Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 366/2003
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I 366/03

Urteil vom 13. Mai 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Grunder

B.________, 1953, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Sven
Marguth, Genfergasse 3, 3011 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 14. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1953 geborene B.________, Mutter von vier Kindern, erlitt bei einem
Verkehrsunfall vom 24. März 1995 ein HWS-Distorsionstrauma mit traumatisch
aktivierten Beschwerden bei Spondylosis cervicalis C5/C6 und C6/C7. Am 1.
September 1997 meldete sie sich zum Bezug einer Rente der
Invalidenversicherung an. Nach Abklärungen in beruflich-erwerblicher und
medizinischer Hinsicht, worunter der Abklärungsbericht Haushalt vom 19.
Oktober 1998 sowie die Berichte des Spitals I.________, Neurologische Klinik
und Poliklinik, vom 24. und 31. Juli 1998, sprach die IV-Stelle Bern bei
einem nach der Methode des Einkommensvergleichs ermittelten Invaliditätsgrad
von 54 % eine halbe Invalidenrente nebst zwei Kinderrenten mit Beginn ab 1.
Juni 1996 (zwei Verfügungen vom 4. August 1999 sowie 1. September 1999) sowie
eine Zusatzrente für den Ehegatten ab 1. Juni 1999 (Verfügung vom 20. Oktober
1999) zu. Diese Verwaltungsakte blieben unangefochten.

Am 1. November 1999 stellte B.________ ein Gesuch um Erhöhung des
Invaliditätsgrades auf 80 %. Mit Schreiben vom 22. November 1999 liess ihr
Hausarzt, Dr. med. W.________, der IV-Stelle einen an ihn gerichteten Bericht
des Spitals I.________, Medizinische Abteilung C.________, vom 18. Oktober
1999 zukommen. Die IV-Stelle holte die Fragebögen für den Arbeitgeber
X.________ vom 20. Dezember 1999 und 20. Dezember 2000 ein, zog die im
Auftrag des Unfallversicherers verfassten Gutachten des Spitals I.________,
Klinik für Rheumatologie und klinische Immunologie/Allergologie, vom 7. Juni
1999 bei und veranlasste eine zusätzliche Expertise des Spitals I.________,
Medizinische Abteilung C.________, vom 11. Juli 2000 mitsamt einer
Stellungnahme des Prof. Dr. med. A.________ vom 7. September 2000. Im
Vorbescheidverfahren reichte die Versicherte einen Bericht des Dr. med.
W.________ vom 12. Februar 2001 ein. Mit Verfügung vom 23. März 2001 lehnte
die IV-Stelle das Gesuch ab, weil die Ueberprüfung des Invaliditätsgrades
(Invaliditätsgrad von neu 58 %) keine den Rentenanspruch beeinflussende
Änderung ergeben habe.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern ab (Entscheid vom 14. April 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ beantragen, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihr eine ganze Invalidenrente
zuzusprechen (mit entsprechenden Zusatzrenten); eventualiter sei die Sache an
die IV-Stelle zur weiteren beruflichen und medizinischen Abklärung
zurückzuweisen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der Invalidität
(Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
in den bis Ende 2003 [In-Kraft-Treten der Änderung des IVG vom 21. März 2003
am 1. Januar 2004] geltenden Fassungen), die Invaliditätsbemessung bei
Erwerbstätigen nach der Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG)
sowie die Revision der Invalidenrente (Art. 41 IVG; Art. 88a IVV; BGE 113 V
275 Erw. 1a mit Hinweisen), insbesondere die dabei in zeitlicher Hinsicht zu
vergleichenden Sachverhalte (BGE 125 V 369 Erw. 2 mit Hinweis), zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig ist auch, dass das am 1. Januar
2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist, da
nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier:
23. März 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2
mit Hinweisen).

2.
Streitig ist, ob seit der erstmaligen rechtskräftigen Zusprechung der halben
Invalidenrente bis zum Erlass der die revisionsweise Erhöhung ablehnenden
Verfügung vom 23. März 2001 im Sinne von Art. 41 IVG eine wesentliche
Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist, die den
Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen geeignet ist.

2.1 Aus den Erwägungen im angefochtenen Entscheid geht nicht klar hervor, auf
welchen Sachverhalt das kantonale Gericht bezüglich der ursprünglichen
Rentenzusprechung abgestellt hat. Beim Beschluss der IV-Stelle vom 9.
Dezember 1998 handelt es sich nicht um eine Verfügung, sondern vielmehr um
die der Ausgleichskasse mitgeteilte Grundlage zur Berechnung der
Rentenbetreffnisse. Die Verfügung, mit welcher der Beschwerdeführerin ab 1.
Juni 1996 eine halbe Invalidenrente zugesprochen wurde (nebst einer
Kinderrente für die jüngste Tochter), ist am 4. August 1999 erlassen worden.
Mit Verfügung vom 1. September 1999 wurde diese Rente ab 1. November 1998 neu
berechnet. In dieser Verfügungslage ist der Beginn des revisionsrechtlich
massgeblichen Vergleichszeitraumes auf den 4. August 1999 anzusetzen, und
nicht etwa den 9. Dezember 1998 oder den 1. September 1999.

2.2 Hinsichtlich der Verfügung vom 4. August 1999 stützte sich die IV-Stelle
im Wesentlichen auf die Berichte der Neurologisch-Neurochirurgischen Klinik
des Spitals I.________ vom 24. und 31. Juli 1998, wonach die
Beschwerdeführerin bei unverändertem Beschwerdebild (Status nach
HWS-Distorsionstrauma am 24. März 1995; Nackenschmerzen mit Ausstrahlung nach
occipital bis frontal mit häufigem Druckgefühl im Kopf, Schmerzausstrahlung
dorsal in den rechten Arm bis in alle Finger, daselbst Gramselparästhesien
und subjektiv Kraftverlust im rechten Arm, Einschlafgefühl beider Arme) an
einem Zervicobrachialsyndrom rechts litt. Weitere Abklärungen drängten sich
nicht auf. Tätigkeiten, bei welchen die Körperposition häufig gewechselt
werden konnte und die kein Heben schwerer Lasten erforderten, waren im Umfang
von 4 Stunden täglich zumutbar. Stereotype Bewegungsabläufe über einen
längeren Zeitraum oder ruckartige Kopfbewegungen sollten vermieden werden.
Ungünstig waren auch längeres Stehen (über 30 Minuten) oder eine längere
Kopfinklination. Dies steht in Uebereinstimmung mit den Angaben im Bericht
der Klinik für Rheumatologie und Klinische Immunologie/Allergologie des
Spitals I.________ vom 7. Juni 1999.

2.3 Die Ärzte der Medizinischen Abteilung C.________ des Spitals I.________
kamen in den Gutachten vom 18. Oktober 1999 und 11. Juli 2000 zum Schluss, es
bestünden (1) chronische Nacken- und Armschmerzen rechts mehr als links bei Status nach Schleudertrauma, vorbestehenden, vor dem Unfall asymptomatischen
Osteochondrosen C5/C6 und C6/C7, psycho-physiologischen Veränderungen und
pain proneness sowie (2) eine ängstlich-depressive Entwicklung. Im bislang
ausgeübten Beruf als Kassiererin sei die Versicherte zu 80 % arbeitsunfähig.
Im gegebenen Zeitpunkt müsse von einer Chronifizierung der Nacken- und
Armschmerzen gesprochen werden, welche jedoch nicht unlösbar sei. Bei an die
Beschwerden angepassten Arbeitsbedingungen sei im weiteren Verlauf an eine
Besserung zu denken. Die Versicherte sollte Arbeiten, die in stereotyper
Haltung (wie die Tätigkeit als Kassiererin) und mit Verrichtungen über Kopf
sowie Heben und Tragen leichter Lasten (mehr als 3 kg) verbunden seien,
strikte vermeiden. Arbeitsprozesse von mehr als 2 Stunden Dauer ohne
Unterbrechung seien nicht mehr zumutbar. In der Stellungnahme vom 7.
September 2000 gab der medizinische Sachverständige, Prof. Dr. med.
A.________, an, die Patientin solle 2 x 2 Stunden arbeiten und dabei während
der zweistündigen Arbeit ihre Körperstellung ändern können.

2.4 In Anbetracht dieser medizinischen Angaben ist anzunehmen, dass im hier
massgeblichen Vergleichszeitraum sich weder der Gesundheitszustand
verschlechtert, noch das Leistungsvermögen  wesentlich verändert hat. Es
werden zwar neu psycho-physiologische Veränderungen sowie eine
ängstlich-depressive Entwicklung festgestellt, welchen jedoch medizinisch
kein Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit beigemessen wird. Mit dem unter der
Hauptdiagnose verwendeten englischen Ausdruck "pain proneness" wird nicht ein
neuer Gesundheitsschaden bezeichnet, sondern auf die Schmerzanfälligkeit der
Versicherten bei ungeeigneten körperlichen Belastungen hingewiesen. Trotz der
nach Angaben der Beschwerdeführerin intensivierten Schmerzen besteht nach
ärztlicher Einschätzung in einer den Leiden angepassten Erwerbstätigkeit eine
Arbeitsfähigkeit von 2 x 2 Stunden täglich, was der früheren Beurteilung
entspricht (Berichte des Spitals I.________ vom 24. und 31. Juli 1998 sowie
7. Juni 1999). Wenn die Gutachter die Arbeitsfähigkeit im bis Ende Februar
2000 ausgeübten Beruf als Kassiererin bei X.________ neu noch auf 20 %
festlegen (gegenüber 4 Stunden täglich oder 50 %; Berichte des Spitals
I.________ vom 24. und 31. Juli 1998 sowie 7. Juni 1999), ist daraus nicht
auf eine im Sinne von Art. 41 IVG rechtserhebliche Änderung des
Tatsachenspektrums zu schliessen. Diese Tätigkeit war den gesundheitlichen
Beeinträchtigungen der Versicherten schon bei Erlass der Verfügung vom 4.
August 1999 nicht angepasst. An der Kasse beschäftigte Verkäuferinnen im
Detailhandel müssen oft längere Zeit in gleichbleibender Körperhaltung mit
häufigen Kopfbewegungen die Waren der Kunden entgegennehmen. Es ist daher
zwar nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin zunehmend unter Schmerzen
litt; diese waren jedoch nicht Folge eines veränderten Gesundheitszustandes,
sondern durch ungeeignete Körperbewegungen und -haltungen bei der
Berufsausübung bedingt. Die Ärzte legen denn auch im Gutachten vom 11. Juli
2000 dar, dass die Nacken- und Armschmerzen nicht unlösbar chronisch geworden
seien, sondern sich bei an die Beschwerden angepassten Arbeitsbedingungen
wieder bessern würden. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die
IV-Stelle das Invalideneinkommen in der ursprünglichen Verfügung nicht auf
Grund des tatsächlich erzielten Verdienstes als Kassiererin bei X.________,
sondern gestützt auf statistische Durchschnittswerte ermittelt hatte (Ziff.
2.8 des Abklärungsberichtes Haushalt vom 19. Oktober 1998) und demzufolge auf
Verweisungstätigkeiten abstellte, die der Versicherten zumutbar waren und
weiterhin sind. Das Gleiche hat auch bei Erlass der Ablehnungsverfügung vom
23. März 2001 zu gelten. Nach dem Gesagten haben sich weder der
Gesundheitszustand noch das Leistungsvermögen hinsichtlich einer den
Beschwerden angepassten Arbeitstätigkeit wesentlich verändert. Auf den
Bericht des Hausarztes Dr. med. W.________ vom 12. Februar 2001 ist nicht
abzustellen, da dieser Arzt darin seine Einschätzung der Arbeitsfähigkeit
einzig auf die Berufsausübung als Kassiererin bezieht und zu einer
Verweisungstätigkeit nicht Stellung nimmt. Wenn nach Auffassung dieses Arztes
die therapeutische Zielsetzung die Schmerzerträglichkeit bleibt, ist nicht
einzusehen, warum damit realistischerweise nicht auch eine Verbesserung oder
zumindest Erhaltung der bisherigen Arbeitsbelastbarkeit einhergehen sollte.
Die Voraussetzungen für die Annahme einer vollinvalidisierenden
Schmerz(verarbeitungs)störung sind im Zeitpunkt der
Revisionsablehnungsverfügung vom 23. März 2001 auf Grund der medizinischen
Unterlagen nicht erfüllt (vgl. das zur Publikation in BGE 130 V bestimmte
Urteil N. vom 12. März 2004, I 683/03). Unter den gegebenen Umständen ist auf
die beantragten medizinischen und beruflichen Abklärungen zu verzichten.

3.
Sind nach dem Gesagten in Anbetracht der Entwicklung der Verhältnisse bis am
23. März 2001 keine Tatsachenänderungen auszumachen, welche sich auf den
Invaliditätsgrad in einer für den Rentenanspruch erheblichen Erhöhung
auswirkten, besteht kein Anlass, das in der Revisionsablehnungsverfügung
gestützt auf einen neu vorgenommenen Einkommensvergleich ermittelte Ergebnis
(Invaliditätsgrad von 58 %) näher zu überprüfen. Thema des Revisionsprozesses
nach Art. 41 IVG ist die Frage nach dem Eintritt von Sachverhaltsänderungen
im anspruchserheblichen Tatsachenspektrum (Gesundheitszustand,
Leistungsfähigkeit usw.), nicht dagegen die Invaliditätsbemessung als solche.
Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen daran nichts zu
ändern, weil sich aus ihnen kein Revisionsgrund und auch nicht Anlass zu
ergänzenden Abklärungen in dieser Richtung ergibt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse X.________ und
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 13. Mai 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: