Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 390/2003
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I 390/03

Urteil vom 16. Dezember 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Hochuli

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdeführerin,

gegen

1.  B.________
2.  Helsana Versicherungen AG,  Birmensdorferstrasse 94, 8003 Zürich,
 Beschwerdegegner

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 10. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1945 geborene, seit 1985 als Vollzugsangestellter in der Strafanstalt
X.________ (nachfolgend: Arbeitgeberin) arbeitende B.________ meldete sich am
24. April 2001 wegen beidseitigem grauem Star bei der IV-Stelle des Kantons
Solothurn (nachfolgend: IV-Stelle oder Beschwerdeführerin) zum Leistungsbezug
an. Die Kataraktoperationen erfolgten am 2. April (linkes Auge) und 28. Mai
2001 (rechtes Auge). Die Invalidenversicherung übernahm die Staroperation am
linken Auge einschliesslich Nachbehandlung als medizinische
Eingliederungsmassnahme (Verfügung vom 27. Juli 2001) und lehnte auf erneutes
Leistungsgesuch hin mit Verfügung vom 28. August 2001 die Übernahme desselben
Eingriffs am rechten Auge zu Lasten der Invalidenversicherung ab, weil der
Versicherte in seinem Beruf nicht auf Binokularsehen angewiesen sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der HELSANA Versicherungen AG (nachfolgend:
HELSANA; obligatorische Krankenpflegeversicherung des B.________) hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 10. April 2003
in dem Sinne gut, als es die Verwaltungsverfügung aufhob und die Sache zu
ergänzenden Abklärungen sowie zur anschliessenden Neuverfügung über das
Leistungsgesuch betreffend die Staroperation am rechten Auge an die IV-Stelle
zurückwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle unter Auflage
diverser Stellenbeschriebe zu verschiedenen Einsatzarten von
Vollzugsangestellten in der Strafanstalt X._________ sowie eines Berichts des
die IV-Stelle beratenden Arztes Dr. med. H.________ die Aufhebung des
kantonalen Entscheids.

Während das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichten die HELSANA und
B.________ auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Voraussetzungen des
Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und
den Anspruch auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG)
zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Wesentlichkeit
(BGE 115 V 199 Erw. 5a und 200 Erw. 5c mit Hinweisen; vgl. auch BGE 122 V 80
Erw. 3b/cc) und Dauerhaftigkeit des voraussichtlichen Eingliederungserfolgs
der medizinischen Vorkehr (BGE 101 V 50 Erw. 3b mit Hinweisen; AHI 2000 S.
298 f. Erw. 1b und c mit Hinweisen) sowie dazu, dass die Übernahme der
Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12
Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

Gestützt auf AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4b ist zudem festzuhalten, dass eine
Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener Sehfähigkeit des anderen Auges
nur dann von der Invalidenversicherung übernommen werden kann, wenn der
Defekt die versicherte Person dermassen in der Ausübung ihrer
Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des Eingriffs die
Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 VG namentlich bezweckt, die
Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen
Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese
Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder
einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den
Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 81 Erw.
1, 102 V 41 f.).
1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in
Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: vom 28. August 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE
121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Fest steht, dass bei B.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde
vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b,
97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen).
Unbestritten ist ferner, dass das Alter des Versicherten - er befand sich im
massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (28. August 2001) in seinem 57.
Lebensjahr - der Übernahme der Kataraktoperation vom 28. Mai 2001 durch die
Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des zu
erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegensteht (BGE 101 V 50 Erw.
3b).

3.
Das kantonale Gericht gelangte zur Auffassung, in Bezug auf die konkreten
beruflichen Verhältnisse beim Versicherten lasse sich abgesehen von
Parteiaussagen den Akten nichts entnehmen. Zwar sei davon auszugehen, dass
bei ihm - angesichts fehlender Absenzen am Arbeitsplatz vor der Operation -
noch keine Invalidität eingetreten sei. Allerdings lasse sich die
Qualifikation der IV-Stelle, wonach binokulares Sehen für die Tätigkeit eines
Vollzugsangestellten nicht erforderlich sei, nicht nachvollziehen. Eine
künftige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit habe ohne Durchführung der
Staroperation am rechten Auge nicht ausgeschlossen werden können, weil unklar
geblieben sei, ob der Versicherte zur Ausübung seiner Arbeitstätigkeit
Binokularsehen benötige. Dafür spreche immerhin die Tatsache, dass ihm der
behandelnde Augenarzt Dr. med. G.________ mit Berichten vom 14. Mai und 22.
Oktober 2001 attestiert habe, die Arbeitsfähigkeit könne durch medizinische
Massnahmen verbessert werden. Gleichzeitig lasse sich diesen Berichten unter
"angegebene Beschwerden" entnehmen, dass der Versicherte Mühe bei der Arbeit,
im Strassenverkehr und beim Lesen der Zeitung gehabt habe. Indes fehle eine
fachärztliche Beurteilung dieser Aussagen bzw. der Frage, ob beidseitiges
Sehen für seine Berufsausübung erforderlich sei. Dagegen macht die IV-Stelle
geltend, eine Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu weiteren Abklärungen
sei nicht notwendig. Nach der Übernahme der linksseitigen Staroperation habe
der Visus auf diesem Auge 1,0 betragen. Entgegen der Vorinstanz bedinge die
Bildschirmtätigkeit, welche auch zu den Aufgaben eines Vollzugsangestellten
gehöre, kein Binokularsehen, weil zur Erfassung von zweidimensionalen
Darstellungen am Bildschirm kein räumliches Sehvermögen erforderlich sei. Im
Weiteren habe sich ein Vollzugsangestellter gemäss den eingeforderten und mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichten Stellenbeschrieben der
Strafanstalt X.________ mit der Personenüberwachung im Gefängnisbereich, dem
Rapportwesen, der Bedienung von Funkgeräten und der Suche nach allfälligen
Fluchtgegenständen oder Hinweisen auf Fluchtvorbereitungshandlungen zu
befassen. Auch für diese Tätigkeiten sei kein Binokularsehen erforderlich,
wie Dr. med. H.________ mit Bericht vom 12. Mai 2003 bestätige. Dieser Arzt
weise zudem darauf hin, dass zur Ausübung des Berufes eines
Vollzugsangestellten keine ungestörte Farbwahrnehmung notwendig sei und auch
allfällige Beeinträchtigungen durch Blendeffekte mit einfachen Massnahmen
(z.B. Schutzbrille) eliminiert werden könnten.

Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit des Versicherten beantwortet werden kann.

3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung
zur Übernahme der Kataraktoperation am zweiten Auge (vgl. AHI 2000 S. 294) im
Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend, dass die Staroperation am
zweiten Auge (nach erfolgter Übernahme am ersten Auge) - bei Erfüllung der
übrigen Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische
Eingliederungsmassnahme durch die Invalidenversicherung zu übernehmen ist,
wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im Rahmen des
ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser Tätigkeiten die
Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht bejaht wird. In
denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische Mindestanforderungen an
die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf diese Visusgrenzwerte
abzustellen, sodass sich in erwerblicher Hinsicht eine detaillierte
Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.

3.2 Das Tätigkeitsspektrum des Versicherten ergibt sich aus den von der
Beschwerdeführerin mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichten,
umfassenden und ausführlichen Stellenbeschrieben der  Strafanstalt X.________
zu den einzelnen Diensteinsätzen von Vollzugsangestellten. Darauf ist
abzustellen.

3.3 Im Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht entschieden, dass es dem Facharzt obliege, in Bezug auf
das ermittelte Tätigkeitsspektrum des Versicherten zu beurteilen, ob er in
der visuell anspruchsvollsten dieser Tätigkeiten auf Binokularsehen
angewiesen ist. Dabei genügt das alleinige Abstellen auf subjektive Angaben
des Versicherten nicht. Entscheidend ist, dass der Bericht für die streitigen
Belange umfassend ist, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben wird und der konkreten
medizinischen Situation Rechnung trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353 Erw. 3a).
Soweit der einseitige Ausfall der Sehfähigkeit durch Angewöhnung an den
Verlust des stereoskopischen Sehens zumutbarerweise kompensiert werden kann
(vgl. z.B. die viermonatige Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in der
Führerausweis-Kategorie B gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober 1976
über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR
741.51]), hat dies der Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu
Stellung zu nehmen. Neben den bereits bisher fachärztlich zu beantwortenden
Fragen nach allenfalls vorhandenen erheblichen ophtalmologischen
Nebenbefunden, anderen eventuell bekannten nicht ophtalmologischen
Erkrankungen und gegebenenfalls notwendig gewesenen optischen Hilfsmitteln,
wird der Augenarzt inskünftig demnach zusätzlich die Fragen zu den
Anforderungen an das stereoskopische Sehen, zur Angewöhnung, zu den
Auswirkungen von störenden Blendeffekten - insbesondere bei der Arbeit am
Bildschirm - und zur Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit beantworten
müssen. Erfolgt die augenärztliche Beurteilung dieser Fragen erst nach
bereits durchgeführter Operation, sind sie medizinisch prognostisch aufgrund
der Verhältnisse vor der fraglichen Operation (AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit
Hinweisen) zu beantworten, wobei es zur Aufgabe des Arztes oder der Ärztin
gehört, dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher
Tätigkeiten die versicherte Person ohne die am 28. Mai 2001 durchgeführte
Staroperation am rechten Auge arbeitsunfähig geworden wäre (vgl. BGE 125 V
261 Erw. 4 mit Hinweisen).

3.4 Der von der Beschwerdeführerin aufgelegte Bericht des Dr. med.
H.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, genügt den dargelegten
Anforderungen an die medizinische Beurteilung der Notwendigkeit des
Binokularsehens nicht. Dieser Arzt verfügt entgegen den im erwähnten Urteil
(Erw. 3.3 hievor) genannten Voraussetzungen nicht über das Fachwissen eines
Augenarztes, weshalb nicht auf die Angaben in seinem Bericht vom 12. Mai 2003
abzustellen ist. Da auch der behandelnde Augenarzt, welcher die rechtsseitige
Staroperation sinngemäss als eine von der Invalidenversicherung zu
übernehmende medizinische Eingliederungsmassnahme zur Verbesserung der
Arbeitsfähigkeit qualifizierte, nicht zu den erforderlichen Aspekten der
Notwendigkeit des Binokularsehens (Erw. 3.3 hievor) Stellung nahm, können
auch seinen Ausführungen keine massgebenden Erkenntnisse zur Beantwortung der
hier entscheidenden Frage entnommen werden.

3.5 Fehlt es an den erforderlichen Grundlagen zur Beantwortung der Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit des Versicherten (vgl. Erw. 3.2 hievor), ist nicht zu beanstanden,
dass das kantonale Gericht die Verwaltungsverfügung aufhob und die Sache zu
ergänzenden medizinischen Abklärungen an die IV-Stelle zurückwies. Die
Verwaltung wird dabei nach den Erwägungen Ziffer 3.1 bis 3.5 vorgehen und
anschliessend über das Leistungsgesuch betreffend die Kataraktoperation am
rechten Auge vom 28. Mai 2001 neu verfügen.

4.
Nach Art. 134 OG darf das Eidgenössische Versicherungsgericht im
Beschwerdeverfahren über die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen den Parteien in der Regel keine Verfahrenskosten
auferlegen. Diese Bestimmung wurde vom Gesetzgeber vor allem im Interesse der
Versicherten geschaffen, die mit einem Sozialversicherer im Streit stehen
(BGE 126 V 192 Erw. 6). Rechtsprechungsgemäss findet der Grundsatz der
Unentgeltlichkeit des Verfahrens vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
keine Anwendung, wenn sich zwei Unfallversicherer (BGE 120 V 494 Erw. 3, 119
V 223 Erw. 4c), eine Krankenkasse und ein Unfallversicherer (BGE 126 V 192
Erw. 6, AHI 1998 S. 110), die Invalidenversicherung und der Unfallversicherer
(AHI 2000 S. 206 Erw. 2) oder die Krankenkasse und die Invalidenversicherung
(Urteil L. vom 28. November 2002, I 92/02) über ihre Leistungspflicht für
einen gemeinsamen Versicherten streiten. Folglich hat die IV-Stelle als
unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 135 in Verbindung mit
Art. 156 Abs. 1 und 3 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der IV-Stelle des Kantons Solothurn
auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Aarau, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: