Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 441/2003
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I 441/03

Urteil vom 15. Dezember 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Scartazzini

A.________, 1957, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Claudia
Heusi, Bielstrasse 111, 4503 Solothurn,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 19. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1957 geborene A.________ arbeitete seit August 1996 als Hilfsgipser bei
der Firma B.________ GmbH. Am 25. November 1996 erlitt er bei Gipsarbeiten
einen Unfall und brach sich dabei beide Handgelenke (distale intraarticuläre
Radiusfraktur links und Scaphoidfraktur rechts). Er meldete sich am 9. Juni
1997 bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn zum Bezug von Leistungen an.
Eine vom 25. Mai bis 24. Juni 1998 in der Klinik Z.________ durchgeführte
Grundabklärung ergab, dass der Versicherte zwar nicht mehr als Hilfsgipser
arbeiten, jedoch nach wie vor eine leichte bis mässig schwere handwerkliche
Tätigkeit ausüben könne. In Ausführung der dabei empfohlenen
Eingliederungsmassnahmen (Arbeitstraining und Besuch eines Deutschkurses)
absolvierte A.________ vom 7. Juni 1999 bis 6. April 2001 eine Umschulung zum
CNC-Bediener/Einrichter bei der Eindgliederungsstätte C.________. Diese
attestierte mit Berichten vom 5. und 6. April 2001 eine durchschnittliche
Leistungsfähigkeit von 80 % einer Normalleistung bei taktgebundenen Arbeiten
und ein erzielbares Erwerbseinkommen von monatlich Fr. 3'500.- bis 4'000.-.
Ferner wurde festgestellt, der Versicherte sei als fähig anzusehen,
CNC-Maschinen mit Werkzeughalter von ca. 2 kg zu bedienen und einzurichten.
Eingeschränkt sei er auch in Arbeiten, in welchen er mit den Handgelenken
Druck auszuüben oder diese in gleichbleibender Stellung zu halten habe. Trotz
Besuch dreier Sprachkurse vermöge er sich nur beschränkt in der deutschen
Sprache auszudrücken, was sich bei der Stellensuche nachteilig auswirke.

Mit Verfügung vom 23. Mai 2001 hielt die IV-Stelle des Kantons Solothurn nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren fest, A.________ habe die Umschulung
erfolgreich abgeschlossen, sodass sich weitere Massnahmen beruflicher Art
nicht aufdrängten, während eine erschwerte Stellensuche auf
invaliditätsfremde Gründe zurückzuführen sei. Die Arbeit des
CNC-Einrichters/Bedieners könne er mit vollem Pensum, jedoch mit einer
Leistungsfähigkeit von 80 % ausüben. Die Ausrichtung einer Invalidenrente
wurde angesichts des erzielbaren Einkommens verneint.

B.
Dagegen liess A.________ beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
Beschwerde erheben und beantragen, in Aufhebung der angefochtenen Verfügung
sei ihm eine Invalidenrente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 50 %
auszurichten; eventuell sei die Sache zur Durchführung einer ergänzenden
medizinischen Begut-achtung an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Im Einverständnis beider Parteien sistierte das kantonale Gericht das
Beschwerdeverfahren mit Verfügung vom 15. November 2001 bis zum
rechtskräftigen Entscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsan- stalt
(SUVA), bei welcher A.________ gegen die Folgen von Unfällen und
Berufskrankheiten obligatorisch versichert ist. Die entsprechende Verfügung
wurde von der SUVA am 23. November 2001 erlassen und mit Einspracheentscheid
vom 18. April 2002 bestätigt. Danach wurde dem Versicherten ab 1. April 2001
für die unfallbedingte Erwerbsbeeinträchtigung eine Invalidenrente von 20 %
zugesprochen. Der Einspracheentscheid wuchs unangefochten in Rechtskraft.

Nach Aufhebung der Sistierung durch Verfügung vom 14. April 2003 wies das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Beschwerde mit Entscheid vom
19. Mai 2003 ab.

C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Rechtsbegehren
stellen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen sei ihm in Aufhebung des
kantonalen Entscheides spätestens ab 1. April 2001 eine ganze, eventuell eine
halbe Rente zuzusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur weiteren
Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zur Begründung wird einerseits
ausgeführt, in den zwölf Monaten seit Erlass des Einspracheentscheides der
SUVA vom 18. April 2002 seien relevante Tatsachen aufgetreten, die im
angefochtenen Entscheid nicht berücksichtigt worden seien, obwohl bereits
unter Hinweis auf die seit Abschluss der Umschulung verstärkt aufgetretenen
Beschwerden zusätzliche medizinische Abklärungen beantragt worden waren. Am
17. Dezember 2002 sei im Rahmen einer Arthro-MRI-Untersuchung festgestellt
worden, dass der Unfall vom 25. November 1996 zusätzlich zu den bekannten
Befunden auch eine Verletzung der Schulter (posttraumatische, komplette
Ruptur der Subscapularissehne) zur Folge gehabt habe. Nach diesem Befund,
welcher sich auf zahlreiche, zwischen dem 11. November 2002 und dem 4. April
2003 erstellte ärztliche Berichte abstützt, sei davon auszugehen, dass der
Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Entscheides der IV-Stelle bzw. der SUVA zu
Unrecht als arbeitsfähig erachtet worden sei. Die SUVA prüfe zurzeit denn
auch die Frage einer Anpassung der Rente sowie einer Erhöhung der
Integritätsentschädigung. Andererseits macht der Beschwerdeführer geltend,
die Ergebnisse aus der durchgeführten MRI-Untersuchung seien nie an das
Versicherungsgericht gelangt. Deshalb seien sie im angefochtenen Entscheid
auch nicht berücksichtigt worden. Die IV-Stelle sei zwar darüber informiert
worden. Aus nicht bekannten Gründen seien die neuen Befunde jedoch nicht
weitergeleitet worden, wobei der damalige Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers davon ausgegangen sei, das kantonale Gericht würde sie von
der SUVA erhalten. Im Beschwerdeverfahren seien die neuen medizinischen
Abklärungen deshalb zu berücksichtigen.

In seiner Stellungnahme vom 7. Juli 2003 weist das kantonale Gericht darauf
hin, dass den Parteien die Aufhebung der Sistierung mit Verfügung vom 14.
April 2003 mitgeteilt wurde. In Beachtung ihrer Mitwirkungspflicht hätten
demzufolge allfällige neue medizinische Erkenntnisse vom Beschwerdeführer und
allenfalls auch von der IV-Stelle, soweit diese davon Kenntnis hatte, geltend
gemacht werden müssen. Diese Erkenntnisse beträfen allerdings den Zeitraum
nach Erlass der angefochtenen Verfügung und seien für das vorliegende
Verfahren nach ausgebliebener Geltendmachung im kantonalen
Beschwerdeverfahren nicht relevant. Auf die Formulierung eines konkreten
Antrages hat die Vorinstanz verzichtet. Die IV-Stelle führt in ihrer
Vernehmlassung aus, es erübrige sich, zu den umfangreichen nachgereichten
ärztlichen Unterlagen Stellung zu nehmen. Diese seien zwar für das nun
laufende Verwaltungsverfahren massgebend, habe sich doch der Versicherte am
14. Juli 2003 bei der IV-Stelle neu anmelden lassen. Die angefochtene
Verfügung vom 23. Mai 2001 sei im Zeitpunkt ihres Erlasses jedoch zu Recht
erfolgt, da sie auf Grund von schlüssigen medizinischen Unterlagen ergangen
sei. Nachträglich geltend gemachte Tatsachen und Beweismittel, welche die
Verwaltung nicht von Amtes wegen erheben müsse, seien nicht geeignet, die
Invaliditätsbemessung als offensichtlich unhaltbar erscheinen zu lassen. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet darauf, sich vernehmen zu lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zum
Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zu den
Voraussetzungen und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
IVG) und zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten
nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; vgl. BGE 104 V 136
f. Erw. 2a und b; AHI 2000 S. 309 Erw. 1a; vgl. auch BGE 128 V 30 Erw. 1),
namentlich die Verwendung von Tabellenlöhnen bei der Ermittlung des trotz
Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch realisierbaren Einkommens
(Invalideneinkommen; BGE 126 V 76 f. Erw. 3b mit Hinweis; AHI 2002 S. 67 Erw.
3b) und den in diesem Zusammenhang gegebenenfalls vorzunehmenden
behinderungsbedingten Abzug (AHI 1999 S. 181 Erw. 3b; siehe auch BGE 126 V 78
ff. Erw. 5; AHI 2002 S. 67 ff. Erw. 4) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt
für die Rechtsprechung zur Aufgabe des Arztes bei der Invaliditätsbemessung
(BGE 125 V 261 f. Erw. 4 mit Hinweisen) und zum Beweiswert ärztlicher
Berichte und Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis; AHI 2000 S. 152
Erw. 2c). Darauf wird verwiesen. Richtig ist auch, dass das am 1. Januar 2003
in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) nach den von der Rechtsprechung entwickelten
intertemporalrechtlichen Regeln (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b) in
materiellrechtlicher Hinsicht auf den vorliegenden Sachverhalt nicht
anwendbar ist.

2.
In seiner Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht der
Beschwerdeführer keine Einwendungen geltend, welche die Recht-mässigkeit des
kantonalen Entscheides in Frage stellen würden. Im Gegenteil führt er aus,
grundsätzlich sei nichts dagegen einzuwenden, dass die Vorinstanz ihren
Entscheid weitgehend nach dem Einspracheentscheid der SUVA ausgerichtet habe.
Er bringt somit lediglich vor, im vorliegenden Beschwerdeverfahren seien die
neuen medizinischen Befunde zu berücksichtigen. Damit beschränkt sich die
Beschwerde jedoch auf die Frage, ob im vorinstanzlichen Entscheid die ab
November 2002 neu erhobenen Erkenntnisse zu Recht unbeachtet geblieben sind,
oder ob das verwaltungsgerichtliche Verfahren auf diesen neuen Sachverhalt
auszudehnen ist.

2.1 Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt das Sozialversicherungsgericht
die Gesetzmässigkeit der Verwaltungsverfügung in der Regel nach dem
Sachverhalt, der zur Zeit des Verfügungserlasses gegeben war (BGE 121 V 366
Erw. 1b mit Hinweisen). Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert
haben, sollen im Normfall Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein
(BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis). Solche, die sich erst später
verwirklichen, sind jedoch insoweit zu berücksichtigen, als sie mit dem
Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und geeignet sind, die
Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beeinflussen (BGE 99 V 102
mit Hinweisen).

2.2 Im vorliegenden Fall wurde das Beschwerdeverfahren durch das kantonale
Gericht mit Verfügung vom 15. November 2001 bis zum rechtskräftigen Entscheid
der SUVA sistiert. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem
Einspracheentscheid vom 18. April 2002 sprach die Unfallversicherungsanstalt
A.________ ab 1. April 2001 eine Invalidenrente von 20 % zu. Die Vorinstanz
hob die Sistierung des Beschwerdeverfahrens mit einer den Parteien eröffneten
Verfügung vom 14. April 2003 auf und wies die Beschwerde mit Entscheid vom
19. Mai 2003 ab.

Während der Sistierung des Beschwerdeverfahrens diagnostizierte Dr. med.
D.________ am 17. Dezember 2002 einen Verdacht auf Schulterbinnenläsion
(Subscapularis, Intervallregion) bei Status sechs Jahre nach Sturz am 25.
November 1996. Diesen Verdacht bestätigte er nach einer MRI-Untersuchung der
rechten Schulter in einem Bericht vom 3. Januar 2003, indem er eine
posttraumatische, alte komplette Subscapularissehnenruptur rechts bei Status
sechs Jahre nach Sturz am 25. November 1996 attestierte. Obwohl dieser neu
festgestellte, sich auf den Zeitpunkt der Verfügung vom 23. Mai 2001
beziehende Sachverhalt sowohl dem Versicherten als auch der IV-Stelle bekannt
war, wurde er in Verletzung der zumutbaren Mitwirkungspflicht des
Beschwerdeführers (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a,  117 V 264 Erw.
3b, je mit Hinweisen) dem kantonalen Gericht weder im Laufe der Sistierung
des Verfahrens noch anlässlich der Aufhebungsverfügung vom 14. April 2003 zur
Kenntnis gebracht. Dabei ist unerheblich, ob der damalige Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers, welcher sich nach Angaben der IV-Stelle am 14. Juli 2003
bei der Verwaltung neu anmelden liess, allenfalls davon ausgegangen war, die
fraglichen neuen Befunde würden durch die SUVA an das kantonale Gericht
weitergeleitet werden, vor welchem überdies kein Gerichtsverfahren zwischen
Anstalt und Versichertem hängig war. Unter diesen Umständen konnten die ab
17. Dezember 2002 erkannten Tatsachen und die sich möglicherweise daraus
ergebenden Rechtsfolgen im angefochtenen Entscheid nicht berücksichtigt
werden, zumal sie Gegenstand eines neuen Verfahrens bilden. Das
Versicherungsgericht hat die Rechtmässigkeit der Verwaltungsverfügung somit
zu Recht nach dem Sachverhalt beurteilt, der zur Zeit des Verfügungserlasses
gegeben war.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 15. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: