Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 434/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


I 434/03

Urteil vom 22. April 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Lanz

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,

gegen

T.________, 1950, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Marcus
Andreas Sartorius, Rudenz 12, 3860 Meiringen

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 13. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1950 geborene T.________, gelernte Verkäuferin, war zuletzt ab 1988 als
Hausangestellte in einem Spital tätig. Im November 1994 meldete sie sich
unter Hinweis auf ein langjähriges Rückenleiden bei der Invalidenversicherung
zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern sprach ihr zunächst ab 1. Oktober
1994 eine halbe Invalidenrente zu (Verfügung vom 18. Juli 1995) und erhöhte
diese, nachdem eine gesundheitliche Verschlimmerung geltend gemacht worden
war, ab 1. April 1995 auf eine ganze Rente (Verfügung vom 2. Mai 1996). Daran
hielt sie mit Revisionsverfügung vom 26. November 1998 fest.

Im Jahr 2001 leitete die Verwaltung ein weiteres Rentenrevisionsverfahren
ein. Gestützt auf ein interdisziplinäres rheumatologisches/psychiatrisches
Gutachten vom August/September 2001 gelangte sie zur Auffassung, dass die
bisher ausgerichtete ganze Invalidenrente infolge einer gesundheitlichen
Verbesserung auf eine halbe Rente herabzusetzen sei. Dies wurde der
Versicherten mit Vorbescheid vom 9. November 2001 in Aussicht gestellt.
Nachdem T.________ hiegegen opponiert hatte, erging am 10. April 2002 ein
neuer Vorbescheid. Darin kündigte die IV-Stelle der Versicherten die
wiedererwägungsweise Aufhebung der Verfügung vom 18. Juli 1995 und der
Rentenfolgeverfügungen an, da gemäss Abklärungsergebnis die Voraussetzungen
für die Ausrichtung einer Invalidenrente nie gegeben gewesen seien und diese
Leistung daher zu Unrecht zugesprochen worden sei. Am 29. April 2002 erliess
die Verwaltung die gleichlautende Verfügung.

B.
Die von T.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern in dem Sinne gut, dass es die Verfügung vom 29. April 2002
aufhob und die Sache zu weiteren Abklärungen über die Frage, ob eine
anspruchsrelevante Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten sei,
und zur neuen Verfügung an die Verwaltung zurückwies (Entscheid vom 13. Mai
2003).

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben; eventualiter sei die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

T. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, werden nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 29. April 2002)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt, womit im vorliegenden Fall
auch die Anwendbarkeit des seit 1. Januar 2003 geltenden Bundesgesetzes über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) entfällt (BGE 129 V
4 Erw. 1.2). Dasselbe gilt für die Verordnung hiezu (ATSV) und die am 1.
Januar 2004 in Kraft getretene 4. IVG-Revision.

Im angefochtenen Entscheid werden sodann die Gesetzesbestimmungen über die
Voraussetzungen und den Umfang des Anspruchs auf eine Rente der
Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG in der bis Ende 2003 in
Kraft gestandenen Fassung) sowie über die revisionsweise Erhöhung,
Herabsetzung oder Aufhebung einer Invalidenrente bei einer für den Anspruch
erheblichen Änderung des Invaliditätsgrades (Art. 41 IVG) und die hiezu
ergangene Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Richtig wird auch ausgeführt,
dass eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand
materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, von der Verwaltung in
Wiedererwägung gezogen werden kann, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (vgl. BGE 127 V 469 Erw. 2c mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen mit der Ergänzung, dass von der
Wiedererwägung die so genannte prozessuale Revision von
Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden ist. Danach ist die Verwaltung
verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn
neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu
einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit
Hinweisen).

2.
Die IV-Stelle führt zur Begründung der wiedererwägungsweisen Aufhebung der
rentenzusprechenden und -bestätigenden Verfügungen an, der aufgrund der
aktuellen Verhältnisse ermittelte Invaliditätsgrad belaufe sich auf 23 %, was
keinen Anspruch auf eine Rente ergebe. Da seit der Anmeldung von November
1994 keine gesundheitliche Veränderung eingetreten sei, habe der
Invaliditätsgrad bereits im Zeitpunkt der Rentenzusprechung weniger als die
anspruchsbegründenden 40 % betragen. Es sei demnach zu Unrecht eine Rente
verfügt worden. Der Grund hiefür liege darin, dass versehentlich die
Arbeitsfähigkeit der Erwerbsfähigkeit gleichgestellt worden sei. Die besagten
früheren Verwaltungsakte seien somit zweifellos unrichtig und, da ihrer
Berichtigung wesentliche Bedeutung zukomme, aufzuheben.

Das kantonale Gericht vertritt demgegenüber die Auffassung - welcher sich die
Beschwerdegegnerin anschliesst -, die Frage, ob die Rentenverfügung vom 2.
Mai 1996 offensichtlich unrichtig gewesen und deshalb in Wiedererwägung zu
ziehen sei, könne offen bleiben. Im Weiteren wird im angefochtenen Entscheid
erwogen, aufgrund der vorhandenen medizinischen Akten könne nicht beurteilt
werden, ob eine anspruchsrelevante Veränderung des Gesundheitszustandes
eingetreten sei. Die Verwaltung habe hiezu ergänzende Abklärungen zu treffen
und anschliessend über die Frage der Rentenrevision nach Art. 41 IVG neu zu
verfügen.

3.
3.1 Der Vorinstanz kann nicht gefolgt werden, soweit sie die Frage der
Rechtmässigkeit der von der IV-Stelle verfügten Wiedererwägung offen lassen
und sich auf die Prüfung der Voraussetzungen einer Rentenrevision nach Art.
41 IVG beschränken will. Denn der Grundsatz, wonach die Verwaltung befugt
ist, jederzeit von Amtes wegen auf eine formell rechtskräftige Verfügung,
welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat,
wiedererwägungsweise zurückzukommen, wenn diese zweifellos unrichtig und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist, geht der Revisionsordnung nach
Art. 41 IVG vor. Sind die Voraussetzungen für die Wiedererwägung gegeben,
kann die Verwaltung daher unter diesem Titel eine Rentenverfügung auch dann
abändern, wenn die Revisionsgrundlagen des Art. 41 IVG nicht erfüllt sind
(BGE 125 V 369 Erw. 2 mit Hinweisen).

3.2 Alleine der Umstand, dass bei der Invaliditätsbemessung von der Arbeits-
auf die Erwerbsunfähigkeit gefolgert wird, gestattet, auch wenn dieses
Vorgehen nach der Rechtsprechung grundsätzlich unzulässig ist (BGE 114 V 314
Erw. 3c; RKUV 1991 Nr. U 130 S. 272 Erw. 3b; Urteile F. vom 31. August 2001,
I 414/01, und T. vom 5. Mai 1999, I 195/99) und nur ausnahmsweise zur
Anwendung gelangen darf (Urteil S. vom 30. Mai 2001 Erw. 3a, I 35/01), noch
nicht den Schluss auf zweifellose Unrichtigkeit der sich darauf stützenden
Rentenverfügungen. Hiefür genügt auch nicht, wenn beim der Rentenzusprechung
zu Grunde gelegten Einkommensvergleich nur auf den angestammten Beruf - als
Verweisungstätigkeit - abgestellt wurde, wie dies hier geschehen ist. Um eine
zugesprochene Rente wiedererwägungsweise aufheben zu können, müsste vielmehr
mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw.
5b mit Hinweisen) erstellt sein, dass eine korrekte Invaliditätsbemessung
hinsichtlich des Leistungsanspruchs zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.

