Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 337/2003
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I 337/03

Urteil vom 6. November 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari und Kernen; Gerichtsschreiber
Flückiger

L.________, 1968, Beschwerdeführerin, vertreten durch die Treuhand
Q.________,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 8. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 25. Juni 1992 lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau ein
Gesuch der 1968 geborenen L.________ um berufliche Eingliederungsmassnahmen
ab. Zur Begründung erklärte die Verwaltung, die für den Anspruch
vorausgesetzte Invalidität sei weder gegeben noch unmittelbar drohend. Die
Versicherte hatte nach einem Selbstunfall mit einem Auto am 2. September 1989
(Rutschen auf nasser Strasse, Kollision mit Leitplanke) und einem
Motorradunfall am 12. August 1990 (Sturz mit Helm auf den Hinterkopf nach
Kollision mit einem Auto in relativ langsamer Fahrt) insbesondere über
chronische Kopfschmerzen geklagt.
Am 17. Juni 1996 erlitt L.________ als Pilotin eines privaten Kleinflugzeugs
bei einer missglückten Landung erneut einen Unfall. Dabei zog sie sich gemäss
den medizinischen Akten eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) zu. Die
IV-Stelle holte Angaben der Arbeitgeberinnen Z.________ AG vom 28. April 1997
und P.________ AG vom 6. Mai 1997 ein und zog die den Unfall betreffenden
Akten der Unfallversicherung bei. Zudem nahm sie medizinische Abklärungen
vor. Anschliessend sprach sie der Versicherten mit Verfügung vom 9. Februar
2000 für die Zeit ab 1. Juni 1997 eine halbe Invalidenrente zu. Auf
Beschwerde hin hob die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit
Entscheid vom 30. August 2000 diese Verfügung auf und wies die Sache zur
weiteren Abklärung (Veranlassung einer interdisziplinären Begutachtung) an
die IV-Stelle zurück. Diese gab bei der Klinik X.________ ein Gutachten in
Auftrag, welches am 17. Juli 2001 erstattet wurde. Anschliessend sprach die
Verwaltung der Versicherten mit Verfügung vom 10. Oktober 2002 wiederum eine
halbe Rente ab 1. Juni 1997 zu.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau ab (Entscheid vom 8. April 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt L.________ die Zusprechung einer
ganzen Rente ab 1. Juni 1997, eventualiter die Rückweisung der Sache an die
IV-Stelle zur Ergänzung der Abklärungen beantragen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In der Begründung zur Verfügung vom 10. Oktober 2002 werden die gesetzlichen
Bestimmungen über die Voraussetzungen und den Umfang des Anspruchs auf eine
Rente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), die Ermittlung
des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) und die Entstehung des
Rentenanspruchs (Art. 29 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Die kantonale
Rekurskommission ihrerseits hat die Rechtsprechung über die Aufgabe des
Arztes oder der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261
Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1) sowie die
Beweiswürdigung und den Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE
125 V 352 ff. Erw. 3) korrekt wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Richtig
ist auch, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im
vorliegenden Fall nicht anwendbar ist (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung.

3.
3.1 Für die Beurteilung des medizinischen Sachverhalts stellten Verwaltung und
Vorinstanz auf das Gutachten der Klinik X.________ vom 17. Juli 2001 ab.
Dieses stützt sich auf die Vorakten sowie zusätzliche spezialärztliche
Untersuchungen in internistisch-rheumatologischer, psychosomatischer,
neurologischer und neuropsychologischer Hinsicht. Ausserdem wurde während des
Aufenthalts in der Klinik X.________ eine Evaluation der funktionellen
Leistungsfähigkeit durchgeführt. Das Gutachten nennt die Diagnosen eines
chronischen Cervicothoracovertebralsyndroms und eines chronischen
cervicocephalen Syndroms, dies bei/mit Fehlform und Fehlhaltung der
Wirbelsäule bei diskreten degenerativen Veränderungen der unteren HWS
(Chondrose C5/6), muskulärer Dysbalance, Spannungskopfschmerzen und leichten
neuropsychologischen Defiziten, verbunden mit psychischen Faktoren,
Verhaltensfaktoren und äusseren Umständen sowie Status nach HWS-Distorsionen
1989, 1990 und 1996. Die begutachtenden Ärzte gelangen zum Ergebnis, die
Beschwerdeführerin sei in ihrer zuletzt ausgeübten Tätigkeit als
Sachbearbeiterin wie auch in einer anderen Bürotätigkeit zu 50 %
arbeitsfähig. Gleiches gelte in Bezug auf andere, körperlich leichte und
wechselbelastende berufliche Tätigkeiten. Eine derartige Arbeit könne die
Versicherte halbtags ausüben, wobei sie die Möglichkeit haben sollte, ihre
Körperpositionen zu unterbrechen und bei Bedarf kurze Erholungspausen von ca.
fünf Minuten einzulegen. Zu vermeiden seien wiederholte Rotationsbewegungen
mit dem Rumpf sowie länger anhaltende Körperhaltungen wie vornübergeneigtes
Stehen oder Sitzen sowie Arbeiten über Kopf.

3.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet die Aussagekraft des Gutachtens der
Klinik X.________. Sie beruft sich namentlich auf die anders lautenden
Aussagen des Dr. med. G.________, Innere Medizin, speziell Rheumakrankheiten
FMH. Dieser Arzt erklärt in seiner Stellungnahme vom 23. Januar 2002, die
Beschwerdeführerin leide an einem seit Oktober 1999 konstanten
cervicocephalen Syndrom mit Blockierung der Kopfgelenke und ausgeprägten
muskulären Verspannungen des ganzen Nacken-Schultergürtels. Der schubweise
Verlauf sei gekennzeichnet durch immer wieder akute invalidisierende
Kopfschmerzen und Nacken-Schulterschmerzen, begleitet von vermehrten
Schwindelbeschwerden, Konzentrationsstörungen sowie auch reaktiven
depressiven Verstimmungen. Dr. med. G.________ führt weiter aus, er stimme
den Aussagen im Gutachten der Klinik X.________ mit Bezug auf Anamnese,
Untersuchungsbefunde sowie Diagnosen zu. Lediglich in der Beurteilung der
Persönlichkeit der Patientin müsse er eine Korrektur anbringen, habe er sie
doch immer als sehr korrekt und äusserst kooperativ erlebt. Nicht zustimmen
könne er ausserdem der Aussage, es bestehe in der zuletzt ausgeübten
Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 50 %. Einer Erwerbstätigkeit in diesem
Ausmass stünden der schubweise Verlauf mit immer wieder massiven
Kopfschmerzen sowie auch die Konzentrationsstörung und die reaktive
Depression entgegen. In einem Schreiben an die Unfallversicherung vom 4.
Oktober 2002 erklärt Dr. med. G.________, wegen der Dauerschmerzen sowie der
neuropsychologischen Funktionsstörungen mit Leistungsschwäche,
Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit sei die Versicherte weiterhin
voll arbeitsunfähig.

3.3 Das Gutachten der Klinik X.________ basiert auf umfassenden
multidisziplinären Untersuchungen und wurde unter Einbezug der Vorakten
erstattet. Die Ärzte gelangen in ausführlicher Erörterung der Befunde zu
nachvollziehbar begründeten, schlüssigen Ergebnissen. Das Gutachten wird
daher, wie die Vorinstanz zu Recht erkannt hat, den von der Rechtsprechung
entwickelten Anforderungen an eine beweiskräftige medizinische Stellungnahme
(BGE 125 V 352 Erw. 3a) gerecht. Die in der vorinstanzlichen
Beschwerdeschrift erhobenen Einwände sind unbegründet. Insbesondere bestehen
keinerlei Hinweise darauf, dass die psychiatrische Beurteilung durch den
Umstand beeinflusst worden wäre, dass der entsprechende Spezialarzt die
Explorandin phasenweise als abwertend, seine Bemühungen boykottierend
empfand. Der im Bericht über die Evaluation der funktionellen
Leistungsfähigkeit enthaltene Hinweis, über die im Rahmen der durchgeführten
Tests festgestellten Einschränkungen hinaus sei eine zusätzliche
Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit infolge der Kopfschmerzen
möglich, fand Eingang in den Schlussbericht, welchen derselbe Arzt verfasste,
und wurde im Rahmen der Gesamtbeurteilung - unter Einbezug der verschiedenen
spezialärztlichen sowie der neuropsychologischen Begutachtung, welche ein
insgesamt leicht beeinträchtigtes Leistungsprofil ergab - berücksichtigt.
Wie die kantonale Rekurskommission mit ausführlicher und sorgfältiger
Begründung dargelegt hat, sind auch die Stellungnahmen des Dr. med.
G.________ nicht geeignet, die Aussagen im Gutachten der Klinik X.________ in
Frage zu stellen. Die diesbezüglich in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erneut vorgebrachten Argumente wurden bereits durch die Vorinstanz
überzeugend behandelt und entkräftet. Dementsprechend ist der
Invaliditätsbemessung das im Gutachten der Klinik X.________ vom 17. Juli
2001  formulierte Zumutbarkeitsprofil zu Grunde zu legen. Dieses bezieht sich
auf den Zeitraum ab 23. Dezember 1996 (entsprechend dem Austrittsbericht der
Rehaklinik Y.________ vom 17. Dezember 1996).

4.
4.1 Für den zur Bestimmung des Invaliditätsgrades massgebenden
Einkommensvergleich (Art. 28 Abs. 2 IVG) ist auf die Verhältnisse im
Zeitpunkt des (eventuellen) Rentenbeginns abzustellen. Ausserdem sind
gegebenenfalls bis zum Erlass der Rentenverfügung eingetretene Veränderungen
zu berücksichtigen, indem auf den entsprechenden Zeitpunkt hin ein weiterer
Einkommensvergleich vorgenommen wird. In jedem Fall sind das Validen- und das
Invalideneinkommen auf zeitidentischer Grundlage zu ermitteln (BGE 129 V 223
f. Erw. 4.1 und 4.2 mit Hinweisen).

4.2 Laut den medizinischen Akten war die Beschwerdeführerin ab dem
(Flugzeug-)Unfall vom 17. Juni 1996 in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als
Sachbearbeiterin zu mindestens 50 % arbeitsunfähig. Der Rentenanspruch konnte
daher im Juni 1997 entstehen (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG). Dementsprechend ist
für die Invaliditätsbemessung von den damaligen Verhältnissen auszugehen.
Gemäss den Angaben der Arbeitgeberin im Bericht vom 6. Mai 1997 sowie in der
Unfallmeldung UVG vom 19. Juni 1996 hätte die Beschwerdeführerin zu diesem
Zeitpunkt einen Jahresverdienst von Fr. 52'650.- (13 x Fr. 4050.-) erzielt.
Da die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis per 28. Februar 1997 gekündigt
hatte, kann demgegenüber das Invalideneinkommen entgegen der Auffassung von
Verwaltung und Vorinstanz nicht auf derselben Grundlage festgesetzt werden.
Stattdessen sind - in Ermangelung einer tatsächlich ausgeübten
Erwerbstätigkeit - Tabellenlöhne in Form der vom Bundesamt für Statistik
herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukurerhebung (LSE) beizuziehen (vgl.
BGE 126 V 76 f. Erw. 3b). Angesichts des in der neuropsychologischen
Begutachtung festgestellten leicht beeinträchtigten Leistungsprofils ist
trotz der Berufserfahrung der Beschwerdeführerin als Sachbearbeiterin von
einer einfachen und repetitiven Tätigkeit (Anforderungsniveau 4) auszugehen.
Auf der Basis des monatlichen Bruttolohns (Zentralwert bei einer
standardisierten Arbeitszeit von 40 Wochenstunden) der im privaten Sektor in
diesem Anforderungsniveau beschäftigten Frauen im Jahr 1996 von Fr. 3455.-
(LSE 1996 S. 17 Tabelle A1), bei einer durchschnittlichen betriebsüblichen
Arbeitszeit im Jahr 1997 von 41,9 Stunden pro Woche (Die Volkswirtschaft
5/2003, Heft 6, S. 82, Tabelle B 9.2) und unter Berücksichtigung der
durchschnittlichen allgemeinen Lohnentwicklung von 1996 auf 1997 (+ 0,5 %;
Die Volkswirtschaft 5/2003 S. 83 Tabelle B10.2) ergibt sich bei einer
Restarbeitsfähigkeit von 50 % ein Betrag von Fr. 21'823.-.
Rechtsprechungsgemäss kann einer zu erwartenden behinderungsbedingten
Lohneinbusse - unter Einschluss allfälliger deren Höhe beeinflussender
individueller Faktoren - durch einen prozentualen Abzug von diesem
Tabellenlohn Rechnung getragen werden (BGE 126 V 79 f. Erw. 5b mit
Hinweisen). Die Verwaltung hat diesen Abzug auf 10 % beziffert. Dies ist
angesichts der konkreten Umstände (vermehrter Pausenbedarf; Schweizerin;
berufliche Qualifikationen, welche über den Bereich der einfachen und
repetitiven Tätigkeiten hinaus gehen; Teilzeittätigkeit, welche sich bei
Frauen gemäss Statistik nicht einkommensmindernd auswirkt) nicht zu
beanstanden (vgl. zur Bemessung des Abzugs BGE 126 V 79 Erw. 5b und zu deren
Überprüfung im Rechtsmittelverfahren BGE 126 V 81 Erw. 6). Das auf diese
Weise resultierende Invalideneinkommen von Fr. 19'641.- ergibt in
Gegenüberstellung zum Valideneinkommen von Fr. 52'650.- einen
Invaliditätsgrad von 62,7 %, der einen Anspruch auf eine halbe Rente
begründet. Es bestehen keine Hinweise auf eine wesentliche Veränderung des
Invaliditätsgrades im Verlauf des Zeitraums bis zum Erlass der Verfügung vom
10. Oktober 2002. Insbesondere kann für die Umschreibung des
Zumutbarkeitsprofils während des gesamten relevanten Zeitraums auf das
Gutachten der Klinik X.________ vom 17. Juni 2001 abgestellt werden. Die
IV-Stelle hat daher der Versicherten mit der vorinstanzlich bestätigten
Verfügung vom 10. Oktober 2002 zu Recht eine halbe Rente ab 1. Juni 1997
(Art. 29 Abs. 2 IVG) zugesprochen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 6. November 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: