Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 3/2003
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I 3/03

Urteil vom 23. September 2003
II. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard;
Gerichtsschreiberin Schüpfer

N.________, 1955, Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 2. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
N. ________, geboren 1955, wurde in seiner kroatischen Heimat als Kellner
ausgebildet und arbeitete seit 1985 als Servicefachangestellter - zuletzt
Chef de Service - in der Schweiz. In den Jahren 1991 und 1995 musste er sich
einer Diskektomie L4/L5 und L5/S1 und im September 2000 einer Rediskektomie
L4/L5 links unterziehen. In der Folge gelangte er mit dem Ersuchen um
Berufsberatung, Umschulung und Rente an die Eidgenössische
Invalidenversicherung (Anmeldung vom 12. September 2001). Die IV-Stelle Bern
zog Arztberichte von Dr. med. H.________, Spezialarzt FMH Neurochirurgie,
Klinik X.________, vom 30. Oktober 2001 und von Dr. med. W.________,
Allgemeinmedizin FMH, vom 7. November 2001 sowie Auskünfte des Arbeitgebers
bei. Sodann liess sie den Versicherten durch Dr. med. L.________,
Spezialärztin FMH für Neurochirurgie, begutachten (Bericht vom 19. April
2002). Aufgrund der gutachterlichen Ausführungen gelangte die IV-Stelle zur
Überzeugung, N.________ erleide durch seine beeinträchtigte Gesundheit eine
Erwerbseinbusse von Fr. 23'255.-, was einem Invaliditätsgrad von 41 %
entspreche. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach die IV-Stelle
dem Versicherten ab 1. August 2001 eine Viertelsrente nebst Zusatzrenten für
seine Ehefrau und eine Tochter zu (Verfügungen vom 1., 10. und 22. Juli
2002).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 2. Dezember 2002 ab.

C.
N.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde, beantragt eine höhere
Invalidenrente und ersucht sinngemäss um eine Verfügung über seinen Anspruch
auf Umschulung.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

D.
Mit Schreiben vom 22. August 2003 machte die Instruktionsrichterin N.________
darauf aufmerksam, dass möglicherweise vor dem Entscheid über den
Rentenanspruch über berufliche Massnahmen zu befinden sein wird und machte
ihn auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen aufmerksam. Der
Beschwerdeführer nahm dazu am 28. August 2003 Stellung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidgenössische Versicherungsgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne
von Art. 97, 98 lit. b - h und 98a OG auf dem Gebiet der Sozialversicherung.
Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur
Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige
Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung
genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den beschwerdeweise
weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es an einem
Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und
insoweit keine Verfügung ergangen ist (BGE 125 V 414 Erw. 1a, 119 Ib 36 Erw.
1b, je mit Hinweisen).

1.2 Die Frage nach der Festlegung des Anfechtungsgegenstandes beurteilt sich
nicht ausschliesslich auf Grund des effektiven Inhalts der Verfügung. Wohl
bilden zunächst diejenigen Rechtsverhältnisse Teil des
Anfechtungsgegenstandes, über welche die Verwaltung in der Verfügung
tatsächlich eine Anordnung getroffen hat. Zum beschwerdeweise anfechtbaren
Verfügungsgegenstand gehören aber - in zweiter Linie - auch jene
Rechtsverhältnisse, hinsichtlich deren es die Verwaltung zu Unrecht
unterlassen hat, verfügungsweise zu befinden. Dies ergibt sich aus dem
Untersuchungsgrundsatz und dem Prinzip der Rechtsanwendung von Amtes wegen,
welche für das gesamte Administrativverfahren der Invalidenversicherung
massgeblich sind (BGE 116 V 26 Erw. 3c mit Hinweis). Nach der Rechtsprechung
wahrt die versicherte Person mit der Anmeldung alle nach den Umständen
vernünftigerweise in Betracht fallenden Leistungsansprüche. Die
Abklärungspflicht der IV-Stelle erstreckt sich auf die nach dem Sachverhalt
und der Aktenlage im Bereich des Möglichen liegenden Leistungen. Insoweit
trifft sie auch eine Beschlusses- bzw. Verfügungspflicht (BGE 111 V 264 Erw.
3b).

2.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat die massgebenden Bestimmungen
über die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1
IVG) und die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten
nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 104 V 136 Erw.
2a und b; vgl. auch BGE 128 V 30 Erw. 1) zutreffend dargelegt. Entsprechendes
gilt für die Erwägungen zur Bedeutung ärztlicher Berichte und Gutachten für
die Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4) und die Grundsätze der
Beweiswürdigung (BGE 125 V 352). Darauf kann verwiesen werden.

Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 22. Juli 2001)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw.
1.2).

3.
Streitig ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf berufliche Massnahmen der
Invalidenversicherung und die Höhe seines Invaliditätsgrades und damit seines
Rentenanspruchs.

Zu prüfen ist zunächst, ob die vorhandenen medizinischen Akten eine
Beurteilung dieser Rechtsfragen zulassen oder ob es weiterer Abklärungen des
rechtserheblichen Sachverhalts bedarf.

3.1 IV-Stelle und Vorinstanz stützen ihre Entscheidung auf das Gutachten der
Neurochirurgin Dr. L.________ vom 19. April 2002. Demnach wird die bisherige
Tätigkeit des Beschwerdeführers als Kellner wegen seiner ausgeprägten
degenerativen Veränderungen im unteren Bereich der Lendenwirbelsäule,
insbesondere der chronisch-erosiven Osteochondrose L4/5 und L5/S1, weitgehend
verunmöglicht. Die Ärztin erachtet Arbeiten, bei welchen nur gelegentliches
Heben oder Tragen von Gewichten bis 10 kg in gerader Rückenstellung und nur
eine sehr kurze Stehdauer an Ort und Stelle verlangt wird, sowie das Sitzen
jeweils nach einer Stunde unterbrochen werden kann, als während sechs Stunden
am Tag für zumutbar. Unter Berücksichtigung von vermehrten Pausen schätzte
sie die Arbeitsfähigkeit an einer solchermassen geeigneten Arbeitsstelle auf
60 %.

3.2 Es gibt keinerlei Anhaltspunkte oder der gutachterlichen Beurteilung
widersprechende weitere Arztzeugnisse, welche an der Befunderhebung und den
daraus gezogenen Schlussfolgerungen der Expertin Zweifel erwecken würden. Den
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Gutachten erhobenen Einwänden,
insbesondere dem Argument, der Beschwerdeführer könne keinesfalls während
sechs Stunden arbeiten, nachdem ihn die am bisherigen Arbeitsplatz erbrachten
zwei Stunden schon bis an die Grenze belasten würden, ist entgegenzuhalten,
dass auch Dr. med. L.________ davon ausgeht, die bisherige Tätigkeit sei ihm
nicht mehr zumutbar. Die sich aus dem Gutachten ergebende Arbeitsfähigkeit
von sechs Stunden täglich (minus 15 % für zusätzliche Pausen) bezieht sich
ausschliesslich auf eine wechselbelastende Tätigkeit ohne Zwangshaltungen und
gerade nicht auf die Arbeit eines Kellners oder Chefs de Service. Mit der
Vorinstanz ist festzustellen, dass das strittige Gutachten die gemäss
Rechtsprechung (BGE 125 V 352 Erw. 3a) notwendigen Kriterien für ein
umfassendes ärztliches Zeugnis erfüllt, und dass die Schlussfolgerungen
begründet und nachvollziehbar sind, sodass darauf abzustellen ist.

4.
4.1 Für die Bemessung der Invalidität wird gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG das
Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach
Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare
Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung
gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid
geworden wäre. Diese Bestimmung beinhaltet damit den materiellrechtlichen
Grundsatz "Eingliederung vor Rente". Ohne dass zumindest geprüft wird, ob für
einen Versicherten Eingliederungsmassnahmen in Frage kommen, kann somit gar
kein Einkommensvergleich durchgeführt werden. Dies gilt zumindest dann, wenn
von einem hypothetischen Invalideneinkommen ausgegangen wird.

4.2 In seinem Antrag auf Versicherungsleistungen hat der Beschwerdeführer
ausdrücklich um Berufsberatung und Umschulung ersucht. Wie den Akten zu
entnehmen ist, hat die IV-Stelle keinerlei Aktivitäten hinsichtlich
irgendwelcher beruflicher Massnahmen unternommen. Sie hat es schliesslich
auch unterlassen, über einen entsprechenden Anspruch des Beschwerdeführers zu
verfügen. Dieses Verhalten stellt eine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes dar und wird letztinstanzlich ausdrücklich und zu
Recht gerügt. Das gilt umso mehr, als es sich beim Beschwerdeführer um einen
Versicherten mit Berufsabschluss handelt, der sich trotz erheblichen
Beschwerden selbst um eine Wiedereingliederung ins Berufsleben bemüht hat. Da
es - wie dargelegt - in den Akten mangels Berufsberatung an jeglichen
Anhaltspunkten fehlt, welche es dem Gericht in Erweiterung des Anfechtungs-
und Streitgegenstandes ermöglichen würden, die Anspruchsberechtigung auf
irgendwelche berufliche Eingliederungsmassnahmen hin zu prüfen, ist die Sache
in Aufhebung der angefochtenen Verfügung zur Durchführung von beruflichen
Massnahmen (Berufsberatung, eventuell Umschulung oder Arbeitsvermittlung) an
die Verwaltung zurückzuweisen. Erst danach wird sie neu über den Anspruch auf
eine Invalidenrente zu verfügen haben.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der angefochtene
Entscheid vom 2. Dezember 2002 und die Verfügung vom 22. Juli 2001
aufgehoben, und die Sache wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, der
Ausgleichskasse Gastrosuisse und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 23. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der II. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: