Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 41/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


I 41/03

Urteil vom 8. April 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Schmutz

G.________, 1945, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Petra
Oehmke, Bahnhofplatz 9, 8910 Affoltern am Albis,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 26. November 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1954 geborene G.________ war vom 26. Mai 1999 bis zum 9. August 1999 als
Bauhilfsarbeiter bei der Firma X.________ AG temporär angestellt. Am 25. Juni
1999 stürzte er während der Arbeit rückwärts von einem Lieferwagen. Die
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) verneinte mit Verfügung vom
14. Dezember 1999 mangels Unfallkausalität ihre Leistungspflicht im
Zusammenhang mit den geltend gemachten Rückenbeschwerden. Am 2. Mai 2000
meldete sich G.________ bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des
Kantons Aargau holte Auskünfte der X.________ AG vom 9. Februar 2001 und der
späteren Arbeitgeberin Y.________ GmbH vom 23. Mai 2001 sowie Berichte der
Rheumaklinik des Spitals Q.________ vom 25. Juli 2000 und des behandelnden
Arztes Dr. med. L.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 5. März 2001 ein. Diagostiziert wurden im Wesentlichen
ein chronifiziertes lumbovertebrales Schmerzsyndrom mit spondylogener
Ausstrahlung rechtsseitig sowie eine reaktive Depression, daneben je ein
Status nach chronischem Alkoholismus und nach Spielsucht. Nach dem Bericht
des Spitals Q.________ war der Versicherte zumindest für leichte Arbeiten als
zu 100 % arbeitsfähig zu betrachten, und nach der Stellungnahme des
Psychiaters war es ihm, da der limitierende Faktor für die bisherige
Tätigkeit die verminderte lumbale Belastbarkeit sei, aus psychiatrischer
Sicht zumutbar, vollzeitlich und ohne verminderte Leistungsfähigkeit zu
arbeiten. Mit Verfügung vom 25. September 2001 wies die IV-Stelle das
Leistungsbegehren bei einem Invaliditätsgrad von 10 % ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 26. November 2002 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt G.________ beantragen, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei ihm mit Wirkung ab 1.
Juli 2000 eine ganze, eventuell eine halbe Invalidenrente zuzusprechen;
eventualiter sei eine umfassende interdisziplinäre medizinische Begutachtung
zu veranlassen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen und den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG) sowie die Invaliditätsbemessung
bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28
Abs. 2 IVG) sowie die Rechtsprechung zu den geistigen Gesundheitsschäden (BGE
127 V 298 Erw. 4c in fine; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen), zur
Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4,
115 V 134 Erw. 2, 105 V 158 Erw. 1) und zum Beweiswert ärztlicher Berichte
(BGE 125 V 352 f. Erw. 3 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung eingetretene
Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht
berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

2.
Nach dem für das Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren geltenden Grundsatz
der freien Beweiswürdigung (Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und
132 OG) hat das Gericht die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche
Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das
vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass das Gericht alle Beweismittel,
unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu
entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung
des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf es bei einander
widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne
das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum es auf
die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich
des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die
streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch
die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und
der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des
Experten begründet sind. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich
somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der
eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder
Gutachten. Dennoch hat es die Rechtsprechung mit dem Grundsatz der freien
Beweiswürdigung als vereinbar erachtet, in Bezug auf bestimmte Formen
medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung
aufzustellen (BGE 125 V 352 f. Erw. 3, 122 V 160 f. Erw. 1c, je mit
Hinweisen).

3.
Streitig ist der Grad der Arbeitsfähigkeit in leichten Verweisungstätigkeiten
und die Bestimmung der für den Einkommensvergleich massgebenden
hypothetischen Einkommen.

3.1
3.1.1Zum Einkommensvergleich ist vorab festzustellen, dass Verwaltung und
Vorinstanz bei der Festsetzung des hypothetischen Valideneinkommens zu Recht
auf die Durchschnittswerte der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des
Bundesamtes für Statistik (LSE) zurückgegriffen haben. Wie auf Grund des
Auszuges aus den individuellen Konten des Beschwerdeführers dokumentiert ist,
waren die Einkommensverhältnisse während der Jahre 1986 bis 1998 sehr
unstabil und geprägt von grossen Einkommensschwankungen, häufigen
Arbeitsplatz- und Branchenwechseln und langen Phasen der Arbeitslosigkeit.
Das auf Grund der LSE ermittelte hypothetische Valideneinkommen von Fr.
54'240.- übersteigt jedes vom Beschwerdeführer seit 1986 erzielte
Jahreseinkommen weit, zum Teil gar um ein Mehrfaches. In Anbetracht dessen
ist die Forderung nicht begründet, bemessen auf die knapp zweieinhalb Monate
dauernde Teilzeit-Temporäranstellung bei der X.________ AG (vgl. Schreiben
Z.________ Treuhand AG vom 26. Februar 2001) sogar noch ein höheres
Valideneinkommen (Fr. 59'244.-) zu berücksichtigen.

3.1.2 Bezüglich der Festsetzung des Invalidenlohns ist der Vorinstanz darin
zu folgen, dass hier nicht von einer konkreten beruflich-erwerblichen
Situation ausgegangen werden kann, weil der Beschwerdeführer nach Eintritt
der gesundheitlichen Beeinträchtigung keine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat,
bei der besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben waren (BGE 117 V 18
Erw. 2c/aa; RKUV 1991 Nr. U 130 S. 272 Erw. 4a, je mit Hinweisen), auch wenn
der Beschwerdeführer seine Arbeit bei der Firma Y.________ GmbH laut
Arbeitgeberbericht (vom 23. Mai 2001) bereits am 1. Oktober 2000 aufgenommen
hat, und nicht im Januar 2001 (Vorinstanz) oder im Januar 2000
(Beschwerdeführer). Gegen die Stabilität der Anstellung spricht zudem nicht
nur die damals offenbar bereits länger rechtskräftig verfügte und im Vollzug
ausgesetzte Wegweisung, sondern ebenso der Umstand, dass der Beschwerdeführer
das betreffende Arbeitsverhältnis ebenfalls bereits nach wenigen Monaten
auflöste. Unter diesen Umständen haben Verwaltung und Vorinstanz zu Recht
auch zur Bestimmung des hypothetischen Invalideneinkommens auf die LSE
zurückgegriffen.

3.2 Hingegen erlauben die verfügbaren Unterlagen noch keine zuverlässige
Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches in medizinischer Hinsicht. Auf
Grund der Berichte der behandelnden Psychiater Dres. med. L.________ und
S.________ ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer an einer reaktiven
Depression und möglicherweise an einer somatoformen
Schmerzverarbeitungsstörung leidet, welche nach Darstellung beider Ärzte in
leichten Tätigkeiten eine 50-prozentige Arbeitsunfähigkeit bewirkt. Dabei ist
zu berücksichtigen, dass die Beweisfrage vorliegend speziell gelagert ist,
weil es im Wesentlichen gerade nicht wie sonst die Regel darum geht, einander
widersprechende medizinische Berichte objektiv zu prüfen und dann zu
entscheiden (und die Gründe dafür anzugeben), warum auf die eine und nicht
auf die andere medizinische These abzustellen ist; es liegen hier nicht
Berichte verschiedener Psychiater vor, die einander widersprechen, sondern
der Psychiater Dr. med. L.________ hat am 15. November 2001 seinen ersten
Bericht vom 5. März 2001 in einem zentralen und wesentlichen Punkt widerrufen
und es damit begründet, er sei bei seiner Berichterstattung missinterpretiert
worden. Zwar hat die Vorinstanz zu Recht festgestellt, dass die Aussagen des
Arztes im Bericht vom 5. März 2001 ihrer Eindeutigkeit wegen gar nicht falsch
interpretiert werden konnten. Es ist aber nicht untersucht worden
(beispielsweise durch Zeugeneinvernahme), warum der Arzt seine Einschätzung
innerhalb des halben Jahres zwischen der Berichterstattung und dem Widerruf
so grundsätzlich revidierte. Seine Darstellung, er sei bei der Beantwortung
der Fragen im IV-Arztbericht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer aus
somatischer Sicht bereits zu 50 % arbeitsunfähig sei, und habe mit seinen
Angaben ausdrücken wollen, dass aus psychiatrischer Sicht keine zusätzliche
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bestehe, ist ohne nähere Abklärungen nicht
ohne weiteres von der Hand zu weisen. Schliesslich hat ja auch der nach Dr.
med. L.________ die Behandlung fortsetzende Psychiater Dr. med. S.________
das Bestehen einer 50-prozentigen Arbeitsunfähigkeit attestiert (Zeugnis vom
22. März 2002), und es ist bisher kein psychiatrisches Gutachten erstellt
worden, dass die Einschätzungen der beiden behandelnden Ärzte widerlegt hat.
Angesichts dessen waren die Voraussetzungen für eine antizipierte
Beweiswürdigung durch die Vorinstanz nicht erfüllt (vgl. dazu Kieser, Das
Verwaltungsverfahren in der Sozialversicherung, S. 212, Rz 450; Kölz/Häner,
Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., S. 39,
Rz 111 und S. 117, Rz 320; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S.
274; vgl. auch BGE 122 II 469 Erw. 4a, 122 III 223 Erw. 3c, 120 Ib 229 Erw.
2b, 119 V 344 Erw. 3c mit Hinweis). In medizinischer Hinsicht nicht
untersucht wurde zudem, mit welcher Begründung der behandelnde Arzt Dr. med.
M.________, Spezialarzt FMH für innere Medizin, speziell Rheumatologie, dem
Beschwerdeführer für die Jahre 1999 bis 2001 regelmässig aus
rheumatologischer Sicht eine 50- bis 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit
bestätigte; dieser Arzt wurde bislang nie zur Berichterstattung eingeladen.

4.
Entgegen der vorinstanzlichen Erwägung verspricht vor dem gezeigten
Hintergrund eine interdisziplinäre Begutachtung neue relevante Erkenntnisse.
Dazu ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, welche unter Gewährung
des rechtlichen Gehörs das Gutachten veranlassen und hernach erneut über den
Leistungsanspruch des Beschwerdeführers befinden wird. Bei der Abfassung des
Gutachtens wird auch in Betracht zu ziehen sein, dass das Eidgenössische
Versicherungsgericht in dem im vorinstanzlichen Entscheid zitierten BGE 127 V
299 Erw. 5 unter Hinweis auf die Rechtsprechung präzisierend festgehalten
hat, dass Art. 4 Abs. 1 IVG zu Erwerbsunfähigkeit führende Gesundheitsschäden
versichert, worunter soziokulturelle Umstände nicht zu begreifen sind. Es
braucht in jedem Fall zur Annahme einer Invalidität ein medizinisches
Substrat, das (fach)ärztlicherseits schlüssig festgestellt wird und
nachgewiesenermassen die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wesentlich
beeinträchtigt. Je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im
Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen,
desto ausgeprägter muss eine fachärztlich festgestellte psychische Störung
von Krankheitswert vorhanden sein. Das bedeutet, dass das klinische
Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen, welche von den belastenden
soziokulturellen Faktoren herrühren, bestehen darf, sondern davon
psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen hat, zum Beispiel eine
von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde
Depression im fachmedizinischen Sinne oder einen damit vergleichbaren
psychischen Leidenszustand. Solche von der soziokulturellen
Belastungssituation zu unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte
psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
sind unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann. Wo
der Gutachter dagegen im Wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den
psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung
finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer
Gesundheitsschaden gegeben (vgl. AHI 2000 S. 153 Erw. 3). Ist anderseits eine
psychische Störung von Krankheitswert schlüssig erstellt, kommt der Frage
zentrale Bedeutung zu, ob und inwiefern, allenfalls bei geeigneter
therapeutischer Behandlung, von der versicherten Person trotz des Leidens
willensmässig erwartet werden kann zu arbeiten (eventuell in einem
geschützten Rahmen; vgl. Praxis 1997 Nr. 49 S. 255 Erw. 4b) und einem Erwerb
nachzugehen (vgl. Hans-Jakob Mosimann, Somatoforme Störungen: Gerichte und
[psychiatrische] Gutachten, in: SZS 1999 S. 1 ff. und 105 ff., insbes. S. 15
ff. mit zahlreichen Hinweisen auf die neuere medizinische Lehre; ferner
Jacques Meine, L'expertise médicale en Suisse: satisfait-elle aux exigences
de qualité actuelles? in: SVZ 1999 S. 37 ff.).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der
angefochtene Entscheid vom 26. November 2002 aufgehoben und die Sache an das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit es nach
Aktenergänzungen im Sinne der Erwägungen über die Beschwerde gegen die
Ablehnungsverfügung vom 25. September 2001 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 8. April 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: