Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 432/2003
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I 432/03

Urteil vom 8. März 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Hadorn

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdeführerin,

gegen

H.________, 1993, Beschwerdegegner, vertreten durch seine Eltern

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 28. April 2003)

Sachverhalt:

A.
H. ________ (geb. 16. Januar 1993) leidet an einem Psychoorganischen Syndrom
(POS). Die Invalidenversicherung kam für medizinische Massnahmen auf. Mit
Verfügung vom 27. August 2002 lehnte die IV-Stelle Basel-Stadt die Übernahme
einer Fördertherapie mit den Schwerpunkten Integration der Reflexe,
Verbesserung der räumlichen Wahrnehmung sowie Förderung der Rechen- und
sprachlichen Fähigkeiten ab, da diese Vorkehr nicht unter die von der
Invalidenversicherung zu übernehmenden pädagogisch-therapeutischen Massnahmen
für Minderjährige falle, welche die Volksschule besuchen.

B.
Die von H.________, vertreten durch seine Eltern, hiegegen erhobene
Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom
28. April 2003 insofern gut, als es die Sache zu näheren Abklärungen im Sinne
der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies. Das Gericht erwog, es sei nicht
genügend geprüft worden, ob die erwähnte Fördertherapie als medizinische
Massnahme von der Invalidenversicherung zu übernehmen sei.

C.
Die IV-Stelle Basel-Stadt führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
Die Eltern von H.________ schliessen auf Abweisung, das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) hingegen auf Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzlichen Vorschriften
zum Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8
Abs. 3 lit. a IVG; Art. 12 Abs. 1 IVG) und bei Geburtsgebrechen im Besonderen
(Art. 8 Abs. 2 IVG; 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 1 Abs. 1 und 2 GgV, Art. 2 Abs.
3 GgV), zum Anspruch auf Sonderschulung (Art. 19 Abs. 1 bis 3 IVG; Art. 8 ff.
IVV), zu den Zulassungsvorschriften bei medizinischen Massnahmen (Art. 14
Abs. 1 lit. a, Art. 26 Abs. 1 und Art. 26bis Abs. 1 und 2 IVG) sowie die
Rechtsprechung zum abschliessenden Charakter der Aufzählung von
pädagogisch-therapeutischen Massnahmen in Art. 9 Abs. 2 IVV (BGE 128 V 98
Erw. 4b) und zur Abgrenzung zwischen pädagogisch-therapeutischen und
medizinischen Massnahmen (BGE 122 V 210 Erw. 3a) richtig dargelegt. Ferner
trifft zu, dass das ATSG und die ab 1. Januar 2004 geltenden Bestimmungen des
IVG vorliegend nicht anwendbar sind. Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob es sich auf Grund der Akten rechtfertigt, die
IV-Stelle zu weiteren Abklärungen zu verhalten, um festzustellen, ob die
Fördertherapie als medizinische Eingliederungsmassnahme anzusehen ist. Nicht
mehr umstritten ist hingegen, dass die erwähnte Therapie, sollte sie als
pädagogisch-therapeutische Massnahme gelten, von der Invalidenversicherung
nicht zu übernehmen wäre, da sie in der abschliessenden Aufzählung solcher
Massnahmen zur Ermöglichung des Volksschulbesuchs in Art. 9 Abs. 2 IVV nicht
enthalten ist. Dem ist beizupflichten (BGE 128 V 98 Erw. 4b). Während die
Vorinstanz in der Beschreibung der Fördertherapie Anhaltspunkte erblickt,
dass es sich um eine medizinische Massnahme handeln könnte, und deshalb
weitere Abklärungen angeordnet hat, erachten IV-Stelle und BSV zusätzliche
Schritte als entbehrlich, weil die Fördertherapie klarerweise eine
pädagogisch-therapeutische Massnahme darstelle.

2.1 Die Rechtsprechung versteht unter pädagogisch-therapeutischen Massnahmen
Vorkehren, die nicht unmittelbar der Vermittlung von Kenntnissen und
Fertigkeiten in schulischen Belangen dienen. Sie treten ergänzend zum
Unterricht hinzu und sind hauptsächlich darauf ausgerichtet, die Schulung
beeinträchtigende Auswirkungen der Invalidität zu mildern oder zu beseitigen.
Der Begriff "therapeutisch" ver-deutlicht, dass die Behandlung des Leidens im
Vordergrund steht. Wie der Massnahmenkatalog gemäss Art. 9 Abs. 2 IVV zeigt,
geht es dabei vornehmlich um die Verbesserung gewisser körperlicher oder
psychischer Funktionen im Hinblick auf den Schulunterricht. Die Abgrenzung
gegenüber den medizinischen Massnahmen anderseits erfolgt danach, ob das
pädagogische oder das medizinische Moment überwiegt (BGE 122 V 210 Erw. 3a,
121 V 14 Erw. 3b, 114 V 27 Erw. 3a, je mit Hinweisen). Welcher der beiden
Gesichtspunkte überwiegt, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des
Einzelfalls (BGE 114 V 27 Erw. 3a mit Hinweisen). Zur erwähnten Abgrenzung
hat sich das Eidgenössische Versicherungsgericht bereits mehrmals geäussert.
In dem in BGE 122 V 210 Erw. 3a erwähnten Urteil C. vom 16. April 1992, I
185/90, wurde eine Physiotherapie trotz ebenfalls vorhandener medizinischer
Gesichtspunkte als pädagogisch-therapeutisch eingestuft, weil es namentlich
darum ging, die Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit zu fördern, was
pädagogisch höchst bedeutsam sei. Dabei handle es sich um einen eigentlichen
Lernprozess. Im Urteil R. vom 28. Mai 1993, I 395/92, qualifizierte das
Eidgenössische Versicherungsgericht eine sensorische Integrationstherapie,
bei welcher die Förderung der gestörten Motorik im Vordergrund stand und ein
Rückstand in Sprache, Feinmotorik und Wahrnehmung aufgeholt werden sollte,
als überwiegend pädagogisch-therapeutische Massnahme. In BGE 121 V 14 Erw. 4
wurde eine Psychomotorik-Therapie als pädagogisch-therapeutische Massnahme
angesehen, weil damit eine harmonisierende und tonisierende Einwirkung auf
das Zusammenspiel der menschlichen Funktionssysteme beabsichtigt war, es also
mit andern Worten um Koordinationsübungen ging.

2.2 Aus den Akten ergibt sich, dass Dr. med. R.________, Pädiatrie FMH,
speziell Endokrinologie, ursprünglich eine Psychomotorik-Therapie vorgesehen
hatte. Später entschied er sich statt dessen für die hier streitige
Fördertherapie. Für deren Durchführung sah er gemäss seinem Bericht vom 21.
August 2001 die Gemeinschaftspraxis X.________ vor. Dort wird der Versicherte
von A.________ und T.________ betreut. Diese haben eine pädagogische
Ausbildung, überdies das Lehrerseminar Y.________ besucht und eine
Förderlehren-Ausbildung im Seminar Z.________ in der Schweiz, Holland und
Deutschland absolviert. Das erwähnte Seminar bietet Pädagoginnen und
Pädagogen eine Fortbildung im medizinisch-therapeutischen Bereich an. Sie
soll zur Tätigkeit im schulischen, förderpädagogischen, heilpädagogischen und
sozialpädagogischen Gebiet befähigen. Grundlage bildet die anthroposophische
Pädagogik und Heilpädagogik. Das Seminar für Förderpädagogik wird anerkannt
von der Medizinischen Sektion und von der Pädagogischen Sektion der Freien
Hochschule für Geisteswissenschaften. Andere Anerkennungen haben die beiden
Pädagoginnen trotz mehrmaliger Nachfrage seitens der IV-Stelle weder
nachgewiesen noch geltend gemacht. Es existieren weder kantonale noch
eidgenössische Zulassungen noch Tarifvereinbarungen zwischen der
Gemeinschaftspraxis und dem BSV oder einem Kanton. Vielmehr bestätigt die
Praxis im Schreiben vom 24. Juni 2002 ausdrücklich, keine kantonale Zulassung
zu besitzen, und den Abschluss einer Tarifvereinbarung hat das BSV gemäss
Mitteilung an die IV-Stelle vom 13. Juni 2002 abgelehnt.

2.3 Gemäss Berichten der Gemeinschaftspraxis vom 12. November 2001 und 24.
Juni 2002 steht bei der streitigen Fördertherapie die Förderung der
Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit sowie die seelische und körperliche
Entwicklung des Kindes im Vordergrund. Der Versicherte zeige starke Defizite
in der Konzentration und Wahrnehmung. Feinmotorische Ungeschicklichkeiten
machten ihm z.B. beim Schreiben sehr zu schaffen. Daher seien bei ihm Übungen
zur Integration der Reflexe, Verbesserung der Raumorientierung, Festigung der
Lateralität, Geschicklichkeit in der Feinmotorik sowie Verbesserung der
motorischen und sensualen Selbstwahrnehmung vorgesehen. Dazu gehörten u.a.
Zeichnen, feinmotorische Übungen, Auge-Handkoordinations- und
Bewegungskoordinationsübungen.

2.4 Im Lichte der erwähnten Rechtsprechung (Erw. 2.1 hievor) überwiegt
vorliegend das pädagogisch-therapeutische Moment gegenüber dem medizinischen:
die hier streitige Vorkehr bezweckt nicht die Vermittlung von Schulstoff,
sondern beeinträchtigende Auswirkungen der Invalidität zu beheben (z.B. das
Schreiben zu verbessern). Es geht insbesondere um die Förderung der gestörten
Motorik und Wahrnehmung (wie im erwähnten Urteil R.). Die Fördertherapie ist
ein eigentlicher Lernprozess für den Versicherten (wie im erwähnten Urteil
C.). Es sind Koordinationsübungen vorgesehen wie in BGE 121 V 14 Erw. 4.
Sodann haben die Ausbildungen der Pädagoginnen ihr Schwergewicht weit mehr in
pädagogisch-therapeutischer als in medizinischer Richtung. Ferner ist
zumindest zweifelhaft, ob die Fördertherapie, wenn sie als medizinische
Massnahme gelten würde, dem Erfordernis bewährter wissenschaftlicher
Erkenntnis entspräche und die Gemeinschaftspraxis die entsprechenden
Zulassungsvorschriften erfüllte. Diese Fragen bedürfen jedoch entgegen der
Vorinstanz keiner weiteren Abklärung, da die pädagogisch-therapeutischen
Gesichtspunkte im vorliegenden Fall eindeutig überwiegen und die
Fördertherapie daher nicht als medizinische Massnahme gelten kann. Dass der
Versicherte Ritalin einnimmt, ist als von der Fördertherapie unabhängige
Vorkehr zu sehen, welche den Charakter der Therapie nicht beeinflusst.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 28. April 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Ba-sel-Stadt
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 8. März 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: