Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 347/2003
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I 347/03

Urteil vom 8. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Meyer;
Gerichtsschreiber Lanz

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, 1945, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Heinz
Dornauer, Bundesgasse 26, 3011 Bern

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 22. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1945 geborene, über die Matura und ein Sekretärdiplom verfügende
M.________ war zuletzt bis September 1991 als Aushelfer bei der Firma
X.________ tätig. Seither ist er keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen.
Im Dezember 1999 meldete er sich unter Hinweis auf ein seit Geburt
bestehendes Bronchialasthma mit inzwischen stark beeinträchtigter
Lungenfunktion sowie eine Bewegungseinschränkung des rechten Oberarmes, als
Folge eines am 15. Dezember 1998 erlittenen Autounfalles, bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle Bern zog nebst
anderem Arztberichte, Steuerdokumente sowie die Akten des Unfallversicherers
bei und führte eine Haushaltabklärung mit besonderer Berücksichtigung der
Statusfrage durch (Bericht vom 28. März/5. November 2001). Gestützt auf diese
Unterlagen betrachtete die Verwaltung den Versicherten als
Nichterwerbstätigen, und sie eröffnete ihm mit Vorbescheid vom 8. November
2001, dass mangels einer gesundheitlich bedingten Behinderung, sich im
bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen, kein Anspruch auf eine
Invalidenrente bestehe. Daran hielt sie mit Verfügung vom 8. Februar 2002
fest.

Am 16. März 2001 ist die 1987 eingegangene Ehe des Versicherten, aus welcher
Tochter Y.________, geb. 1989, entspross, rechtskräftig geschieden worden.
Zuvor hatten die Ehegatten gestützt auf eine gerichtlich genehmigte
Vereinbarung vom 26. März 1993, in welcher sich M.________ zur Bezahlung von
Unterhaltsbeiträgen an Ehefrau und Tochter verpflichtet hatte, bereits
getrennt gelebt.

B.
Die von M.________ gegen die Verfügung vom 8. Februar 2002 erhobene
Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung einer halben Invalidenrente hiess
das Verwaltungsgericht des Kantons Bern nach zweifachem Schriftenwechsel in
dem Sinne gut, dass es den angefochtenen Verwaltungsakt aufhob und die Sache
an die IV-Stelle zurückwies, damit diese auf der Grundlage einer hälftigen
Erwerbstätigkeit des Versicherten im Gesundheitsfalle weitere Abklärungen
treffe und über den Leistungsanspruch neu verfüge (Entscheid vom 22. April
2003).

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.

M.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während das Bundesamt für Sozialversicherung deren Gutheissung beantragt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, werden nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 8. Februar 2002)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt, womit im vorliegenden Fall
auch die Anwendbarkeit des seit 1. Januar 2003 geltenden Bundesgesetzes über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und der Verordnung
hiezu (ATSV) entfällt (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Dasselbe gilt in Bezug auf die
am 1. Januar 2004 in Kraft getretene 4. IVG-Revision.

Im angefochtenen Entscheid werden sodann die Gesetzesbestimmungen über die
Voraussetzungen und den Umfang des Anspruchs auf eine Rente der
Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG) zutreffend dargelegt.
Richtig wird auch auf die sich sowohl im Rahmen einer erstmaligen Prüfung des
Rentenanspruchs als auch anlässlich einer Rentenrevision unter dem
Gesichtspunkt der Art. 4 und 5 IVG stellende Frage nach der anwendbaren
Invaliditätsbemessungsmethode hingewiesen (Art. 28 Abs. 2 und 3 IVG in
Verbindung mit Art. 27 f. IVV). Ob eine versicherte Person als ganztägig oder
zeitweilig erwerbstätig oder als nichterwerbstätig einzustufen ist - was je
zur Anwendung einer andern Methode der Invaliditätsbemessung
(Einkommensvergleich, gemischte Methode, Betätigungsvergleich) führt -,
ergibt sich aus der Prüfung, was die Person bei im Übrigen unveränderten
Umständen täte, wenn keine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde. Es ist
demnach zu prüfen, ob die Person ohne Invalidität mit Rücksicht auf die
gesamten Umstände (dazu gehören die persönlichen, familiären, sozialen und
erwerblichen Verhältnisse) vorwiegend erwerbstätig oder im Haushalt
beschäftigt wäre. Für die Beurteilung und Festlegung des im Gesundheitsfall
mutmasslich ausgeübten Aufgabenbereiches sind ausser der finanziellen
Notwendigkeit, eine Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen oder auszudehnen,
auch allfällige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern, das
Alter, die beruflichen Fähigkeiten und die Ausbildung sowie die persönlichen
Neigungen und Begabungen zu berücksichtigen (BGE 125 V 150 Erw. 2c, 117 V 194
f. Erw. 3b; AHI 1997 S. 288 f. Erw. 1b, 1996 S. 197 Erw. 1c). Die Frage der
anwendbaren Bemessungsmethode beurteilt sich praxisgemäss nach den
Verhältnissen, wie sie sich bis zum Erlass der Verwaltungsverfügung
entwickelt haben, wobei für die hypothetische Annahme einer im
Gesundheitsfall ausgeübten (Teil-)Erwerbstätigkeit der im
Sozialversicherungsrecht übliche Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit erforderlich ist (BGE 125 V 150 Erw. 2c, 117 V 195; AHI
1997 S. 289).

2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner seit September
1991 nicht mehr erwerbstätig war und den Lebensunterhalt  aus dem Ertrag
eines von seinem 1992 verstorbenen Vater geerbten Liegenschaftsbesitzes
bestritt.

2.1 Nach Lage der Akten bildeten nicht die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
einschränkende gesundheitliche Beschwerden den Beweggrund für den Verzicht
des Versicherten auf eine Erwerbstätigkeit. Dies gilt jedenfalls bis zum
invalidisierenden Unfallereignis vom 15. Dezember 1998. Zwar leidet der
Beschwerdegegner seit Geburt an einem Bronchialasthma. Das kantonale Gericht
führt dazu unter Hinweis auf die Angaben des Versicherten im
Verwaltungsverfahren an, das Leiden sei nach einer vorübergehenden Besserung
im Jahr 1982 wieder aufgetreten. Damit ist aber eine die funktionelle
Leistungsfähigkeit beeinträchtigende Symptomatik nicht dargetan. Die
Vorinstanz gibt die entsprechende Aussage des Versicherten auch nur
unvollständig wieder, bestätigte er doch weiter, dass er im damaligen
Zeitpunkt ohne gesundheitliche Einschränkungen einer ausserhäuslichen
Tätigkeit habe nachgehen können. Dies steht auch im Einklang mit der
Tatsache, dass er in der Folge bis im Jahr 1991 vollzeitlich erwerbstätig war
und sich erst im Jahr 1998 veranlasst sah, wegen des Lungenleidens ärztliche
Behandlung aufzusuchen.

2.2 Das kantonale Gericht begründet die Annahme einer hypothetischen
Teilerwerbstätigkeit des Versicherten im Gesundheitsfalle sodann mit dessen
angespannter finanziellen Situation. Diese würde ihn zur Aufnahme einer
ausserhäuslichen Arbeit zwingen, wenn er hiezu gesundheitlich in der Lage
wäre.
Der Beschwerdegegner musste im Jahr 1999 einen Teil seines ererbten
Grundbesitzes veräussern, um ausstehende Unterhaltsbeiträge an seine Ehefrau
und die gemeinsame Tochter nachzuzahlen. Dies schränkte aber den Ertrag
seines Vermögens nur um rund einen Zehntel ein. Zu einer wesentlichen
Verschlechterung der finanziellen Verhältnisse hat entgegen Beschwerdegegner
und Vorinstanz auch die am 16. März 2001 ausgesprochene Ehescheidung nicht
geführt. Der vom Versicherten seither zu entrichtende Kinderunterhaltsbeitrag
ist mit monatlich Fr. 800.- niedriger als der gestützt auf die
Trennungsvereinbarung vom 26. März 1993 bis dahin - resp. bis zu der per 1.
Juli 2000 erfolgten Herabsetzung auf den genannten Betrag - geschuldete von
Fr. 900.-. Sodann wurde der Beschwerdegegner zwar im Scheidungsurteil
verpflichtet, der geschiedenen Ehefrau für nachehelichen Unterhalt eine
pauschale Abfindung von Fr. 136'000.- zu bezahlen. Er ist deswegen aber
bleibend von monatlichen persönlichen Unterhaltszahlungen an die ehemalige
Gattin entbunden. Da er damit einzig noch den Kinderunterhaltsbeitrag
schuldet, welcher nur einem Bruchteil der früheren gesamten Unterhaltspflicht
entspricht, ist dem weiteren Argument, wonach der Versicherte bei erneuter
Nichtbezahlung von Alimenten strafrechtliche Sanktionen zu gewärtigen hätte,
ebenfalls die Grundlage entzogen. Im Übrigen musste der Beschwerdegegner für
die Bezahlung der besagten Abfindung an die geschiedene Ehefrau nicht seine
Vermögensaktiven angreifen, was gegebenenfalls den daraus fliessenden und ihm
als Lebensunterhalt dienenden Ertrag geschmälert hätte. Vielmehr gewährte ihm
seine Schwester hiefür ein Darlehen, welches zinslos ist und über dessen
Rückzahlbarkeit keinerlei Angaben gemacht werden. Wird schliesslich
berücksichtigt, dass gemäss Darstellung in der vorinstanzlichen Beschwerde
der Vermögensertrag des Versicherten nach wie vor den nach seiner - hier
nicht näher zu prüfenden - Angabe (einschliesslich des Unterhaltsbeitrages an
die Tochter) rund Fr. 4000.- betragenden Notbedarf um etwa Fr. 500.-
übersteigt, kann eine finanzielle Notwendigkeit, welche ihn im
Gesundheitsfalle mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Aufnahme einer
entgeltlichen Tätigkeit bewogen hätte, nicht gesehen werden. Die IV-Stelle
hat den Beschwerdegegner somit zu Recht als Nichterwerbstätigen betrachtet
und, da er unbestrittenermassen im bisherigen und ohne Verschlechterung des
Gesundheitszustandes mutmasslich weiter ausgeübten Aufgabenbereich nicht
eingeschränkt ist, seinen Anspruch auf eine Invalidenrente verneint. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher, ohne dass weitere Abklärungen
angezeigt wären, gutzuheissen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, vom 22. April 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 8. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: