Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 375/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


I 375/03

Urteil vom 30. Juli 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Fessler

B.________, 1958, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecherin Ursula
Lempen-Wegelin, Bahnhofstrasse 8, 3123 Belp,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 19. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 30. Mai 2001 verneinte die IV-Stelle Bern den Anspruch der
1958 geborenen B.________ auf eine Rente der Invalidenversicherung.

B.
Die von B.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern nach Vernehmlassung der IV-Stelle mit Entscheid vom 19.
April 2003 ab.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem hauptsächlichen
Rechtsbegehren, es sei ihr ab 1. September 1997 eine ganze Invalidenrente
zuzusprechen. Im Weitern ersucht sie um unentgeltliche Verbeiständung.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung keine Vernehmlassung einreicht.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat für die Beurteilung des streitigen Anspruchs auf
eine Rente der Invalidenversicherung auf die tatsächlichen Verhältnisse sowie
die Rechtslage im Zeitpunkt der Verfügung vom 30. Mai 2001 abgestellt. Das
ist richtig (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). Insbesondere ist das
am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vorliegend nicht
anwendbar.

Die Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der Streitsache, insbesondere die
Grundsätze zur Bestimmung des Status von im Haushalt tätigen Versicherten als
Voll-, Nicht- oder Teilerwerbstätige, was je zur Anwendung einer anderen
Methode der Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich, Betätigungsvergleich,
gemischte Methode) führt (BGE 125 V 150 Erw. 2c mit Hinweisen), werden im
angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Das kantonale Gericht hat in Anwendung der gemischten Methode einen
Invaliditätsgrad von höchstens 34,5 % (0,5 x 50 % + 0,5 x 19 %) ermittelt,
was keinen Anspruch auf eine Invalidenrente gibt (Art. 28 Abs. 1 IVG). Dabei
entspricht 0,5 (= 50 %/100 %) dem zeitlichen Umfang gemessen an einem
Normalarbeitspensum, in welchem die Versicherte ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung als Krankenschwester erwerbstätig wäre (vgl. BGE 125 V 149
Erw. 2b). 50 % beträgt die Einschränkung im erwerblichen Bereich und 19 % die
Behinderung im Haushalt.

Die IV-Stelle hatte einen Invaliditätsgrad von 9,5 % (0,5 x 0 % + 0,5 x 19 %)
ermittelt (Verfügung vom 30. Mai 2001).

3.
Von den Bemessungsfaktoren sind einzig der Anteil der Erwerbstätigkeit resp.
der Status als ohne gesundheitliche Beeinträchtigung teilerwerbstätige
Hausfrau sowie die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit umstritten. Die von der
IV-Stelle ermittelte und von der Vorinstanz bestätigte Behinderung in der
Haushaltführung ist nicht angefochten. Es besteht aufgrund der Akten kein
Anlass, auf diesen Punkt näher einzugehen (BGE 125 V 415 Erw. 1b sowie 417
oben).

3.1
3.1.1Zur Statusfrage hat das kantonale Gericht erwogen, die Versicherte habe
ab August 1995 bis zum Verkehrsunfall vom 18. Oktober 1996 durchschnittlich
zu 40 % als Krankenschwester im Blutspendedienst Y.________gearbeitet. Diese
Tätigkeit würde sie nach eigenen Angaben auch ohne Gesundheitsschaden
weiterhin ausüben. Aufgrund der seit August 1999 geringeren Alimente für sich
und ihre beiden Kinder von monatlich Fr. 2133.- hätte sie zur Deckung ihres
Einkommensbedarfs von Fr. 5000.- das Arbeitspensum entsprechend erhöht. Bei
einem durchschnittlichen Einkommen als Krankenschwester am Spital X.________
von Fr. 36'400.- (13 x Fr. 2800.-) ergebe sich ein Beschäftigungsgrad von 50
%. Ein höheres Arbeitspensum sei unter Würdigung der gesamten Umstände zu
verneinen.

3.1.2 Dagegen wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht eingewendet,
die Vorinstanz lasse unberücksichtigt, dass gemäss Ziff. 6 der
Ehescheidungskonvention vom 17. Juni 1999 der Unterhaltsbeitrag nicht fix Fr.
2113.- betrage, sondern sich proportional zum eigenen Einkommen (um die
Hälfte der Fr. 1900.- übersteigenden Summe) reduziere. Abgesehen davon kann
für die Ermittlung des zur Deckung des Einkommensbedarfs notwendigen
Arbeitspensums im Gesundheitsfall nicht ohne weiteres auf die
Lohnverhältnisse von Krankenschwestern am Spital X.________ abgestellt
werden. Bei Annahme, die Versicherte würde ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung als Krankenschwester im Blutspendedienst
Y._________arbeiten, wäre an sich folgerichtig auf die Verdienstverhältnisse
in dieser konkreten Anstellung abzustellen. Gemäss «Abklärungsbericht
Haushalt» vom 2. September 1999 ergäbe sich diesfalls ein hypothetisches
Arbeitspensum von 53 %.

Unter Berücksichtigung der Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ist von einer ohne gesundheitliche Beeinträchtigung im zeitlichen Umfang von
60 % ausgeübten Erwerbstätigkeit auszugehen. Ein höherer Anteil der
Erwerbstätigkeit von 0,6 (60 %/100 %) ist bis zum massgebenden Zeitpunkt der
Verfügung vom 30. Mai 2001 (Erw. 1) nicht wahrscheinlich. Die beiden Kinder
standen damals noch im schulpflichtigen Alter. Dass und wie deren Betreuung
während der geltend gemachten Vollerwerbstätigkeit gewährleistet gewesen
wäre, wird nicht gesagt.

3.2
3.2.1Die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit hat das kantonale Gericht bezogen
auf den Beruf der Versicherten als Krankenschwester bestimmt. Das
widerspricht Bundesrecht. Die praxisgemässen Voraussetzungen für ein solches
Vorgehen sind hier nicht erfüllt sind (vgl. BGE 126 V 76 Erw. 3b/aa). Die
Beschwerdeführerin hatte nach dem Unfall vom 18. Oktober 1996 die Arbeit im
Zentrallaboratorium Blutspendedienst nicht mehr aufgenommen. Es kommt dazu,
dass das Valideneinkommen nicht auf der Grundlage des zuletzt tatsächlich
erzielten Verdienstes ermittelt werden kann. Gemäss «Fragebogen für den
Arbeitgeber» vom 18. Mai 1998 wäre das Arbeitsverhältnis wegen
Umstrukturierung auf Ende Februar 1998 aufgehoben worden. Aus hier nicht
weiter interessierenden Gründen erfolgte die Kündigung erst auf Ende Juni
1998.

3.2.2 Das ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielte Einkommen ist daher
ebenso wie das Invalideneinkommen grundsätzlich nach Massgabe statistischer
Durchschnittslöhne zu ermitteln (vgl. AHI 1999 S. 240 Erw. 3b; Urteil M. vom
29. August 2002 [I 97/00] Erw. 1.2). Dabei ist zu fragen, welche Tätigkeiten
(Krankenschwester im Spital, Arztgehilfin, Laborassistentin etc.) aufgrund
der Ausbildung und bisherigen beruflichen Karriere realistischerweise in
Betracht fallen.
Beim Invalideneinkommen sodann kann in Bezug auf die verbliebene
Arbeitsfähigkeit entgegen dem kantonalen Gericht nicht auf das Gutachten der
MEDAS vom 20. März 2001 abgestellt werden. Danach ist aus psychiatrischer und
psychosomatischer Sicht die Tätigkeit als Krankenschwester bei zumutbarer
Willensanstrengung zu 50 % möglich. Wie die Vorinstanz selber festhält, steht
diese Einschätzung im Gegensatz zu allen seit dem Unfall erstellten
medizinischen Arztberichten und Expertisen, welche übereinstimmend von einer
100 %igen Arbeitsunfähigkeit ausgehen. Es kommt dazu, dass die Präzisierung
der MEDAS-Ärzte vom 15. Mai 2001 vom Gutachten abweicht und zudem
missverständlich ist, wie auch im angefochtenen Entscheid festgehalten wird.

3.3 Im Sinne des Vorstehenden wird die IV-Stelle ergänzende Abklärungen u.a.
zur Frage der Arbeitsfähigkeit aus medizinischer und allenfalls auch
berufsberaterischer Sicht vorzunehmen und den Invaliditätsgrad neu zu
ermitteln haben. Dabei hat sie Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen
seit der Verfügung vom 30. Mai 2001 zu berücksichtigen.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin Anspruch
auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art.
135 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist somit
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 19. April 2003 und die
Verfügung vom 30. Mai 2001 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle
Bern zurückgewiesen wird, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen
über den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung  von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat über eine Parteientschädigung für
das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 30. Juli 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:

i.V.