Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 455/2003
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I 455/03

Urteil vom 26. Januar 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Meyer;
Gerichtsschreiberin Hofer

C.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Sidler,
Untermüli 6, 6300 Zug,

gegen

IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6304 Zug, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug

(Entscheid vom 21. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1959 geborene C.________ übte bis 1996 eine selbstständige
Erwerbstätigkeit im Gastgewerbe aus. Danach arbeitete sie ab Juni 1997 als
Aussendienstmitarbeiterin für Herrenmassanzüge in der Firma T.________,
welche Tätigkeit sie wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Firma im
Sommer 1998 aufgeben musste. Anschliessend war sie arbeitslos, bevor sie im
September 1999 die Firma X.________ gründete mit dem Ziel, den Verkauf von
Massanzügen auf eigene Rechnung weiterzuführen. Am 15. Dezember 1999 erlitt
sie einen Autounfall, bei welchem es wegen eines ihr verweigerten Vortritts
zu einer Frontalkollision mit einem anderen Fahrzeug kam. Seither klagt sie
über Schmerzen im Bereich von Nacken-Kopf, Armen und Rücken sowie über
Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Ihrer selbstständigen
Erwerbstätigkeit in der Modeboutique konnte sie in der Folge nur noch in
beschränktem Umfang nachgehen.

Am 30. Januar 2001 meldete sich C.________ unter Hinweis auf die Unfallfolgen
bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Zug nahm
erwerbliche und medizinische Abklärungen vor. Zudem zog sie die Akten des
Unfallversicherers Allianz Suisse Versicherungen (vormals Elvia
Versicherungen) bei. Dieser stellte ihr sodann das von ihm veranlasste
Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (Medas) vom 21. Januar 2002 zu.
Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens, in dessen Verlauf die
Versicherte eine betriebswirtschaftliche Beurteilung des L.________ und eine
Stellungnahme des Hausarztes, Dr. med. M.________, vom 6. März 2002
eingereicht hatte, sprach die Verwaltung C.________ nach Einholung einer
ergänzenden Stellungnahme der Medas vom 15. April 2002 und eines
Zusatzberichts ihres Berufsberaters vom 6. Mai 2002 mit Verfügung vom 24.
Oktober 2002 mit Wirkung ab 1. Oktober 2002 bei einem Invaliditätsgrad von
61% eine halbe Invalidenrente zu. Mit weiteren Verfügungen vom 12. Dezember
2002 gewährte sie der Versicherten für die Zeit vom 1. Dezember 2000 bis 31.
März 2002 eine ganze und für die Zeit vom 1. April bis 30. September 2002
eine halbe Invalidenrente.

B.
Die gegen die beiden mit Wirkung ab 1. April 2002 eine halbe Invalidenrente
zusprechenden Verfügungen vom 24. Oktober und 12. Dezember 2002 erhobenen
Beschwerden wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 21.
Mai 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt C.________ beantragen, es sei ihr mit
Wirkung ab 1. April 2002 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Der
Rechtsschrift wurde unter anderem ein Bericht des Neurologen Dr. med.
U.________ von der Klinik X.________ vom 15. April 2003 beigelegt.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 24.
Oktober und 12. Dezember 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V
366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG). Die dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht in Streitigkeiten um
Versicherungsleistungen zustehende umfassende Kognition hat u.a. die
Konsequenz, dass auch neue, erstmals im letztinstanzlichen Verfahren
vorgebrachte Tatsachenbehauptungen und Beweismittel (so genannte Noven) zu
berücksichtigen sind (RKUV 1999 Nr. U 333 S. 197 Erw. 1, ferner BGE 103 Ib
196 Erw. 4a, 102 Ib 127 Erw. 2a).

3.
Im vorinstanzlichen Entscheid werden die Bestimmungen über die
Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG) sowie
die Ermittlung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach
der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Die vom kantonalen Gericht bestätigten Verfügungen vom 24. Oktober und 12.
Dezember 2002, mit welchen ab 1. April 2002 eine halbe Invalidenrente
zugesprochen wurde, stützen sich in medizinischer Hinsicht auf das Gutachten
der Medas vom 21. Januar 2002. Danach leidet die Beschwerdeführerin an einem
chronischen zervikozephalen Beschwerdekomplex und einer Zervikobrachialgie
rechts  sowie einem lumbospondylogenen Syndrom rechts mit Periarthropathia
coxae und möglicherweise Meralgia parästhetica. Weiter erwähnt werden ein
multifaktoriell bedingtes, leicht bis mittelschwer beeinträchtigtes und
instabiles neuropsychologisches Zustandsbild, eine leicht ängstlich gefärbte
Anpassungsstörung und Verdacht auf anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Die
Tätigkeit als Geschäftsführerin einer Modeboutique sei der Versicherten noch
zu 50% zumutbar, wobei sich vor allem die neuro-rheumatologischen Befunde
limitierend auswirkten. Aber auch für jede andere in Frage kommende
berufliche Tätigkeit attestierten die Gutachter eine Arbeitsunfähigkeit von
50% ab dem Datum der Schlussbesprechung vom 3. Januar 2002. Vorgängig habe ab
Dezember 1999 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bestanden; ab April 2000
sei versuchsweise eine Arbeitsfähigkeit von 50% attestiert worden; vom 24.
August 2000 bis 31. Januar 2001 sei die Versicherte wieder voll
arbeitsunfähig gewesen und ab 1. Februar 2001 bis 2. Januar 2002 sei die
Arbeitsfähigkeit auf 25% festgesetzt worden. Im Zusatzbericht vom 15. April
2002 führten die Ärzte der Medas aus, sowohl für die Tätigkeit als
Geschäftsführerin wie auch als selbstständige Handelsreisende für Masskleider
betrage die Arbeitsfähigkeit 50%. Ungünstig wirkten sich langes Arbeiten in
monotoner Haltung am PC, das Tragen schwerer Koffer, Arbeiten über der
Schulterebene und längere Autofahrten aus.

4.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, Dr. med.
M.________, leitender Arzt Neurologie der Klinik X.________, habe das im
Rahmen der Medas-Begutachtung in der Klinik Y.________ durchgeführte MRI des
Schädels vom 9. November 2001 überprüft und am 31. März 2003 neue Aufnahmen
durchführen lassen. Dabei habe er die Diagnose einer Hyperintensität im
Hypophysenvorderlappen, eine unklare signalintensive Veränderung im Sinus
transversus links sowie den Verdacht auf ein trombosiertes Aneurysma der
Carotis interna links im Bereich des Sinus cavernosus gestellt. Angesichts
der erhobenen Befunde habe er die Versicherte Prof. Dr. med. V.________ von
der Neurologischen Klinik des Spitals Z.________ zur weiteren Abklärung
überwiesen. Dieser habe ihr im Juni 2003 mündlich eröffnet, dass sich hinter
dem linken Auge ein Aneurysma befinde, das sich in der letzten Zeit leicht
vergrössert habe, aber noch nicht lebensbedrohend sei. Er habe ihr empfohlen
sich zu schonen. Eine weitere Kontrolluntersuchung und der Entscheid über
eine allfällige Operation seien auf anfangs Jahr 2004 vorgesehen. Ein
entsprechender ärztlicher Bericht liege noch nicht vor. Falls ein solcher
nicht als Beweismittel beigezogen werden könne, sei Prof. Dr. med. V.________
als Zeuge einzuvernehmen. Da das Medas-Gutachten auf einer falschen
Interpretation des in der Klinik Y.________ erstellten MRI basiere, könne es
nicht als Grundlage für die Beurteilung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit
dienen.

4.3 Im Zusammenhang mit der Medas-Begutachtung wurde am 16. November 2001 in
der Klinik Y.________ ein MRI des Schädels durchgeführt. Dr. med. B.________
bezeichnete den Befund im Untersuchungsbericht als altersentsprechend. Die
KM-Aussparung im Sinus transversus links entspreche einer Packionischen
Granulation und besitze keine pathologische Wertigkeit. Dem von der Medas
konsiliarisch beigezogenen Dr. med. A.________, leitender Arzt der
Neurologischen Abteilung des Spitals K.________, stand das Ergebnis dieser
bildgebenden Untersuchung nicht zur Verfügung, als er seinen Bericht vom 2.
November 2001 verfasste. In seiner Beurteilung ging er von einer
Schädelprellung mit wahrscheinlicher Commotio cerebri und indirektem
HWS-Trauma aus. An körperlichen Beschwerden seien ein Kopfweh vom
Spannungstyp und Nackenschmerzen mit teilweiser Ausstrahlung in die Arme
zurückgeblieben. Hinweise auf eine schwerere zerebrale Schädigung, eine
zervikale medulläre oder radikuläre Läsion hätten sich keine ergeben. Wegen
der dauernden Kopf- und Nackenschmerzen, welche naturgemäss nicht
objektiviert werden könnten, bestehe eine Arbeitsunfähigkeit von höchstens
25%. Der von der Medas ebenfalls beigezogene Rheumatologe Dr. med. J.________
beurteilte im Bericht vom 16. Dezember 2001 das Beschwerdebild als
cervikocephalen Beschwerdekomplex, Cervikobrachialgie rechts und
lumbospondylogenes Syndrom rechts. Zudem bestünden Anhaltspunkte für ein
latentes, durch die muskuläre Dysbalance bedingtes, Thoracic outlet Syndrom
rechts. Die Arbeitsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten und der aktuellen
Tätigkeit schätzte der Rheumatologe auf 50%.

4.4 Dr. med. U.________ stellte im Bericht vom 15. April 2003 die Diagnose
eines Verdachts auf thrombosiertes Aneurysma der Carotis interna links im
Bereich des Sinus cavernosus, unklare signalintense Veränderungen im Sinus
transversus links und Hyperintensität im Hypophysenvorderlappen. Die
Versicherte leide unter regelmässig auftretenden, holozephalen Kopfschmerzen
von progredientem Charakter, Lichtempfindlichkeit, Übelkeit und
Konzentrationsproblemen. Da sich bereits im MRI vom 16. November 2001 eine
Hyperintensität im Hypophysenlappen gezeigt hatte, veranlasste der Neurologe
das Kontroll-MRI vom 31. März 2003. Dieses ergab im Vergleich zur
Voruntersuchung keine wesentliche Veränderung. Wegen der seit rund zwei
Jahren langsam progredienten, mit Lichtempfindlichkeit und Übelkeit
einhergehenden Kopfschmerzproblematik, welche zusammen mit den MRI-Befunden
einem teilthrombosierten Carotis interna-Aneurysma entsprechen könnten,
überwies der Facharzt die Beschwerdeführerin an Prof. Dr. med. V.________ zur
Stellungnahme und allfälligen Behandlung.

4.5 Der obige Bericht wird zwar den von der Rechtsprechung entwickelten
Anforderungen an eine beweiskräftige medizinische Stellungnahme (BGE 125 V
352 Erw. 3a) nicht vollumfänglich gerecht, sodass ihm nicht volle Beweiskraft
zugesprochen werden kann, und er beantwortet auch die für die
invalidenversicherungsrechtliche Beurteilung relevanten Fragen (Erw. 3)
nicht. Er enthält aber Anhaltspunkte dafür, dass bereits vor Erlass der
streitigen Verfügungen vom 24. Oktober und 12. Dezember 2002 eine Veränderung
im Hirnbereich vorgelegen haben könnte, welcher im Rahmen der Begutachtung
der Medas vom 21. Januar 2002 möglicherweise nicht hinreichend Rechnung
getragen wurde. Ob und gegebenenfalls ab welchem Zeitpunkt die
Arbeitsfähigkeit allenfalls zusätzlich beeinträchtigt war, lässt sich den
Ausführungen des Dr. med. U.________, welcher selber lediglich von einem
Verdacht spricht, nicht entnehmen. Die vom Neurologen nachträglich gestellte
Verdachtsdiagnose, welche offenbar von Prof. Dr. med. V.________ bestätigt
wurde, gibt Anlass, um zusätzliche medizinische Abklärungen erforderlich zu
machen und das Medas-Gutachten als nicht hinreichend schlüssig erscheinen zu
lassen. Hinzu kommt, dass dem Neurologen Dr. med. A.________ bei seiner
Beurteilung vom 2. November 2001 das MRI vom 16. November 2001 nicht vorlag.
Die Sache geht daher zur Einholung eines Berichts des Prof. Dr. med.
V.________ und allfälligen ergänzenden Begutachtung an die IV-Stelle zurück.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, vom 21. Mai 2003 und die Verfügungen
der IV-Stelle Zug vom 24. Oktober und vom 12. Dezember 2002 aufgehoben werden
und die Sache an die IV-Stelle Zug zurückgewiesen wird, damit sie, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch ab 1.
April 2002 neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Zug hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wird über eine Parteientschädigung für
das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, der Ausgleichskasse Zug und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 26. Januar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: