und die Darlegungen zu
der einer versicherten Person aus medizinischer Sicht noch zumutbaren
Arbeitsfähigkeit weisen, von der Natur der Sache her, Ermessenszüge auf. Für
- oft depressiv überlagerte - Schmerzverarbeitungsstörungen gilt dies in
besonderem Masse. Dem begutachtenden Psychiater obliegt hier die Aufgabe,
durch die ihm zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten
fachkundiger Exploration der Verwaltung (und im Streitfall dem Gericht)
aufzuzeigen, ob und inwiefern eine versicherte Person über psychische
Ressourcen verfügt, die es ihr erlauben, mit ihren Schmerzen umzugehen.
Massgebend ist, ob die betroffene Person, von ihrer psychischen Verfasstheit
her besehen, an sich die Möglichkeit hat, trotz ihrer subjektiv erlebten
Schmerzen einer Arbeit nachzugehen (Urteile vom 11. November 2002 [I 368/01]
Erw. 2.3, Y. vom 5. Juni 2001 [I 266/00] Erw. 1c, S. vom 2. März 2001 [I
650/99] Erw. 2c, B. vom 8. Februar 2001 [I 529/00] Erw. 3c und A. vom 19.
Oktober 2000 [I 410/00] Erw. 2b). Die zumutbarerweise verwertbare
Arbeitsfähigkeit ist dabei nach einem weitgehend objektivierten Massstab zu
beurteilen (vgl. BGE 127 V 298 Erw. 4c mit Hinweisen; AHI 2001 S. 228 Erw.
2b).

6.2 Der Psychiater Dr. med. H.________, der die Beschwerdeführerin am 12.
März 2002, acht Monate vor Erlass der Verfügung, untersuchte, und dessen
Gutachten die interdisziplinäre Beurteilung vom Mai 2002 massgebend
beeinflusst hat, diagnostizierte bei der Beschwerdeführerin eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) und Schwierigkeiten bei der
kulturellen Eingewöhnung (ICD-10 Z60.3). Am 7. Oktober 2002, noch vor Erlass
des Vorbescheids vom 16. Oktober 2002, ging bei der IV-Stelle der
ausführliche Bericht des Spitals Y.________ ein, in welchem bei der
Beschwerdeführerin zusätzlich zu der somatoformen Schmerzstörung eine
mittelschwere Depression diagnostiziert wurde. Die Bericht erstattenden Ärzte
(Dr. med. S.________ und Frau Dr. med. D.________) empfahlen, die Depression
medikamentös zu behandeln und für die Versicherte in der psychiatrischen
Klinik der Universitären Psychiatrischen Dienste A.________ eine
Tagesstruktur zu schaffen. Sie vermerkten, dass für das zunehmend
chronifizierte Schmerzverhalten zwar immer noch ein organisches Korrelat
fehle, weshalb es nach wie vor als somatoforme Schmerzstörung zu
interpretieren sei. Sie wiesen jedoch darauf hin, die Schmerzverstärkung
könne im Zusammenhang mit nun deutlicher Depression verstanden werden.

6.3 Vom behandelnden Arzt Dr. med. B.________, Facharzt FMH für Allgemeine
Medizin, am 21. Oktober 2002 schriftlich auf den Bericht des Spitals
angesprochen, bekräftigte man von Seiten der IV-Stelle, der Bericht sei
bekannt und er werde bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt; es würden
darin allerdings dieselben Angaben festgehalten wie von den Gutachtern Dres.
med. R.________ und H.________ (Schreiben der IV-Stelle vom 30. Oktober 2002
an die Beschwerdeführerin). Nun ist indes auf Grund der Akten davon
auszugehen, dass die IV-Stelle den Bericht des Spitals nicht durch eine
medizinische Fachperson sichten liess, bevor sie ihren Entscheid fällte. Weil
sich im Gutachten von Dr. med. H.________ vom Mai 2002 (noch) keine Hinweise
auf eine Depression finden lassen, ist die Aussage der Verwaltung, es würden
in beiden Berichten dieselben Angaben gemacht, nicht richtig.

6.4 Die Vorinstanz stützte sich auf das interdisziplinäre Gutachten der Dres.
med. H.________ und R.________ ab, das sie als ausführlich und für den
Gesundheitszustand der Versicherten im Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung
schlüssig bezeichnete, weshalb ohne weiteres darauf abzustellen sei. Da sich
im kantonalen Entscheid kein Hinweis auf eine mittelschwere Depression
findet, ist nicht erkennbar, ob die betreffende Abweichung in der
Diagnosestellung bemerkt wurde. Nach der Rechtsprechung (vgl. Erw. 6.1
hievor) könnte es aber für den Rentenanspruch der Beschwerdeführerin relevant
sein, ob sie im Zeitpunkt des Verfügungserlasses neben oder zusätzlich zu der
somatoformen Schmerzstörung noch an einer mittelschweren Depression litt, war
doch im Bericht des Inselspitals ausdrücklich von einer Schmerzverstärkung
die Rede, die im Zusammenhang mit der nun deutlichen Depression verstanden
werden könne. Es ist nicht auszuschliessen, dass eine solche
Schmerzverstärkung sich in dem halben Jahr seit der Untersuchung durch Dr.
med. H.________ einschränkend auf den Grad der der Beschwerdeführerin
objektiv zumutbaren verwertbaren Arbeitsfähigkeit ausgewirkt hat.

6.5 Bei dieser Aktenlage drängt sich die Einholung eines Gutachtens auf,
welches sich mit den Abweichungen zwischen den verfügbaren Berichten befassen
und Stellung nehmen wird, ob und inwiefern sich ein bei der
Beschwerdeführerin vorliegender psychischer Gesundheitsschaden mit
Krankheitswert auf deren Arbeitsfähigkeit auswirkt (vgl. oben Erw. 6.1 und
6.4). Dabei sind auch die in den Berichten verschiedentlich genannten
möglichen Ursachen näher zu beleuchten und die wegen der hier vorliegenden
psychosozialen Problematik erforderlichen Abgrenzungen zu treffen (vgl. oben
Erw. 6.1). Dazu ist die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, welche unter
Gewährung des rechtlichen Gehörs das Gutachten veranlassen und hernach erneut
über den Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin befinden wird.

7.
Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten
abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist der
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege,
einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, wird in dem
Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
Bern vom 24. Juni 2003 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 18. November
2002 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen
wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen 5 und 6,
neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Bern hat der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung von Fr. 1'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Verfahrens zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 3. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: