Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 474/2003
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I 474/03

Urteil vom 27. Januar 2004

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi, Kernen und
Frésard; Gerichtsschreiber Flückiger

P.________, 1956, Beschwerdeführer, Spanien,

gegen

IV-Stelle für Versicherte im Ausland, Avenue Edmond- Vaucher 18, 1203 Genf,
Beschwerdegegnerin

Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden
Personen, Lausanne

(Entscheid vom 12. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Nach einer Rentenrevision verneinte die IV-Stelle für Versicherte im Ausland
mit Wirkung ab 1. Mai 2002 einen Anspruch von P.________ auf eine Rente der
Invalidenversicherung (Verfügung vom 11. März 2002).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies die Eidgenössische Rekurskommission der
AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen am 12. Mai 2003 ab. Dieser
Entscheid wurde P.________ gemäss postamtlicher Bescheinigung am 3. Juni 2003
zugestellt.

C.
P.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Rechtsschrift wurde am 6.
Juli 2003 der spanischen Post übergeben. Vom Eidgenössischen
Versicherungsgericht aufgefordert, zur Frage der Rechtzeitigkeit Stellung zu
nehmen, macht P.________ geltend, gemäss Art. 48 des spanischen
Verwaltungsverfahrensgesetzes würden für die Berechnung einer nach Tagen
bestimmten Frist nur Werktage (ohne Sonn- und Feiertage) gezählt, weshalb die
Frist erst am 8. Juli 2003 geendet habe. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
sei demnach fristgerecht erhoben worden.

Die IV-Stelle für Versicherte im Ausland und das Bundesamt für
Sozialversicherung, dieses sinngemäss, beantragen Nichteintreten auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 106 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 132 OG ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde dem Eidgenössischen Versicherungsgericht innert
30 Tagen seit Eröffnung des vorinstanzlichen Entscheides einzureichen. Diese
Frist kann gemäss Art. 33 Abs. 1 OG (anwendbar nach Art. 135 OG) nicht
erstreckt werden. Bei der Berechnung der Fristen wird laut Art. 32 Abs. 1 OG
der Tag, an dem die Frist zu laufen beginnt, nicht mitgezählt. Ist der letzte
Tag einer Frist ein Sonntag oder ein vom zutreffenden kantonalen Recht
anerkannter Feiertag, so endigt sie gemäss Art. 32 Abs. 2 OG am
nächstfolgenden Werktag. Nach Art. 32 Abs. 3 OG ist die 30-tägige Frist nur
gewahrt, wenn die Verwaltungsgerichtsbeschwerde spätestens am letzten Tag der
Frist beim Eidgenössischen Versicherungsgericht eingegangen oder zu dessen
Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen
oder konsularischen Vertretung übergeben worden ist.

1.2 Der Entscheid der Rekurskommission wurde dem Beschwerdeführer am 3. Juni
2003 zugestellt. In Anwendung der genannten Bestimmungen begann die 30-tägige
Beschwerdefrist am 4. Juni 2003 zu laufen und endete am 3. Juli 2003. Die
Beschwerde vom 6. Juli 2003 wäre demnach verspätet.

2.
2.1 Am 1. Juni 2002 ist das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit
(nachfolgend: FZA) in Kraft getreten.

Nach Art. 1 Abs. 1 des auf der Grundlage des Art. 8 FZA ausgearbeiteten und
Bestandteil des Abkommens bildenden (Art. 15 FZA) Anhangs II "Koordinierung
der Systeme der sozialen Sicherheit" des FZA in Verbindung mit Abschnitt A
dieses Anhangs wenden die Vertragsparteien untereinander insbesondere die
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der
Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie
deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
(nachfolgend: Verordnung Nr. 1408/71), und die Verordnung (EWG) Nr. 574/72
des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr.
1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb
der Gemeinschaft zu- und abwandern (nachfolgend: Verordnung Nr. 574/72), oder
gleichwertige Vorschriften an.

2.2 Der Beschwerdeführer ist spanischer Staatsangehöriger, hat Wohnsitz in
Spanien und bezog seit Mai 1997 Leistungen der Schweizerischen
Invalidenversicherung. In Anbetracht dieses grenzüberschreitenden
Sachverhaltes, der einen Angehörigen eines EU-Mitgliedstaates betrifft, ist
zu prüfen, ob und inwieweit das nationale Verfahrensrecht, insbesondere
hinsichtlich der Festlegung und Berechnung von Rechtsmittelfristen, durch das
FZA eine Änderung erfahren hat.

2.3 In BGE 128 V 315 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht den
Grundsatz, wonach in einem gerichtlichen Beschwerdeverfahren das neue
(materielle) Recht nicht anzuwenden ist, wenn die streitige
Verwaltungsverfügung vor dessen In-Kraft-Treten erlassen wurde, auch
bezüglich des FZA bestätigt (Erw. 1).

Demgegenüber sind neue Verfahrensvorschriften nach der Rechtsprechung
grundsätzlich mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem Umfange
anwendbar, es sei denn, das neue Recht kenne anders lautende
Übergangsbestimmungen (BGE 129 V 115 Erw. 2.2,  112 V 360 Erw. 4a; RKUV 1998
Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b).

2.4 Weder das FZA noch die Übergangsvorschriften in der Verordnung Nr.
1408/71 (Art. 94 ff.) oder der Verordnung Nr. 574/72 (Art. 118 ff.) äussern
sich zur Anwendbarkeit allfälliger Verfahrensvorschriften. Der sofortigen
Anwendung von Verfahrensbestimmungen, die sich aus dem FZA ergeben, steht
deshalb nichts entgegen.

3.
3.1 Das FZA legt in Art. 11 verfahrensrechtliche Mindestgarantien fest: die
unter das Abkommen fallenden Personen haben ein Recht auf Beschwerde bei der
zuständigen Behörde (Abs. 1); Beschwerden müssen innerhalb einer angemessenen
Frist behandelt werden (Abs. 2);  Abs. 3 gewährleistet die Möglichkeit, beim
zuständigen Gericht "Berufung" einzulegen (vgl. dazu Bettina Kahil-Wolff, Im
APF nicht geregelte Fragen des Rechtsschutzes, in: Rechtsschutz der
Versicherten und der Versicherer gemäss Abkommen EU/CH über die
Personenfreizügigkeit [APF] im Bereich der Sozialen Sicherheit, St. Gallen
2002, S. 67 ff.; Raymond Spira, L'application de l'Accord sur la libre
circulation des personnes par le juge des assurances sociales, in: Bilaterale
Abkommen Schweiz-EU [Erste Analysen], Basel 2001, S. 369 und. 374 ff.).

Bereits in BGE 128 V 318 Erw. 1c hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
- unter Hinweis auf Lehre und Rechtsprechung des Gerichtshofes der
Europäischen Gemeinschaften (nachfolgend: EuGH) - festgestellt, dass die
Regelung des Verfahrens der innerstaatlichen Rechtsordnung überlassen ist,
soweit das FZA und die gemäss dessen Anhang II anwendbaren Rechtsakte keine
einschlägige Bestimmung enthalten. Die Modalitäten dürfen jedoch nicht
weniger günstig sein als bei gleichartigen Verfahren, die das innerstaatliche
Recht betreffen (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und sie dürfen nicht so
ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der durch die
Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder
übermässig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteil des EuGH vom 22.
Februar 2001 in den verbundenen Rechtssachen C-52/99 und
C-53/99 Office national des pensions [ONP] gegen Gioconda Camarotto und
Giuseppina Vignone, Slg. 2001 S. I-1395 ff. [nachfolgend EuGH-Urteil
Camarotto und Vignone], Randnr. 21, mit Hinweis). Die Grundsätze der
Gleichwertigkeit und der Effektivität sind auch im Anwendungsbereich des FZA
zu beachten (BGE 128 V 319 Erw. 1c).

3.2 Die Verordnung Nr. 1408/71 enthält in den Art. 84 bis 93 Bestimmungen zum
internationalen Verwaltungsverfahrensrecht (vgl. Rob Cornelissen, in:
Maximilian Fuchs [Hrsg.], Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 3. Aufl.
2002, Vorbemerkungen zu Art. 84). Laut Art. 86 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung
Nr. 1408/71 können Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe, die gemäss
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist bei
einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht dieses Staates einzureichen
sind, innerhalb der gleichen Frist bei einer entsprechenden Behörde, einem
entsprechenden Träger oder einem entsprechenden Gericht eines anderen
Mitgliedstaats eingereicht werden. Das Stellen eines Antrages bei einer
Behörde, einem Träger oder einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates als
desjenigen, der die Leistung zu erbringen hat, soll die gleichen Wirkungen
entfalten, wie wenn der Antrag unmittelbar bei der zuständigen Stelle (im
Staat, der die Leistung zu erbringen hat) gestellt worden wäre
(Heinz-Dietrich Steinmeyer, in: Fuchs, a.a.O., N 4 zu Art. 86).

Gemäss Art. 86 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist die Stelle, bei
der eine Eingabe eingereicht wurde, zur unverzüglichen Weiterleitung an die
entsprechende Stelle im zuständigen Mitgliedstaat verpflichtet. Über die
Zulässigkeit eines Antrages oder eines Rechtsmittels - insbesondere auch über
die Rechtzeitigkeit - entscheidet ausschliesslich die zuständige Stelle nach
ihren Rechtsvorschriften (Urteil des EuGH vom 22. Mai 1980 in der Rechtssache
143/79, Walsh gegen National Insurance Officer, Slg. 1980 S. 01639 ff.,
Randnrn. 11 f.).

Mit dem Einreichen eines Antrages oder Rechtsbehelfs bei einer Stelle in
einem anderen Mitgliedstaat wird - im Sinne des Gleichwertigkeitsprinzips -
die Frist unter den gleichen Voraussetzungen gewahrt, wie wenn das
entsprechende Begehren direkt bei der zuständigen Stelle eingereicht worden
wäre (Art. 86 Abs. 1 Satz 3). Für die Berechnung einer Frist lässt sich aus
Art. 86 der Verordnung Nr. 1408/71 aber nichts ableiten.

4.
Mangels einer einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Regelung bestimmt sich
somit die Fristberechnung nach schweizerischem Verfahrensrecht, soweit dieses
nicht gegen die Grundsätze der Gleichwertigkeit und Effektivität (Erw. 3.1
hievor) verstösst.

4.1 Die Berechnung und die Einhaltung einer Frist ist für die
Bundesrechtspflege in Art. 32 OG in Verbindung mit Art. 1 des Bundesgesetzes
vom 21. Juni 1963 über den Fristenlauf an Samstagen geregelt. Die Modalitäten
sind für alle Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht gleich, unabhängig davon,
ob es sich um rein innerstaatliche oder Sachverhalte mit Auslandsbezug
handelt. Ein Verstoss gegen den Grundsatz der Gleichwertigkeit im Sinne der
Rechtsprechung des EuGH liegt somit nicht vor.

4.2 Das nationale Verfahrensrecht darf zudem nicht so ausgestaltet sein, dass
es die Ausübung der Rechte, welche das Freizügigkeitsabkommen einräumt,
praktisch unmöglich macht oder übermässig erschwert. Nach ständiger
Rechtsprechung des EuGH sind angemessene "Ausschlussfristen für die
Rechtsverfolgung" (darunter fallen auch Rechtsmittelfristen) im Interesse der
Rechtssicherheit und mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar (Urteil des EuGH
vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76, Rewe-Zentralfinanz AG und
Rewe-Zentral-AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland, Slg. 1976 S.
1989 ff., Randnr. 5; EuGH-Urteil Camarotto und Vignone, Randnr. 28 mit
Hinweisen). Der Grundsatz der Effektivität wird durch solche Fristen nicht
verletzt (Urteil des EuGH vom 2. Dezember 1997 in der Rechtssache C-188/95,
Fantask A/S e.a. gegen Industriministeriet, Slg. 1997 S. I-6783, Randnr. 48
mit Hinweisen; Urteil des EuGH vom 28. November 2000 in der Rechtssache
C-88/99, Roquette Frères SA gegen Direction des services fiscaux du
Pas-de-Calais, Slg. 2000       S. I-10465 ff., Randnr. 23). Dies gilt
insbesondere in Fällen wie dem hier vorliegenden, wenn die Frist erst ab dem
Tag läuft, an dem der Entscheid dem Beschwerdeführer zugestellt wurde und er
davon Kenntnis nehmen konnte (vgl. Urteil des EuGH vom 27. März 2003 in der
Rechtssache C-327/00, Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Locale n. 42 di
Pavia, Beteiligte: Sca Mölnlycke SpA, Artsana SpA und Fater SpA, für Slg.
2003 vorgesehen, Randnr. 55 ff.).
4.3 Die Frage der Berechnung der Frist zur Einreichung einer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht ist
demnach auch im Anwendungsbereich des FZA nach den Bestimmungen des OG zu
beurteilen. Die vom Beschwerdeführer am 6. Juli 2003 der Post übergebene
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb verspätet (Erw. 1 hievor).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Eidgenössischen Rekurskommission der
AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen, der Schweizerischen
Ausgleichskasse und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 27. Januar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Der Gerichtsschreiber:

i.V.