Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 421/2003
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I 421/03

Urteil vom 2. Dezember 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Amstutz

G.________, 1965, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwältin Susanne Schaffner-Hess, Dornacherstrasse 10, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 12. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 18. Oktober 2002 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
dem 1965 geborenen, bis Ende Februar 2001 vorwiegend als Chemikant tätig
gewesenen G.________ aufgrund einer körperlich und psychisch bedingten
Erwerbsunfähigkeit von 50 % rückwirkend ab 1. August 2001 ein halbe
Invalidenrente zu.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem sinngemässen Antrag auf Zusprechung
einer ganzen Invalidenrente wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
mit Entscheid vom 12. Mai 2003 ab.

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie der Verfügung vom 18.
Oktober 2002 sei ihm ab August 2001 eine ganze Rente zuzusprechen;
eventualiter sei die Streitsache zu weiterer medizinischer und beruflicher
Abklärung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im angefochtenen Entscheid werden die - vor In-Kraft-Treten des
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 am 1. Januar 2003 gültig gewesenen und nach den Regeln
des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts hier
anwendbaren (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b) - Bestimmungen über die
Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG), die
Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 Erw.
2a und b) und die Rechtsprechung zur Bedeutung ärztlicher Berichte und
Gutachten für die Bestimmung des Invaliditätsgrades (BGE 115 V 134 Erw. 2,
114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1) sowie die Grundsätze der Beweiswürdigung
(BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 f. Erw. 1c, je mit Hinweisen) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt das Sozialversicherungsgericht die
Gesetzmässigkeit der angefochtenen Verfügungen in der Regel nach dem
Sachverhalt, der zur Zeit des Verfügungserlasses gegeben war (BGE 121 V 366
Erw. 1b mit Hinweisen). Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert
haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein
(BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine ganze Invalidenrente ab 1.
August 2001.

2.1 Vorinstanz und Verwaltung sind im Wesentlichen gestützt auf das unter
Berücksichtigung der umfassenden Untersuchungsberichte des  Dr. med.
U.________, Facharzt FMH für Rheumatologie und Innere Medizin, vom 23. April
2002 sowie des Dr. med. F.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 25. April 2002 erstellte Gutachten des Ärztlichen
Begutachtungsinstituts X.________ GmbH vom 11. Juni 2002 zum Schluss gelangt,
dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner körperlichen Beeinträchtigungen
(vor allem cervical und lumbal betontes Panvertebralsyndrom sowie
anamnestisch periodenartig auftretende Kopfschmerzen) leichte bis
mittelschwere Tätigkeiten - einschliesslich solche im angestammten
Berufszweig - weiterhin zu 100 % zumutbar sind, die verwertbare
Restarbeitsfähigkeit jedoch im Lichte der limitierenden psychischen
Krankheitsbefunde (gemischte Persönlichkeitsstörung, ICD-10: F61.0;
Somatisierungsstörung, ICD-10: F45.0) nurmehr 50 % beträgt.

2.2 Soweit letztinstanzlich der Einwand mangelhafter Sachverhaltsabklärung
bezüglich der verbleibenden Arbeitsfähigkeit erhoben wird, ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unbegründet. Entgegen dem
beschwerdeführerischen Standpunkt ist namentlich das Unterlassen einer
neurologischen Abklärung nicht als Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes zu
werten. Zwar ist dem Beschwerdeführer aufgrund der Akten darin
beizupflichten, dass ein im Frühjahr 1999 erlittenes Distorsionstrauma der
Halswirbelsäule und allfällige Folgen desselben nicht Gegenstand
eigenständiger Abklärungen der Invalidenversicherung waren und auch die
entsprechenden SUVA-Akten nicht in die Sachverhaltsermittlung miteinbezogen
wurden. Unzutreffend ist jedoch, dass das entsprechende Unfallereignis im
Gutachten des Ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ GmbH vom 11. Juni
2002 unberücksichtigt blieb. Vielmehr wird darauf sowohl im Gesamtbericht des
Ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ GmbH als auch in den Berichten
des Psychiaters Dr. med. F.________ vom 25. April 2002 und des Rheumatologen
Dr. med. U.________ vom 23. April 2002 zuhanden der Begutachtungsstelle
ausdrücklich Bezug genommen (Anamnese) und im Rahmen der "Diagnosen mit
Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit" auf den "Status nach HWS-Distorsionstrauma
bei Heckauffahrkollision im Jahre 2000" (recte: 1999) verwiesen. Insbesondere
den als (Teil-) Folge des Unfalls in Betracht fallenden Kopf- und
Nackenschmerzen wurde bei den Abklärungen umfassend Rechnung getragen. Dass
die zusätzlich - und nebst den angegebenen Rücken-, Magen- und
Oberschenkelbeschwerden - geklagten Beeinträchtigungen wie Nervenanspannung,
Zittern, Schwitzen (trotz Kältegefühl), öfters Appetitlosigkeit sowie
Konzentrationsschwierigkeiten während gelegentlichen depressiven
Stimmungslagen mit einem (durch ein Schleudertrauma verursachten)
neurologischen oder neuropsychologischen Defizit in Zusammenhang stehen,
haben die Gutachter des Ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ GmbH
implizit ausgeschlossen, indem sie - unter Hinweis auf den ihnen vom Hausarzt
zugestellten Bericht des Dr. A.________, Facharzt FMH für Neurologie, vom 31.
August 2001 mit regelrechtem neurologischen Befund sowie Feststellung eines
normalen EEG und Schädel-CT - die Notwendigkeit zusätzlicher neurologischer
Abklärungen ausdrücklich verneinten. Diese Beurteilung durfte die IV-Stelle
ohne Verletzung der Sorgfaltspflicht als schlüssig erachten, nachdem auch im
Untersuchungsbericht des Rheumatologen Dr. med. U.________ vom 23. April 2002
sowie im Bericht der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y.________ vom 14.
November 2000 der neurologische Status als normal beschrieben worden war.
Aus den von der IV-Stelle nachträglich beigezogenen und letztinstanzlich
verfügbaren Akten der SUVA ergibt sich nichts Abweichendes. Es erhellt daraus
ein aus ärztlicher Sicht befriedigender Heilungsverlauf nach dem
Unfallereignis im April 1999 mit 100%iger Arbeitsfähigkeit ab 12. Juli 1999;
ein bleibender Nachteil wurde vom Hausarzt Dr. med. B.________ im kurzen
Bericht vom 23. August 1999 zwar nicht ausgeschlossen, hinsichtlich möglicher
Art und Schwere indessen in keiner Weise näher spezifiziert. Selbst wenn aber
unterstellt würde, dass der Unfall von 1999 zumindest teilursächlich für die
chronisch rezidivierenden Kopfschmerzen und gelegentlich auftauchenden
Konzentrationsstörungen ist (Gedächtnisstörungen oder Schwindelgefühle wurden
vom Beschwerdeführer bis zum massgebenden Verfügungszeitpunkt keine erwähnt),
änderte dies nichts daran, dass sämtliche der subjektiv angegebenen
Beschwerden im abschliessenden Gutachten des Ärztlichen
Begutachtungsinstituts X.________ GmbH Beachtung gefunden haben und bei der
Einschätzung der Restarbeitsfähigkeit in Rechnung gestellt wurden.
Entsprechendes gilt für die "psychischen Veränderungen", welche im
letztinstanzlich eingereichten Bericht Dr. med. E.________, Oberarzt an der
Klinik Y.________ vom 9. Oktober 2003 als indirekte Unfallfolge gewertet
werden. Vor diesem Hintergrund ist unwahrscheinlich, dass die Ergebnisse
einer zusätzlichen neurologischen oder neuropsychologischen Testung, wie Dr.
med. E.________ sie unter Hinweis auf eine bisher nicht "ausreichende
diagnostische Abklärung infolge des Unfalls" empfiehlt, zu einer neuen
objektiven Einschätzung der medizinisch-theoretisch verbleibenden
Arbeitsfähigkeit für den hier zu beurteilenden Zeitraum führen würde, sodass
von Weiterungen abzusehen ist (antizipierte Beweiswürdigung; SVR 2001 IV Nr.
10 S. 28 Erw. 4b; BGE 124n Erw. 4b, 122 V 162 Erw. I./1d, mit Hinweisen).
Soweit der Arzt die Arbeitsunfähigkeit "zur Zeit" auf 100 % einschätzt, muss
dies nach den Grundsätzen über den zeitlich massgebenden Sachverhalt (Erw. 1
hievor) hier unbeachtlich bleiben.

2.3 Nach dem Gesagten ist auf die nach einlässlichen fachmedizinischen
Untersuchungen im Rahmen einer multidisziplinären Konsens-Besprechung am 30.
Mai 2002 erarbeitete, nachvollziehbar und einleuchtend begründete
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit auf insgesamt 50 % abzustellen. Aufgrund
der medizinischen Akten, einschliesslich der psychiatrischen Diagnosen,
spricht nichts dafür, dass die im Rahmen der Selbsteingliederung und
Schadenminderungspflicht verlangte Verwertung des theoretischen
Leistungsvermögens von 50 % vom Beschwerdeführer im massgebenden Zeitraum bis
Verfügungserlass nicht willensmässig erwartet werden konnte und durfte (vgl.
BGE 127 V 299 f. Erw. 5a), sie ihm unter sozialpraktischen Gesichtspunkten
unzumutbar gewesen wäre oder für die Gesellschaft bzw. einen potenziellen
Arbeitgeber gar eine untragbare Belastung bedeutet hätte (vgl. BGE 127 V 297
Erw. 4b/cc und 4c mit Hinweisen). In Würdigung der ärztlichen Stellungnahmen
kann zudem davon ausgegangen werden, dass die (zumutbaren) medizinischen
Behandlungs- und weiteren therapeutischen Möglichkeiten zur Stabilisierung
oder allenfalls Verbesserung der Restarbeitsfähigkeit im Verfügungszeitpunkt
noch nicht vollends ausgeschöpft waren (vgl. BGE 127 V 297 f. Erw. 4b/cc mit
Hinweisen).

3.
3.1 Die Vorinstanz hat das für die Invaliditätsbemessung massgebende
hypothetische Einkommen ohne Gesundheitsschaden (Valideneinkommen) gestützt
auf die Angaben des letzten Arbeitgebers auf Fr. 70'600.- für das Jahr 2001
festgesetzt. Dieser Wert lässt nach Auffassung des Beschwerdeführers die vor
Eintritt der Invalidität jeweils ausgerichteten Gratifikationen ausser Acht
und berücksichtigt die voraussichtlich erzielten Schichtzulagen nicht in
angemessener Höhe; richtigerweise sei für das Jahr 1999 von einem
Valideneinkommen von Fr. 73'457.- auszugehen (und dieser Betrag auf das Jahr
2001 aufzurechnen). Wie es sich mit der Anrechnung der genannten Zulagen
verhält, kann offen gelassen werden. Denn selbst wenn der Argumentation des
Beschwerdeführers gefolgt und für den Zeitpunkt des Rentenbeginns im Jahr
2001 (vgl. BGE 129 V 223 f. Erw. 4.1 und 4.2 [= SVR 2003 IV Nr. 24 S. 73) ein
Valideneinkommen von Fr. 76'345.60 (73'457.- x 1.012 x 1.027 [=
Lohnentwicklung 1999-2001 in der Industrie; siehe Bundesamt für Statistik
(Hrsg.), Lohnentwicklung 2001, Neuenburg 2002, T1.1.93 [Männer], S. 32,
Abschnitt D) angenommen würde, änderte dies nichts am fehlenden Anspruch auf
eine ganze Rente, wie sich aus nachfolgenden Erwägungen ergibt.

3.2 Da der Beschwerdeführer seine verbleibende Arbeitskraft nach ärztlicher
Einschätzung auch im angestammten Berufszweig der Chemieindustrie weiterhin
(mit Einschränkungen) verwerten kann, haben Vorinstanz und Verwaltung das
trotz Gesundheitsschadens zumutbarerweise erzielbare Einkommen
(Invalideneinkommen) dem Arbeitsunfähigkeitsrad entsprechend auf 50 % des
Valideneinkommens festgesetzt. Diesem Vorgehen kann aufgrund der Tatsache,
dass dem Versicherten seine letzte Stelle gekündigt worden ist und er keine
Aussicht auf Wiedereinstellung beim ehemaligen Arbeitgeber hat, nicht
beigepflichtet werden. Da er als Invalider auf den gesamten für Chemikanten
in Frage kommenden Arbeitsmarkt verwiesen wird, ist vielmehr auf die hierfür
massgebenden Tabellenlöhne gemäss den vom Bundesamt für Statistik
herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen (LSE) abzustellen (vgl. BGE 126 V 76
Erw. 3b). Unter Berücksichtigung der 50%igen Arbeitsunfähigkeit ergibt dies
für das Jahr 2001 ein Invalideneinkommen von Fr. 32'161.25 (Fr. 5055.- [LSE
2000/ TA1/ Kat. 24/TOTAL/Männer/Anforderungsniveau 4] x 41.3/40
[betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit in der Chemieindustrie; vgl.
Tabelle B 9.2, in: Die Volkswirtschaft, Heft 12/2002, S. 88] x 1.027 [vgl.
T1.1.93, Abschnitt D, in: Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Lohnentwicklung
2000, S. 32]). Der Umstand, dass der Beschwerdeführer nur teilzeitlich
arbeiten und dabei aufgrund seines Rückenleidens und seiner Körperstatur nur
noch höchstens mittelschwere Tätigkeiten (mit vermehrtem Einschalten von
Pausen) verrichten kann, rechtfertigt es, vom statistisch ermittelten
Durchschnittslohn einen leidensbedingten Abzug von (höchstens) 15 %
vorzunehmen; hingegen sind keine anderweitigen, potenziell
lohnbeeinflussenden Faktoren (Alter, Nationalität/Aufenthaltsstatus,
Dienstjahre) ersichtlich, welche die Gewährung des höchstmöglichen Abzugs von
25 % (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5; AHI 2002 S. 67 ff. Erw. 4) als angemessen
erscheinen liessen (vgl. Art. 132 lit. a und 104 lit. a OG; BGE 123 V 152
Erw. 2). Es resultiert damit ein Invalideneinkommen von Fr. 27'337.06. Dieser
Betrag liegt an der untersten Grenze dessen, was der Versicherte trotz
Gesundheitsschadens verdienen könnte, zumal bei der Wahl des statistischen
Ausgangswertes die vorbestehenden Berufskenntnisse des Beschwerdeführers in
der Chemieindustrie nicht in Rechnung gestellt wurden. Der Vergleich zum
unterstellten Valideneinkommen von Fr. 76'345.60 (vgl. Erw. 2.1 in fine)
ergibt für das Jahr 2001 einen den Anspruch auf eine ganze Rente
ausschliessenden Invaliditätsgrad von rund 64 %, bei welchem es auch im
Verfügungsjahr 2002 blieb.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 2. Dezember 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: