Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 367/2003
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I 367/03

Urteil vom 6. Februar 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Schmutz

E.________, 1958, Beschwerdeführer, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 1. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1958 geborene E.________ war bei der Z.________ GmbH, vollzeitlich als
Lagermitarbeiter angestellt und dort zusätzlich 40 bis 48 Stunden pro Monat
als Hausmeister und Reinigungsmitarbeiter tätig. Er war bei der Winterthur
Versicherungen (nachfolgend: Winterthur) gegen die Folgen von Berufs- und
Nichtberufsunfällen versichert. Am 2. Oktober 1998 rutschte er während der
Arbeit mit einer schweren Last aus und fiel auf das Becken. Vom 10. bis 27.
Januar 1999 hielt er sich im Spital Y.________ und vom 17. März bis 21. April
1999 in der Klinik X.________ auf. Die Winterthur liess den Versicherten
durch das Institut für medizinische Begutachtung, beurteilen. Die Ärzte kamen
zum Schluss, dass keine krankheitswertige körperliche Diagnose gestellt
werden könne und die beim Versicherten vorliegende Befindlichkeitsstörung
ohne pathologisch-anatomisches Substrat sei (Gutachten vom 29. November
1999). Mit Verfügung vom 7. Februar 2000 stellte die Winterthur die
Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung per 1. Dezember 1999
ein.

Auf Ende September 1999 wurde E.________ die Arbeitsstelle gekündigt. Er
meldete sich am 2. Juli 1999 bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug
und ("wenn möglich") zur Eingliederung an. Die IV-Stelle Bern holte Berichte
des behandelnden Arztes Dr. med. B.________, Spezialarzt FMH für Allgemeine
Medizin (u.a. vom 22. Januar 2000), und der Ärzte des Hauses V.________ des
Spitals Q.________ (vom 17. Oktober 2000) ein, wo der Versicherte vom 8.
August bis 14. September 2000 hospitalisiert war. Die Berichte bezeichneten
ihn übereinstimmend als zum damaligen Zeitpunkt 100 % arbeits- und
erwerbsunfähig. Vom 18. bis 21. Dezember 2000 hielt sich E.________ im
Zentrum für Medizinische Begutachtung in S.________ auf. Dessen Ärzte
erachteten laut Expertise vom 23. Januar 2001 die zuletzt ausgeübte Tätigkeit
als Magaziner aus somatischer Sicht als zu 100 % zumutbar, und nach einer
ergänzenden Stellungnahme vom 8. November 2001 galt dies auch für die
Tätigkeit als Hauswart oder Reinigungsmitarbeiter. Die für die Experten im
Vordergrund stehende psychosomatische Entwicklung und Überlagerung der
geklagten Schmerzen sowie eine leichte Depressivität schränkten die
Arbeitsfähigkeit jedoch auf 70 % ein. Mit Verfügung vom 18. April 2002 sprach
die IV-Stelle dem Versicherten bei einem Invaliditätsgrad von 46 % für die
Zeit vom 1. Oktober 1999 bis 31. Dezember 2000 eine halbe Härtefallrente und
ab 1. Januar 2001 eine Viertelsrente sowie die entsprechenden Zusatzrenten
für die Ehefrau und die Kinder zu.

B.
Die von E.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 1. April 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Versicherte beantragen, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei ihm ab 1. Oktober 1999 eine
ganze Rente zuzusprechen. Das Verfahren sei zu sistieren, bis das Ergebnis
weiterer medizinischer Abklärungen vorliege. In der Folge werden bis zum 24.
Oktober 2003 Berichte der Frau Dr. med. C.________, Spezialärztin FMH für
Psychiatrie und Psychotherapie, des Dr. med. D.________, Spezialarzt für
Orthopädische Chirurgie FMH und Spinale Chirurgie, und der Chirurgischen
Klinik der Spital S.________ AG eingelegt. Aus diesen geht nach der
Feststellung der Rechtsvertreterin hervor, dass die chronische
Schmerzproblematik offensichtlich auch auf eine organische Ursache
zurückzuführen ist.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 18. April
2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind die
bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

3.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff
der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28
Abs. 1 und 1bis IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung), die
Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten
(Einkommensvergleichsmethode [Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis Ende 2003 gültig
gewesenen Fassung; BGE 104 V 136 Erw. 2a und b]) sowie zur Aufgabe des Arztes
im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2,
105 V 158 Erw. 1) und zum Beweiswert ärztlicher Berichte (BGE 125 V 352 f.
Erw. 3 mit Hinweisen) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.
Streitig ist nach der Verwaltungsgerichtsbeschwerde noch die Höhe des
Rentenanspruchs, wobei hier lediglich die Ermittlung des Invalideneinkommens
umstritten ist, indem der Beschwerdeführer vorbringen lässt, es sei ihm keine
Erwerbstätigkeit mehr zumutbar. Darauf hat sich die letztinstanzliche Prüfung
zu beschränken, enthalten die Akten doch keinerlei Anhaltspunkte, welche die
vorinstanzliche Invaliditätsbemessung sonst wie als unrichtig erscheinen
liessen (vgl. BGE 110 V 53).

5.
5.1 Die Vorinstanz hat sich hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des
Beschwerdeführers auf das Gutachten und den ergänzenden Bericht des ZMB vom
23. Januar und 8. November 2001 abgestützt, laut welchen beim
Beschwerdeführer (in Übereinstimmung mit den behandelnden Ärzten) somatische
und psychosomatische Leiden festgestellt wurden. Die Experten, denen die
vollständigen medizinischen Akten zur Verfügung standen, diagnostizierten
chronische Lumbalgien, beginnende Osteochondrosen L3/4 und L4/5, eine kleine
foraminale Diskushernie L3/4 rechts ohne radikuläre Reiz- oder
Ausfallsyndrome, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine leichte
depressive Episode sowie den schädlichen Gebrauch von Opioiden (Tramal). Sie
führten aus, dass im somatischen Bereich relativ bescheidene Befunde erhoben
werden konnten, welche die Arbeitsfähigkeit in körperlicher Schwerarbeit
einschränkten. Sie hielten darum dem Versicherten Tätigkeiten nicht mehr für
zumutbar, die mit dem repetitiven Heben von Gewichten über 15 Kilogramm sowie
dem Arbeiten in einer körperlichen Zwangshaltung, mit vornüber geneigtem
Körper oder anderweitiger, ausgesprochen schwerer körperlicher Arbeit
verbunden sind.

5.2 Alle anderen Tätigkeiten, so auch die zuletzt ausgeübte als Magaziner
(resp. als Hauswart oder Reinigungsmitarbeiter), erachteten sie aus
somatischer Sicht als zu 100 % zumutbar. Im Vordergrund stand für sie eine
psychosomatische Entwicklung und Überlagerung der geklagten Schmerzen sowie
eine leichte, vorwiegend agiert-dysphorische Depressivität. Insgesamt
attestierten sie dem Versicherten deshalb in der zuletzt ausgeübten
Tätigkeiten eine Arbeitsfähigkeit von 70 %. In diesem Zusammenhang vertraten
sie die Auffassung, dass das psychosomatische Leiden noch nicht genügend
chronifiziert und fixiert sei und immer noch die Hoffnung bestehe, dass sich
der Versicherte von seinen Symptomen lösen könne. Es sei ihm auch eine
Willensanstrengung zur Überwindung seines psychosomatischen Leidens zumutbar,
denn er könne im aufgeführten Rahmen ohne jegliche Gefährdung seiner
Gesundheit eine berufliche Tätigkeit ausüben.

5.3 Wie die Vorinstanz zu Recht feststellte, erfüllt das Gutachten des ZMB
zusammen mit dem ergänzenden Bericht sämtliche von der Rechtsprechung
hinsichtlich des Beweiswertes ärztlicher Berichte aufgestellten
Anforderungen. Die Ärzte haben auf Grund eingehender Beobachtungen und
Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten Bericht erstattet und sind
bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen gelangt. Ihren
Ausführungen ist damit bei der Beweiswürdigung volle Beweiskraft
zuzuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der
Expertise sprechen (BGE 125 V 352 f. Erw. 3 mit Hinweisen), was auch nach der
Beibringung neuer Beweismittel im letztinstanzlichen Verfahren nicht der Fall
ist (vgl. nachfolgende Erw. 6.1).

6.
6.1 In Änderung der Rechtsprechung hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht in BGE 127 V 353 erkannt, dass es auch in Verfahren, in
welchen es nicht an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts
gebunden ist (Art. 132 lit. b OG), im Lichte von Art. 108 Abs. 2 OG
grundsätzlich unzulässig ist, nach Ablauf der Beschwerdefrist neue
Beweismittel beizubringen, es sei denn, dass ausnahmsweise ein zweiter
Schriftenwechsel (Art. 110 Abs. 4 OG) angeordnet wurde. Namentlich ist es
nicht zulässig, dass eine Person in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ihre
Absicht kundtut, nach Ablauf der Beschwerdefrist ein künftiges Beweismittel
einzureichen, oder dass sie zu diesem Zweck die Sistierung des Verfahrens
beantragt. Zu berücksichtigen sind in der Regel nur solche Eingaben, die dem
Gericht innert der gesetzlichen Frist (Art. 106 Abs. 1 OG) vorliegen. Anders
verhält es sich lediglich dann, wenn die nach Ablauf der Beschwerdefrist oder
nach Abschluss eines zweiten Schriftenwechsels unaufgefordert eingereichten
Schriftstücke neue erhebliche Tatsachen oder schlüssige Beweismittel
enthalten, welche eine Revision im Sinne von Art. 137 lit. b OG zu
rechtfertigen vermöchten.

6.2 Diese zuletzt genannten Voraussetzungen erfüllen die mit Eingaben vom 5.
Juni, 1. September und 24. Oktober 2003 ins Recht gelegten Berichte der Frau
Dr. med. C.________, des Dr. med. D.________, des PD Dr. med. F.________ und
der Chirurgischen Klinik der S.________ AG nicht. Noch am 3. Juli 2003
berichtete Dr. med. D.________ als Spezialarzt für Orthopädische Chirurgie
FMH und Spinale Chirurgie dem Hausarzt Dr. med. B.________, die Resultate
einer am 17. Juni 2003, also mehr als ein Jahr nach dem Verfügungszeitpunkt
durchgeführten Diskographie (Röntgenkontrastdarstellung der Bandscheibe) auf
Höhe L4 und L5 sowie L5/S1 seien klar als negativ zu bewerten. Mit grosser
Zurückhaltung erklärte er sich "allenfalls" bereit, einen Fixateur externe
anzulegen, falls bei einer zusätzlichen Untersuchung unter Beteiligung eines
Kinesiologen doch noch eine Instabilität aufgezeigt werde. Sollten nach dem
Anlegen einer solchen Konstruktion die Beschwerden nachweislich zurückgehen,
könne dann eine Operation diskutiert werden. Gegenwärtig sei er einer
operativen Therapie gegenüber äusserst zurückhaltend eingestellt. Im Bericht
von PD Dr. med. F.________, Spezialarzt für Orthopädische Chirurgie FMH und
Spinale Chirurgie im Rückenzentrum T.________, vom 19. August 2003 an Dr.
med. B.________ war nach der Durchführung der erwähnten zusätzlichen
Untersuchung als Diagnose immer noch ein "chronisches lokales Schmerzsyndrom"
aufgeführt. Nach dem Montieren des probatorischen (d.h. zur Klärung der
Diagnose angebrachten) Fixateur externe L4 auf S1 am 30. September 2003
lautete die Diagnose zunächst ebenfalls noch auf "Chronisches lokales
lumbales Schmerzsyndrom (M54.5)" (Operationsbericht des PD Dr. med.
F.________ vom 30. September 2003), also nach der Terminologie der
ICD-10-Klassifikation auf "Kreuzschmerz" (resp. "Lendenschmerz", "Lumbago",
"Überlastung in der Kreuzbeingegend"). In der betreffenden Krankheitsgruppe
M54 werden die verschiedenen Arten von Rückenschmerzen zusammengefasst, die
nicht Bandscheibenschäden oder sonstigen Krankheiten der Wirbelsäule und des
Rückens (d.h. den Krankheitsgruppen M50-M53) zuzuordnen sind. Da die Diagnose
eines Bandscheibenschadens sich somit trotz zwischenzeitlich intensiver
medizinischer Untersuchungen erstmals eineinhalb Jahre nach dem Erlass der
angefochtenen Verfügung im provisorischen Austrittsbericht der Chirurgischen
Klinik der Spital S.________ AG vom 8. Oktober 2003 findet, wäre diese
Diagnose, selbst wenn sie gesichert würde, auf Grund des Gesagten nicht als
neue erhebliche Tatsache zu werten, die eine Revision im Sinne von Art. 137
lit. b OG zu rechtfertigen vermöchte.

7.
Nach dem Gesagten ist für den Einkommensvergleich der Invalidenlohn so
festzulegen, wie wenn der Beschwerdeführer eine leidensangepasste
Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. In einer solchen Beschäftigung wäre ihm
eine volle Erwerbstätigkeit mit einem Rendement von 70 % zumutbar. Das
vorinstanzlich gestellte Leistungsbegehren wurde damit zu Recht abgewiesen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 6. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: