Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 466/2003
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I 466/03

Urteil vom 5. August 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Renggli

R.________, 1959, Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 26. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
R.  ________, geboren 1959, arbeitete vom 1. April 1996 bis Ende Januar 1997
in der Firma L.________ AG, wo er mit dem Abbruch von Heizanlagen befasst
war. Am 24. Januar 1997 stellte er Antrag auf Leistungen der
Invalidenversicherung; als Behinderung gab er chronischen Alkoholismus an.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich lehnte dieses Leistungsbegehren mit
Verfügung vom 23. Oktober 1997 ab. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit unangefochten gebliebenem
Entscheid vom 17. August 1999 ab.
Nachdem das Obergericht des Kantons Zürich R.________ am 30. Oktober 2001
wegen schwerer Körperverletzung und Fahrens in angetrunkenem Zustand zu
viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt und die Strafe zu Gunsten einer
ambulanten Massnahme aufgeschoben hatte, beantragte R.________ mit Anmeldung
vom 13. November 2001 unter Hinweis auf schwere Persönlichkeitsstörungen
infolge einer neurotisch-psychopathischen Persönlichkeitsvariante erneut eine
Invalidenrente. Die IV-Stelle nahm verschiedene Unterlagen u.a. medizinischer
Art zu den Akten. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verfügte sie am
23. September 2002 die Ablehnung des Leistungsbegehrens.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 26. Mai 2003 ab.

C.
R. ________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom 23. September 2002 seien
aufzuheben und es sei ihm mit Wirkung ab 10. November 2000 eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze gemäss
Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Es betrifft dies: die Nichtanwendbarkeit
der materiellen Bestimmungen des seit 1. Januar 2003 in Kraft stehenden
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall (BGE 127 V 467 Erw. 1); den Begriff
der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG); die Kriterien, anhand derer eine
allfällig invalidisierende Wirkung geistiger Gesundheitsschäden beurteilt
wird (BGE 127 V 298 Erw. 4c, 102 V 165, je mit Hinweisen); die
Voraussetzungen, unter welchen Suchtkrankheiten eine Invalidität zu begründen
vermögen (BGE 99 V 28 Erw. 2; AHI 2002 S. 30 Erw. 2a); die Voraussetzungen
und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG); die Bestimmung des
Invaliditätsgrades bei erwerstätigen Versicherten nach der allgemeinen
Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG); die Unbeachtlichkeit
von Erwerbslosigkeit aus invaliditätsfremden Gründen im Rahmen der
Invalidenversicherung und die Bezugnahme auf den ausgeglichenen Arbeitsmarkt
zur Abgrenzung zwischen invaliditätsverursachter und invaliditätsfremder
Erwerbslosigkeit (BGE 110 V 276 Erw. 4b; AHI 1997 S. 82 Erw. 2b/bb); die
Aufgabe medizinischer und allenfalls weiterer Fachleute bei der Bemessung der
Invalidität (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen) und die Voraussetzungen für
eine erneute Prüfung des Rentenanspruches nach vorangegangener
leistungsverweigernder Verfügung (Art. 87 Abs. 4 IVV). Darauf wird verwiesen.
Zu ergänzen ist, dass die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen
des IVG (4. IVG-Revision, AS 2003 3837) keine Anwendung finden, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 23.
September 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1,
121 V 366 Erw. 1b).

2.
Streitig und zu beurteilen ist der Rentenanspruch. Da ein solcher Anspruch
mit Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 17.
August 1999 rechtskräftig abgewiesen worden ist, ist gemäss Art. 87 Abs. 4
IVV zu prüfen, ob bis zum Erlass der zweiten leistungsverweigernden Verfügung
(23. September 2002) eine wesentliche, den Rentenanspruch berührende
Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist.

3.
3.1 Die Vorinstanz stützte sich bei ihrem Entscheid vom 17. August 1999 in
medizinischer Hinsicht auf ein Gutachten des Dr. med. K._________,
Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 23. Juli 1996, in welchem nebst
chronischem Alkoholismus eine dissoziale Persönlichkeitsstörung
diagnostiziert wurde. Dieses Gutachten, das in Zusammenhang mit einem
Strafverfahren erstellt wurde, behandelt die Frage der Arbeitsfähigkeit
nicht.
In ihrer Verfügung vom 23. September 2002 bezog sich die IV-Stelle auf das im
Rahmen des Strafprozesses erstellte Gutachten von Dr. med. U.________ und
lic. phil. C._________, Psychologe, vom 16. Januar 2001 und stellte fest, es
seien seit dem Verfügungserlass vom 23. Oktober 1997 keine gesundheitlichen
Veränderungen eingetreten. Tatsächlich bestätigte das umfangreiche Gutachten
die 1996 gestellten Diagnosen, wobei die Kriterien für die
Persönlichkeitsstörung sogar als tendenziell weniger ausgeprägt erschienen
als in früheren Untersuchungen. Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit bei der
Begehung der Straftat führten die Gutachter aus, dass sich die Annahme einer
leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit vertreten lasse, da bei
überwiegenden Steuerungs-, Planungs- und Entscheidungsvorgängen in einem
zweckgerichteten Handlungsstrang die mit der Persönlichkeitsstörung
verbundenen Merkmale in Verbindung mit aktuellem Alkoholkonsum es dem
Exploranden erschwert hätten, einem Tatanreiz steuernd entgegenzuwirken. Den
chronischen Alkoholkonsum sahen die Gutachter als Symptom der
Persönlichkeitsstörung. Prognostisch erwähnten sie ein strukturelles
Grundrisiko für deliktisches Verhalten, das u.a. in einer ausgeprägten
Tendenz, soziale Regeln und Normen zu verletzen, mangelnder
Frustrationstoleranz und einer gewissen gewalttätigen Reaktionsbereitschaft
begründet sei. Hingegen sei eine Beeinflussbarkeit durch therapeutische und
sozialarbeiterische Massnahmen gegeben. In diesem Sinn empfahlen sie auch den
Aufschub der Strafe zu Gunsten einer ambulanten Massnahme, bei welcher der
Schwerpunkt weniger auf dem streng therapeutischen als auf dem
sozialarbeiterischen Anteil liegen sollte. Langfristig sei eine soziale
Reintegration anzustreben, inbegriffen die Heranführung an eine normale
Arbeitsfähigkeit, welche mithin als nicht gegeben erachtet wird.
In einem durch die IV-Stelle angeforderten Arztbericht vom 30./31. Januar
2001 erachtete Dr. med. S.________, Allgemeine Medizin FMH, den
Beschwerdeführer als keinem Arbeitgeber zumutbar. Er habe wiederholt wegen
Alkoholproblemen und Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber eine
Arbeitsstelle verloren.
Der im Rahmen der gerichtlich angeordneten ambulanten Massnahme mit dem
Beschwerdeführer befasste Dr. med. E.________, FMH Psychiatrie und
Psychotherapie, beschrieb diesen in einem Arztbericht zuhanden der IV-Stelle
vom 5. November 2001 als vollständig arbeitsunfähig, begründete dies jedoch
nicht durch medizinische Befunde, sondern durch die Situation: der Patient
sei wegen der begangenen Straftat, über welche das Sozial- und das Arbeitsamt
allfällige Arbeitgeber zu orientieren hätten, nicht vermittelbar. Daraus
resultiere bis zum erfolgreichen Abschluss der Therapie eine
Arbeitsunfähigkeit.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich aus den medizinischen Unterlagen
keine wesentliche Veränderung der gesundheitlichen Verhältnisse im
massgeblichen Zeitraum ergibt.

3.2  Was die erwerbliche Situation betrifft, kann Verwaltung und Vorinstanz
darin zugestimmt werden, dass sich eine Veränderung ergeben hat, weil der
Beschwerdeführer zur Zeit der zweiten leistungsverweigernden Verfügung auf
dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar war. Die Vorinstanz sieht dies, wie auch
die IV-Stelle, im deliktischen Verhalten begründet, welches aber in keinem
kausalen Zusammenhang mit der psychischen Beeinträchtigung stehe.

3.2.1  Dieser Betrachtungsweise kann nicht ohne weiteres gefolgt werden. Es
ist zu beachten, dass die Arbeitsfähigkeit möglicherweise auch durch den
chronischen Alkoholismus eingeschränkt ist, welcher seinerseits, nach dem
gerichtspsychiatrischen Gutachten vom 16. Januar 2001, eine Folge der
Persönlichkeitsstörung ist. Dieser mögliche Zusammenhang von psychischer
Erkrankung, Suchtverhalten und Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit kann
aufgrund der vorliegenden Akten nicht als genügend geklärt gelten, um das
Vorliegen einer psychisch bedingten Invalidität im Rechtssinn (BGE 102 V 165
und AHI 2001 S. 228 Erw. 2b) auszuschliessen (vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c
in fine). Die Verwaltung wird daher zusätzliche Abklärungen vorzunehmen
haben. Überdies wird sie prüfen müssen, ob die Verwertung der
Arbeitsfähigkeit im Sinne der zitierten Rechtsprechung gesellschaftlich
tragbar ist.

3.2.2  Dem steht nicht entgegen, dass die psychische Situation des
Beschwerdeführers als im positiven Sinn veränderbar zu erachten ist. Gemäss
der Rechtsprechung sagt die Behandelbarkeit einer psychischen Störung, für
sich allein betrachtet, nichts über deren invalidisierenden Charakter aus
(BGE 127 V 298 Erw. 4c).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 26. Mai 2003
und die Verfügung vom 23. September 2002 aufgehoben werden und die Sache an
die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen wird, damit sie, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch des
Beschwerdeführers neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 5. August 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:

i.V.