Die IV-Stelle hat der wiedererwägungsweisen Aufhebung der Rentenverfügungen
keinen erneuten Einkommensvergleich aufgrund der damaligen Verhältnisse zu
Grunde gelegt. Zur Stützung ihres Standpunktes beruft sie sich vielmehr
einzig darauf, in der Zeit zwischen der Rentenzusprechung und der hier
streitigen Verfügung vom 29. April 2002, für welchen Zeitpunkt sie einen
nicht rentenberechtigenden Invaliditätsgrad ermittelt hat, sei keine
wesentliche gesundheitliche Veränderung eingetreten (vgl. Erw. 2 hievor).
Damit ist aber eine zweifellose Unrichtigkeit der Rentenverfügungen nicht
dargetan, zumal sich die Frage, ob sich der Gesundheitszustand der
Beschwerdegegnerin in einer anspruchsrelevanten Weise verändert hat, aufgrund
der gegebenen medizinischen Akten nicht zuverlässig beantworten lässt. Eine
ärztliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit für eine leidensadaptierte
Verweisungstätigkeit in den für die Rentenzusprechung und -erhöhung
massgebenden Zeitpunkten liegt nicht vor. Und in der aktuellen
rheumatologisch-psychiatrischen Expertise vom August/September 2001 wird zwar
wie schon damals von einer rein somatisch bedingten Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit ausgegangen. Der begutachtende Rheumatologe enthält sich
aber ausdrücklich einer Aussage zur Begründetheit der früheren ärztlichen
Stellungnahmen zur funktionellen Leistungsfähigkeit, womit ein Vergleich mit
den damals gegebenen Verhältnissen nicht vorgenommen werden kann.

Somit mag das damalige Vorgehen der Verwaltung zwar Fragen aufwerfen, ohne
dass die besagten Verwaltungsakte deswegen aber als zweifellos unrichtig
qualifiziert und mit dieser Begründung wiedererwägungsweise aufgehoben werden
können.

3.3 Neue Tatsachen oder neue Beweismittel, welche eine prozessuale Revision
der Rentenverfügungen zu begründen vermöchten (vgl. Erw. 1 am Ende hievor),
werden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus den Akten. Dies
gilt auch für das wie dargelegt nur beschränkt aussagekräftige medizinische
Gutachten vom August/September 2001.

3.4 Kann nach dem Gesagten die Aufhebung der früheren Verfügungen durch
Wiedererwägung - gegebenenfalls prozessuale Revision - nicht begründet
werden, bleibt zu prüfen, ob eine Rentenrevision nach Art. 41 IVG vorzunehmen
ist. Dies hat die Verwaltung offen gelassen. Als Grund für eine solche
Anpassung der laufenden Rente steht einzig eine unter Umständen
anspruchsrelevante gesundheitliche Verbesserung zur Diskussion. Das kantonale
Gericht hat dies richtig erkannt und auch zutreffend erwogen (vgl. Erw. 2
hievor), dass sich die damit gestellte Frage aufgrund der vorhandenen
medizinischen Akten weder zuverlässig bejahen noch verneinen lässt, weshalb
ergänzende Abklärungen angezeigt sind. Aufgrund der zahlreichen medizinischen
Berichte sollte es möglich sein, für den mit Blick auf die Rentenzusprechung
und -erhöhung massgebenden Zeitraum zumindest mittels eines Aktengutachtens
eine verlässliche ärztliche Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit der
Versicherten in einer adäquaten Tätigkeit zu erhalten und gestützt darauf
einen rechtskonformen Einkommensvergleich vorzunehmen. Der angefochtene
Entscheid erweist sich somit im Ergebnis als rechtens.

Resultieren aus den weiteren Abklärungen neue Erkenntnisse, welche, anders
als die derzeitige Aktenlage, ein Rückkommen auf die Rentenverfügungen
rechtfertigen, bleiben der Verwaltung die entsprechenden Entscheidungen
unbenommen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 700.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 22. April 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: