Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 500/2003
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I 500/03

Urteil vom 29. Dezember 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Hochuli

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

R.________, Beschwerdegegner

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 2. Juli 2003)

Sachverhalt:

A.
R. ________, geboren 1946, seit 1978 für die Firma X.________ AG  als
Schreiner erwerbstätig, litt unter anderem an beidseitigem grauem Star,
weshalb er sich wegen einer starken Einschränkung der Sehfähigkeit mit einem
präoperativen Fernvisus von rechts 0,25 und links weniger als 0,1 bei hoher
Myopie und einem Status nach Amotio-Operation mit Viterectomie (Bericht des
Dr. med. S.________ vom 6. April 1999) im Februar 1999 einer
Kataraktoperation am linken und im Mai 2001 am rechten Auge unterziehen
musste. Die Invalidenversicherung übernahm diese Eingriffe als medizinische
Eingliederungsmassnahmen (Verfügungen vom 27. April 1999 und 13. Juli 2001).
Sodann ersuchte der operierende Dr. med. S.________ die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) mit Schreiben vom 30. Mai 2002 um
Übernahme der beidseitigen Sekundärimplantation von Artisanlinsen zur
Myopiekorrektur. Nach Einholung einer Stellungnahme des Bundesamtes für
Sozialversicherung (BSV) lehnte die IV-Stelle die Übernahme dieser Vorkehren
als Eingliederungsmassnahmen mit Verfügung vom 13. Januar 2003 ab. Daran
hielt sie auf die Einsprachen des R.________ und der CSS Versicherung
(obligatorische Krankenpflegeversicherung des R.________) hin fest
(Einspracheentscheid vom 7. März 2003).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des R.________ hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 2. Juli 2003
gut und verpflichtete die IV-Stelle zur beidseitigen Übernahme der
Artisanlinsen-Implantationen.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das BSV die Aufhebung des
kantonalen Gerichtsentscheids.

Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, beantragt R.________ sinngemäss die Abweisung derselben.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die massgebende Bestimmung des Art. 12 IVG über den
Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen zutreffend dargelegt.
Richtig sind auch die Ausführungen dazu, dass die operative Behandlung des
grauen Stars nach ständiger Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Heilung labilen pathologischen Geschehens
gerichtet ist, sondern darauf abzielt, das sonst sicher spontan zur Ruhe
gelangende und alsdann stabile oder relativ stabilisierte Leiden durch
Entfernung der trüb und daher funktionsuntüchtig gewordenen Linse zu
beseitigen (BGE 105 V 150 Erw. 3a, 103 V 13 Erw. 3a mit Hinweisen; AHI 2000
S. 295 Erw. 2b, S. 299 Erw. 2a), und dass die Qualifizierung der
Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12
Abs. 1 IVG daher grundsätzlich in Frage kommen kann (AHI 2000 S. 299 Erw.
2a). Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig ist, ob die Invalidenversicherung die beidseitige
Sekundärimplantation von Artisanlinsen zur Myopiekorrektur als medizinische
Eingliederungsmassnahme zu übernehmen hat.

3.
3.1 Die Vorinstanz bejahte den Anspruch auf Übernahme der
Artisanlinsen-Implantationen als medizinische Eingliederungsmassnahmen durch
die Invalidenversicherung mit der Begründung, die bereits zuvor als
medizinische Massnahmen nach Art. 12 IVG übernommenen Staroperationen hätten
von Anfang an nur in Kombination mit der späteren Sekundärimplantation von
Artisanlinsen eine dauerhafte und wesentliche Eingliederung gewährleisten
können. Auch wenn es sich dabei um zusätzliche Eingriffe handle, sei eine
Ungleichbehandlung durch Nichtübernahme dieser Massnahmen im Vergleich zu
solchen Versicherten, bei welchen bereits die Staroperation den
vorausgesetzten Eingliederungserfolg zeitige, nicht zu rechtfertigen. Deshalb
sei die beidseitige Implantation von Artisanlinsen durch die
Invalidenversicherung zu übernehmen.

3.2 Demgegenüber wendet das BSV ein, der Versicherte habe an einer sehr
hochgradigen Myopie (Kurzsichtigkeit) gelitten. Ihm sei anlässlich der
linksseitigen Kataraktoperation (vom Februar 1999) eine künstliche Linse
eingesetzt worden, wie dies heute üblich sei. Bei der Einsetzung solcher
Linsen werde deren Dioptrienzahl in der Regel so gewählt, dass für den Blick
in die Ferne möglichst keine Brillen- oder Kontaktlinsen-Korrektur mehr
notwendig sei. Ein solches Vorgehen sei aber nur möglich, wenn keine
erheblichen Refraktionsanomalien (z.B. Kurzsichtigkeit von mehr als drei
Dioptrien) vorbestünden. Andernfalls könne dieses Vorgehen nur gewählt
werden, wenn von Anfang an vorgesehen sei, beide Augen in kurzem zeitlichem
Abstand zu operieren. Sonst könnten Doppelbilder entstehen, solange (noch)
nicht beide Augen operiert seien. Beim Versicherten sei vorerst nur am linken
Auge der graue Star entfernt worden, jedoch ein Eingriff am rechten Auge
nicht eingeplant gewesen. Das links eingesetzte Implantat habe deshalb nicht
zu stark von den Brechkraftverhältnissen am rechten Auge abweichen dürfen und
somit die Myopie am linken Auge nur geringfügig korrigiert. Aus diesem Grunde
habe (auch) das linke Auge nach der Staroperation weiterhin einer starken
Brillen- oder Kontaktlinsenkorrektur bedurft. Dennoch fehlten aktenkundig
Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherte zwischen der ersten und der zweiten
Staroperation infolge seiner anhaltend hochgradigen Myopie arbeitsunfähig
gewesen sei. Anlässlich der erst mehr als zwei Jahre später (im Mai 2001)
erfolgten Kataraktoperation am zweiten (rechten) Auge habe Dr. med.
S.________ jedoch gezielt ein Implantat eingesetzt, welches nicht nur die
Brechkraft der infolge des grauen Stars entfernten Linse ersetzte, sondern
teilweise auch die Myopie korrigierte. In der Folge sei Dr. med. S.________
die vom Versicherten geklagten Unterschiede in der Bildgrösse in der Weise
angegangen, dass er erst fast zehn Monate (7. März 2002) später am linken
Auge eine zusätzliche Sekundärimplantation einer Artisanlinse vorgenommen
habe, ohne jedoch auf die Refraktionsverhältnisse am rechten Auge Rücksicht
zu nehmen. Er habe damit nicht in erster Linie die Eliminierung von
Doppelbildern beabsichtigt, sondern vielmehr die (möglichst vollständige)
Behebung der Kurzsichtigkeit am linken Auge. Dieses Vorgehen habe wiederum
dazu geführt, dass anschliessend auch am rechten Auge derselbe Eingriff habe
nachvollzogen werden müssen. Dr. med. S.________ habe mit seinen vier
Augenoperationen zwei verschiedene Leiden behandelt, einerseits den grauen
Star und andererseits die hohe Myopie. Praxisgemäss bestehe aber in Bezug auf
refrakturchirurgische Eingriffe wie die Implantation von Myopielinsen kein
Anspruch auf Übernahme durch die Invalidenversicherung als medizinische
Eingliederungsmassnahmen. Zudem lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die
von der Invalidenversicherung übernommenen Staroperationen nicht wie geplant
abgelaufen seien, so dass auch nach Art. 11 IVG keine Leistungspflicht der
Invalidenversicherung bestehe.

4.
Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, kann offen bleiben, ob nach der
einschlägigen Praxis (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b, 97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI
2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen) die beidseitige Übernahme der
Staroperationen angesichts der die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolgs gefährdenden erheblichen Nebenbefunde (hohe Myopie bei
Status nach Amotio-Operation mit Viterectomie gemäss Bericht des Dr. med.
S.________ vom 6. April 1999) zu Recht erfolgte. Zumindest ist kein
erheblicher Eingliederungserfolg ersichtlich, soweit Dr. med. S.________ den
Visus an dem 1999 operierten linken Auge im Juni 2001 auf nur gerade 0,1
(vgl. Bericht vom 6. Juni 2001) bezifferte, also einen im Vergleich zum
präoperativen Visus von "weniger als 0,1" gemäss Bericht vom 6. April 1999
praktisch unveränderten Wert.

5.
5.1
Nach Ziffer 6 in Anhang I zur Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV; SR
832.112.31) besteht in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung mangels
Wissenschaftlichkeit weder in Bezug auf die Excimer-Laser-Behandlung zur
Myopie-Korrektur, welche Gegenstand der Erörterungen im Urteil B. vom 11.
Dezember 2003 (I 519/03) des Eidgenössischen Versicherungsgerichts bildete,
noch betreffend die Implantation von Myopie-Linsen eine Leistungspflicht.
Zuletzt bestätigte das Gericht seine bisherige Praxis im genannten Urteil B.,
wonach eine Vorkehr, welche mangels Wissenschaftlichkeit in der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht als Pflichtleistung anerkannt
ist, auch nicht als medizinische Eingliederungsmassnahme nach Art. 12 IVG zu
übernehmen ist.

5.2 Es sind keine Gründe ersichtlich, welche ein Abweichen von dieser, im
angefochtenen Entscheid unberücksichtigt gebliebenen Praxis rechtfertigen
würden. In Übereinstimmung damit steht Rz 661/861.19 des vom BSV
herausgegebenen Kreisschreibens über die medizinischen
Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME), wonach refraktiv
chirurgische Massnahmen (Excimerlaser, Implantation von Myopie-Linsen,
Iris-Claw-Linsen etc.) keine gemäss Art. 12 IVG zu übernehmende Vorkehren
darstellen. Inwiefern in der Nichtübernahme der Sekundärimplantation von
Artisanlinsen gemäss angefochtenem Entscheid eine Ungleichbehandlung
gegenüber solchen Versicherten zu erblicken sei, bei welchen bereits eine
Kataraktoperation den mit der medizinischen Massnahme nach Art. 12 IVG
angestrebten Eingliederungserfolg gewährleistet, ist nicht ersichtlich. Die
Kataraktoperation zur Entfernung des grauen Stars und die Implantation von
Artisanlinsen zur Myopiekorrektur sind zwei von einander zu trennende
Eingriffe mit unterschiedlichen Zweckbestimmungen. Aus der vorliegend -
möglicherweise zu Unrecht (vgl. Erw. 4 hievor) - erfolgten Übernahme der
Staroperationen lässt sich kein Anspruch auf Übernahme der beidseitigen
Implantation von Artisanlinsen zur Myopiekorrektur ableiten, da mit Blick auf
Rz 53 KSME bei verschiedenen aufeinander folgenden Massnahmen, wie
beispielsweise zur Behandlung mehrerer Leiden (hier: grauer Star und
hochgradige Myopie), der erforderliche rechtliche Zusammenhang auch dann
nicht gegeben ist, wenn die vorangehende Behandlung für eine spätere
Eingliederungsmassnahme unerlässlich ist.

5.3

Demnach bejahte die Vorinstanz den Anspruch auf Übernahme der beidseitigen
Implantation von Artisanlinsen zur Myopiekorrektur zu Unrecht.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 2. Juli 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und der IV-Stelle des Kantons St. Gallen zugestellt.

Luzern, 29. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: