Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 351/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


I 351/03

Urteil vom 16. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Grunder

B.________, 1961, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jörg
Blum, Metzgerrainle 9, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 7. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1961 geborene, als Maurer im Baugewerbe erwerbstätige B.________ war seit
September 1995 bei der Firma X.________ angestellt (Fragebogen für den
Arbeitgeber vom 3. Juni 1996). Wegen einer Segmentdegeneration der
Wirbelsäule L4/5 und L5/S1 wurde er ab 5. März 1996 vollständig
arbeitsunfähig. Die IV-Stelle Luzern sprach ihm als berufliche Massnahmen
zunächst verschiedene Intensivkurse in Deutscher Sprache zu und ab April 1999
den vollzeitlichen Besuch der Handelsschule Y.________ (Abschluss
Bürofachdiplom VSH). Im November 1999 brach der Versicherte wegen zunehmender
Rückenschmerzen die begonnene Umschulung ab. Gemäss ärztlichen Angaben war
eine ausschliesslich sitzende Tätigkeit aus medizinischen Gründen nicht
möglich (Bericht des Dr. med. M.________, Innere Medizin FMH, vom 17.
Dezember 1999). Nach einem Rehabilitationsaufenthalt vom 30. März bis 20.
April 2000 in der Klinik A.________ (Bericht vom 20. April 2000 und des Dr.
med. F.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, vom 8. Mai 2000) sowie
einer stationären Behandlung im Spital C.________ vom 11. bis 22. August 2000
(Berichte vom 31. August und 12. September 2000) war eine berufliche
Abklärung der Eingliederungsmöglichkeiten und Arbeitsfähigkeit vom 25.
September bis 20. Oktober 2000 vorgesehen, welche der Versicherte aus
gesundheitlichen Gründen abbrach (Bericht der Beruflichen Abklärungsstelle
BEFAS vom 14. Dezember 2000). Die IV-Stelle Luzern veranlasste daraufhin,
nach Beizug eines Berichts des Dr. med. F.________ vom 27. Januar 2001, eine
polydisziplinäre medizinische Untersuchung und Begutachtung bei der
Medizinischen Abklärungsstelle MEDAS, welche in der Expertise vom 9. Oktober
2001 zum Schluss gelangte, es liege ein chronifiziertes, therapierefraktäres,
lumbo-spondylogenes Syndrom mit lumboradikulärer Reizsymptomatik L5/S1, eine
leicht depressiv gefärbte Anpassungsstörung mit Veränderung des
Sozialverhaltens (ICD-10 F43.25), eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung
(ICD-10 F45.4) sowie als Nebenbefund eine Aggravationstendenz (ICD-10 F68)
vor. Im bisher ausgeübten Beruf sowie für jede andere körperlich schwere und
mittelschwere Arbeit sei der Versicherte nicht mehr arbeitsfähig. In einer
leichten, wechselbelastenden Tätigkeit, mit der Möglichkeit, gelegentlich
Pausen einzulegen, bestehe eine Arbeitsfähigkeit von 50 %, wobei mehr die
psychiatrischen und weniger die rheumatologischen Befunde bestimmend seien.
Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle mit Verfügung
vom 18. April 2002 bei einem ermittelten Invaliditätsgrad von 63 % eine halbe
Invalidenrente (nebst Zusatzrente für die Ehefrau und Kinderrenten) mit
Beginn ab 1. November 1999 zu.

B.
Eine hiegegen zusammen mit einem Arztzeugnis des Dr. med. F.________ vom 17.
Mai 2002 sowie weiteren Unterlagen (Lohnabrechnungen der Firma X.________ der
Monate September 1995 bis Juni 1996; Bestätigungsschreiben des ehemaligen
Vorgesetzten bei dieser Firma vom 25. Oktober 2002) eingereichte Beschwerde
wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern ab (Entscheid vom 7. April
2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ das Rechtsbegehren
stellen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen. Gleichzeitig wird neu ein Bericht des Spitals
C.________ vom 3. Juni 2002 aufgelegt.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000
über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ist nicht
anwendbar, wie das kantonale Gericht richtig erkannt hat (BGE 129 V 4 Erw.
1.2).
1.2 Weiter werden im angefochtenen Entscheid die Bestimmungen über den
Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs
(Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG in den bis Ende 2003 [In-Kraft-Treten der
Änderung des IVG vom 21. März 2003 am 1. Januar 2004] gültig gewesenen
Fassungen) sowie die Ermittlung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen
nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Mit der Vorinstanz ist zur Feststellung des Gesundheitsschadens und der
Auswirkungen auf das funktionelle Leistungsvermögen des Versicherten auf die
Angaben im Gutachten der MEDAS vom 9. Oktober 2001 abzustellen, welches auf
umfassenden psychiatrischen, rheumatologischen und neurologischen
Untersuchungen beruht und die für den Beweiswert ärztlicher Berichte
geltenden Anforderungen erfüllt (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 Erw. 1c).
Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde dringen nicht durch. Wie
das kantonale Gericht richtig erwogen hat, enthält der Bericht des Dr. med.
F.________ vom 17. Mai 2002 keine neuen medizinischen Befunde, die den im für
die Beurteilung massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der Rentenverfügung vom
18. April 2002 gegebenen Sachverhalt beeinflussen (BGE 121 V 366 Erw. 1b; 99
V 102; je mit Hinweisen). Der letztinstanzlich aufgelegte Bericht des Spitals
C.________ vom 3. Juni 2002 weist eine dreitägige stationäre Behandlung wegen
der Folgen eines Sturzes (Thorax- und Abdomenkontusion links) aus. Soweit
damit geltend gemacht wird, der Sturz sei Folge der gesundheitlichen
Beschwerden gewesen, kann dem Versicherten nicht beigepflichtet werden. Im
rheumatologischen Konsilium vom 6. August 2001 zum MEDAS-Gutachten wird
festgehalten, dass die diffuse, nicht dermatom-bezogene Hypästhesie des
ganzen linken Beines und die nicht nachvollziehbare Beinschwäche links ohne
neurologisch nachweisbare motorische Ausfälle auf eine erhebliche
funktionelle Überlagerung hinwiesen. Inwiefern schliesslich der Umstand, dass
der Beschwerdeführer sich seinen Angaben gemäss im Oktober 2002 einer
Operation einer Diskushernie unterzogen hat, gegen die Zuverlässigkeit der
medizinischen Beurteilung im MEDAS-Gutachten sprechen soll, ist nicht
einzusehen. Die Experten haben von einem operativen Vorgehen abgeraten, weil
angesichts der Chronifizierung und psychischen Überlagerung (mit
Aggravationstendenz) nach medizinischer Erfahrung kein therapeutischer Effekt
zu erzielen sei. Diese Einschätzung hat sich, aus den Angaben in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu schliessen, offenbar bestätigt, wird doch
festgehalten, die Schmerzsymptomatik sei nach dem chirurgischen Eingriff
gleich geblieben. Nach dem Gesagten ist von weiteren Abklärungen abzusehen.

3.
Weiter stellt sich die Frage, wie sich der ärztlich festgestellte
Gesundheitszustand und die damit einhergehende verminderte Arbeitsfähigkeit
in erwerblicher Hinsicht auswirken.

3.1 Die Vorinstanz hat das Valideneinkommen anhand der Angaben im Fragebogen
für den Arbeitgeber vom 3. Juni 1996 (Fr. 61'100.-) ermittelt, welchen sie
dem bis zum Verfügungserlass gestiegenen Nominallohnindex im Baugewerbe
angepasst hat. Aus den vorinstanzlich aufgelegten Lohnabrechnungen ergibt
sich kein höheres Einkommen. Indessen sind für den Einkommensvergleich die
Verhältnisse im Zeitpunkt des Beginns des Rentenanspruchs massgeblich (BGE
129 V 222 mit Hinweisen), weshalb der Jahresverdienst auf den 1. November
1999 anzupassen ist (Fr. 61'743.16; Nominallohnindex 1996: 104,5; 1999:
105,6; Lohnentwicklung 2001 des Bundesamtes für Statistik [BFS], Tabelle
T1.93, Baugewerbe). Das Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, es
sei ein hypothetischer Berufsaufstieg zu berücksichtigen, hat das kantonale
Gericht im angefochtenen Entscheid mit nicht zu beanstandender Begründung,
worauf verwiesen wird, entkräftet. Auf die beantragte Zeugeneinvernahme ist
zu verzichten.

3.2 Der Beschwerdeführer hat nach Eintritt der Invalidität keine
Erwerbstätigkeit aufgenommen, weshalb das hypothetische Invalideneinkommen
mit der Vorinstanz gestützt auf die vom BFS herausgegebene Schweizerische
Lohnstrukturerhebung (LSE) zu ermitteln ist. Massgebend ist nach der in der
vorstehenden Erwägung zitierten Praxis das bei Rentenbeginn hypothetisch
erzielbare Einkommen, weshalb die in der LSE 1998 veröffentlichten
statistischen Durchschnittswerte (TA1, Anforderungsniveau 4, Total, Fr.
4'268.-) heranzuziehen sind. Hochgerechnet auf die betriebsübliche
wöchentliche Arbeitszeit des Jahres 1999 (41,8 Stunden; Statistisches
Jahrbuch der Schweiz 2001, BFS, S. 192, T3.2.3.5, Total) und angepasst an die
Nominallohnentwicklung (1998: 105,3 Punkte; 1999: 105,6 Punkte;
Lohnentwicklung 2001, T1.93, Total) ergibt sich ein Einkommen von Fr.
4'472.80 monatlich oder Fr. 53'673.20 jährlich, welches entsprechend dem Grad
der Arbeitsunfähigkeit um 50 % zu reduzieren ist (Fr. 26'836.60).

3.3 Zu prüfen ist auf Grund der weiteren Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ob der Beschwerdeführer die ihm aus ärztlicher
Sicht zumutbare Arbeitsleistung von 50 % auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt
wirtschaftlich verwerten kann.

Nachdem der Versicherte wegen der angegebenen Schmerzen die berufliche
Abklärung in der BEFAS abgebrochen hatte, wurde eine medizinische Überprüfung
der Abklärungsfähigkeit und Zumutbarkeit einer Abklärung empfohlen (Bericht
der BEFAS vom 14. Dezember 2000). Die Ärzte der MEDAS kamen zum Schluss, die
vom Exploranden praktizierte exzessive Schonung führe schrittweise zu einer
fatalen Schwächung der rückenstabilisierenden Muskulatur. Diesem Endzustand
müsse mittels Physiotherapie und Analgetika vorgebeugt werden. Andere
medizinische oder berufliche Massnahmen wurden wegen der Chronifizierung und
psychischen Überlagerung nicht empfohlen. Aus diesen Feststellungen kann
nicht geschlossen werden, dem Versicherten sei die Verwertung der
Resterwerbsfähigkeit bei objektivierter Betrachtungsweise (BGE 102 V 166 f.)
nicht zumutbar. Vielmehr ist anzunehmen, dass es ihm zumindest teilweise am
nötigen Willen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess fehlte. Auf
Grund der psychiatrischen Befunde und Diagnosen (leicht depressiv gefärbte
Anpassungsstörung mit Veränderung des Sozialverhaltens [ICD-10 F43.25],
anhaltende somatoforme Schmerzstörung [ICD-10 F45.4], Aggravationstendenz
[ICD-10 F68]) war weder die Willensbildung noch die Handlungsfreiheit in
einem Ausmass eingeschränkt, dass vom Versicherten nicht mindestens ein
ernsthaftes Bemühen um eine berufliche Neueingliederung erwartet werden
konnte. Immerhin fühlte er sich gemäss Angaben des Dr. med. F.________
(Bericht vom 8. Mai 2000) nach dem Aufenthalt in der Klinik A.________
körperlich wie auch psychisch wesentlich besser, weshalb dieser Arzt weitere
berufliche Eingliederungsmassnahmen empfahl. An einer entsprechenden
Willensanstrengung liess es der Versicherte in der Folge bei seiner
Inaktivität (exzessive Schonhaltung; Abbruch der beruflichen Abklärung)
fehlen. Sodann ist das Finden einer den gesundheitlichen Beeinträchtigungen
angepassten Arbeitsgelegenheit (leichte, wechselbelastende Tätigkeit mit der
Möglichkeit, gelegentlich eine Pause einzulegen) auf dem allgemeinen
(ausgeglichenen) Arbeitsmarkt nicht von vorneherein ausgeschlossen. Wenn der
rheumatologische Konsiliarius der Klinik A.________ seine Auffassung
kundgibt, "eine Umschulung in einen leichten Beruf, wo er weder lange stehen
noch lange sitzen muss, gibt es nicht" (Bericht vom 20. April 2000), nimmt er
zu einer Rechtsfrage Stellung, was nicht Sache eines Arztes ist. Auf dem dem
Versicherten offenstehenden Arbeitsmarkt gibt es durchaus zumutbare
Arbeitsstellen, die Gegenstand von Angebot und Nachfrage sind. In Industrie
und Gewerbe (wie auch im Dienstleistungssektor) werden Arbeiten, welche
physische Kraft erfordern, in zunehmendem Masse durch Maschinen verrichtet,
während den körperlich weniger belastenden Bedienungs- und
Überwachungsfunktionen eine stetig wachsende Bedeutung zukommt (SVR IV Nr. 6
S. 15 Erw. 2; ZAK 1991 S. 320 Erw. 3b). Es kann daher keine Rede davon sein,
dass die dem Versicherten zumutbaren Erwerbstätigkeiten nur in so
eingeschränkter Form möglich sind, dass sie nur unter nicht realistischem
Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich wäre (ZAK 1991
S. 320 Erw. 3b), wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht wird.
Dass der Beschwerdeführer längere Arbeitsunterbrüche wegen Schmerzschüben in
Kauf nehmen müsse und ein erhöhtes Risiko von Stürzen bei Ausübung einer
Berufstätigkeit bestehe, ist nicht nachgewiesen. Hingegen ist hinsichtlich
der Bemessung des Invalideneinkommens zu berücksichtigen, dass
leidensbedingte Einschränkungen (in Frage kommen nur körperlich leichte und
wechselbelastende Arbeiten mit der Möglichkeit, Pausen einzulegen) bestehen
und der Versicherte invaliditätsbedingt nur noch teilerwerbstätig sein kann
(BGE 126 V 79 Erw. 5b). Diesen den Verdienst möglicherweise beeinflussenden
invaliditätsbedingten Umständen hat die Vorinstanz durch Herabsetzung des
Tabellenwerts um 15 % Rechnung getragen, was angemessen und nicht zu
beanstanden ist. Das kantonale Gericht hat sodann mit zutreffender Begründung
erwogen, dass die übrigen Kriterien (Alter, Dienstjahre,
Nationalität/Aufenthaltskategorie; BGE 126 V 79 Erw. 5b) im vorliegenden Fall
auf das Invalideneinkommen keinen Einfluss haben. Darauf wird verwiesen. Die
weiteren Vorbringen haben invaliditätsfremde Umstände (seit sieben Jahren
erwerbslos) zum Gegenstand oder sind bei der Einschätzung der
Arbeitsunfähigkeit (Depression; Einnahme von Schmerzmitteln) berücksichtigt
worden.

3.4 Zusammengefasst ergibt sich, dass das Invalideneinkommen Fr. 22'811.10
beträgt. Dem Valideneinkommen von Fr. 61'743.15 gegenübergestellt ergibt sich
ein Invaliditätsgrad von 63 %, womit der für den Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente vorausgesetzte Grenzwert von 66 2/3 % nicht erreicht ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
der Ausgleichskasse Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 16. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: