Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 425/2003
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I 425/03

Urteil vom 8. April 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Hofer

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, 1990, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch ihren Vater C.________

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 5. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1990 geborene S.________ steht seit August 1998 in psychotherapeutischer
Behandlung von lic. phil. B.________. Am 30. Januar 2001 ersuchte ihr Vater
die Invalidenversicherung um medizinische Massnahmen. Die IV-Stelle des
Kantons Zürich holte daraufhin die Berichte des Schulpsychologischen
Beratungsdienstes im Bezirk H.________ vom 10. Juli 1998 und von Dr. med.
L.________, vom 18. Februar 2001 und 10. April 2001 ein. Mit Verfügung vom 1.
Juni 2001 sprach sie der Versicherten medizinische Massnahmen in Form von
Psychotherapie für die Zeit vom 31. Januar 2000 bis 31. Mai 2002 zu. Das
Gesuch vom 8. Juli 2002 um weitere Kostenübernahme für die Psychotherapie
wies die IV-Stelle nach Beizug des Berichts von Dr. med. L.________ vom 26.
September 2002 mit Verfügung vom 12. November 2002 ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 5. Mai 2003 insofern gut, als es die Sache
zu näheren Abklärungen im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle Aufhebung des
kantonalen Gerichtsentscheids.
Während die Versicherte auf eine Vernehmlassung verzichtet, schliesst das
Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch auf
medizinische Massnahmen im Allgemeinen (Art. 12 Abs. 1 IVG) und bei
nichterwerbstätigen Personen vor vollendetem 20. Altersjahr (Art. 12 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG) im Besonderen sowie die dazu ergangene
Rechtsprechung (BGE 105 V 20; AHI 2003 S. 104 Erw. 2, 2000 S. 64 Erw. 1)
zutreffend dargelegt. Richtig ist auch, dass ATSG und ATSV  auf den hier
streitigen Sachverhalt nicht zur Anwendung kommen (vgl. BGE 127 V 467 Erw. 1,
126 V 136 Erw. 4b). Darauf wird verwiesen.

2.
2.1 Die Vorinstanz hat erwogen, aufgrund der bei den Akten liegenden
medizinischen Berichte bleibe unklar, wie sich das Leiden der Versicherten
auf die künftige Berufsbildung und Erwerbstätigkeit auswirken werde.
Ebenfalls nicht beurteilt werden könne, ob die anbegehrte Psychotherapie
geeignet und notwendig sei, um einen allfällig drohenden Defekt mit seiner
negativen Wirkung ganz oder in wesentlichem Ausmass zu verhindern. Nicht
erstellt sei auch, ob es sich um eine zeitlich begrenzte Vorkehr oder um eine
Dauertherapie handle. Zudem fehle es an einer eindeutigen Diagnose.

2.2 Nach Ansicht der IV-Stelle steht auch ohne ergänzende spezialärztliche
Abklärungen fest, dass die im Jahre 1998 eingeleitete Psychotherapie mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht geeignet ist, einen die Ausbildung
oder Erwerbstätigkeit beeinträchtigenden Defektzustand zu verhindern. Die
Versicherte leide an einem erheblichen intellektuellen Defizit, welches sich
sowohl psychisch (Konzentrationsstörungen, Affektinkontinenz, Angstzustände)
wie auch schulisch auswirke. Obwohl die Therapie in bestimmten Bereichen wie
Kontakt mit Gleichaltrigen, Gebundenheit an die Mutter eine gewisse
Stabilisierung gebracht habe, könnten mit der Psychotherapie die Probleme
nicht behoben werden. Denn wegen der Minderintelligenz würden immer wieder
schulische Schwierigkeiten auftreten, was wiederum depressive Verstimmungen
zur Folge habe. In ähnlicher Weise werde dies auch später bei der beruflichen
Ausbildung und der Ausübung einer Erwerbstätigkeit der Fall sein.

3.
Die Voraussetzungen für die Gewährung von medizinischen Massnahmen an
Minderjährige sind praxisgemäss unter anderem erfüllt bei schweren
psychischen Leiden, sofern nach intensiver fachgerechter Behandlung von einem
Jahr Dauer keine genügende Besserung erzielt wurde und gemäss
spezialärztlicher Feststellung bei einer weiteren Behandlung erwartet werden
darf, dass sich der drohende Defekt mit seinen negativen Wirkungen auf die
Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz oder in wesentlichem Ausmass
verhindern lässt (Rz 645-647/845-847.5 des bundesamtlichen Kreisschreibens
über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen; BGE 105 V 20). Voraussetzung
bleibt, dass die Massnahmen nicht zum Vornherein in den Bereich der
Krankenversicherung fallen wie beispielsweise zeitlich unbegrenzte
medizinische Vorkehren, die der Behandlung des Leidens an sich dienen und
denen somit kein vorübergehender Eingliederungscharakter im Sinne des IVG
zukommt. Handelt es sich nur darum, die Entstehung eines stabilisierten
Zustandes mit Hilfe von Dauertherapie hinauszuschieben oder den
Krankheitszustand zu lindern, liegt keine Heilung oder Verhinderung eines
stabilen Defektes vor (ZAK 1989 S. 452 Erw. 2 mit Hinweisen). Dies gilt auch
für Leiden, die einer Therapie zumindest über längere Zeit hinweg bedürfen,
ohne dass sich eine zuverlässige Prognose stellen lässt (beispielsweise bei
hyperkinetischen Störungen oder Anorexien; AHI 2003 S. 103, 2000 S. 63).

4.
4.1 Dr. med. L.________ diagnostizierte am 18. Februar 2001 eine stark
unterdurchschnittliche Intelligenz und Affektinkontinenz, wobei unklar sei,
ob es sich dabei um ein Geburtsgebrechen handle. Daran hielt sie auch im
Bericht vom 26. September 2002 fest. Dies äussere sich in einem
Rückzugsverhalten, Ängstlichkeit mit zeitweise somatischen Beschwerden und
grossen schulischen Schwierigkeiten. Die behandelnde Psychologin hielt im
Bericht vom 12. Mai 2001 fest, die Versicherte leide unter einem sozialen
Rückzug in der Schule, massiven Kontaktschwierigkeiten mit gleichaltrigen
Kindern, Angstzuständen mit extremer Gebundenheit an die Mutter und grossen
schulischen Lernblockaden. Sie sei unfähig, den Schulstoff altersgemäss zu
bewältigen, habe emotionale Entwicklungsstörungen und sei nicht fähig,
einfache Ereignisse sprachlich in nachvollziehbarer Weise auszudrücken. Nebst
Sonderschulmassnahmen wurde daher eine psychotherapeutische Behandlung in die
Wege geleitet. Obwohl dadurch einige der erwähnten Symptome in den
Hintergrund traten, verblieben die schulischen Schwierigkeiten. Wegen der
damit verbundenen Misserfolgserlebnisse traten immer wieder depressive Phasen
auf. Das Selbstvertrauen hat sich gemäss Bericht von Dr. med. L.________ vom
26. September 2002 in der Zwischenzeit gebessert und auch die sozialen,
psychischen und schulischen Schwierigkeiten seien weniger auffällig als zu
Beginn der Therapie.

4.2 Diesen medizinischen Unterlagen lässt sich entnehmen, dass neben einer
erschwerten Persönlichkeitsentwicklung eine unterdurchschnittliche
Intelligenz vorliegt, wobei sich die beiden Problemkreise gegenseitig
beeinflussen. Bei Misserfolgserlebnissen tauchen sehr schnell Ängste auf,
welche zur Folge haben, dass das aufgebaute Selbstwertgefühl wieder
zusammenbricht und in eine depressive Phase mündet. Die Therapie vermag zwar
die Persönlichkeit etwas zu stärken und die schulischen Probleme zu
verbessern. Da das Leiden der Versicherten von seiner Schwere her offenbar
sogar an ein Geburtsgebrechen grenzt, dürfte es indessen sehr schwierig sein,
an der Intelligenz und damit am schulischen und beruflichen Erfolg etwas zu
ändern. Wie das Bundesamt für Sozialversicherung zutreffend bemerkt, liegt
eine immer wieder auftretende Störung psychoreaktiver Natur vor. Von
Bedeutung sei daher, dass im schulischen und beruflichen Alltag
Überforderungssituationen vermieden würden. Wohl wird durch die
Psychotherapie der Schulbesuch unterstützt. Aufgrund des Krankheitsbildes
steht jedoch eine Behandlung zumindest über eine längere Zeit hinweg in
Frage, wobei sich eine Heilung wegen der Minderintelligenz mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit gar nie vollständig einstellen dürfte. Die Prognose ist
somit ungewiss bis ungünstig. Bei diesen Gegebenheiten ist - ohne dass
ergänzende Abklärungen erforderlich sind - ein Leistungsanspruch aufgrund von
Art. 12 IVG zu verneinen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 5. Mai 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung und zugestellt.

Luzern, 8. April 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: