Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 328/2003
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I 328/03

Urteil vom 23. Oktober 2003

I. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Leuzinger,
Bundesrichter Rüedi und Bundesrichterin Widmer; Gerichtsschreiberin Keel
Baumann

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdeführerin,

gegen

K.________, 1959, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Stefan Hofer,
Spalenberg 20, 4051 Basel

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 2. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Im August 1999 meldete sich der 1959 geborene K.________ bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, worauf die zuständige IV-Stelle
des Kantons Thurgau verschiedene Abklärungen in medizinischer und
erwerblicher Hinsicht vornahm.

B.
Im Januar 2003 liess K.________ Beschwerde erheben mit dem Antrag, es sei
festzustellen, dass die IV-Stelle, indem sie bis 7. Januar 2003 keine
Verfügung erliess, eine unzulässige Rechtsverzögerung begangen habe. Es sei
der Verwaltung für den Erlass der Verfügung eine kurze Frist zu setzen. Die
IV-Stelle sei zu verpflichten, ihm auf der allenfalls geschuldeten Rente ab
1. Oktober 2000 den gesetzlichen Verzugszins zu gewähren.
Im Verlaufe des kantonalen Verfahrens - am 14. Februar 2003 - erliess die
IV-Stelle eine Verfügung, mit welcher sie das Leistungsbegehren abwies.
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, an welche das angerufene
Versicherungsgericht des Kantons Thurgau die Sache zuständigkeitshalber
überwiesen hatte, hiess die von K.________ eingereichte Beschwerde gut,
soweit sie sich nicht aufgrund des Erlasses der Verfügung vom 14. Februar
2003 als gegenstandslos erwies, und stellte fest, dass aufgrund länger
dauernder Untätigkeiten während des Verwaltungsverfahrens eine
Rechtsverzögerung vorliege und im Falle der rückwirkenden Zusprechung einer
Rente der Invalidenversicherung gemäss den Erwägungen eine Verzugszinspflicht
bestehe (Entscheid vom 2. April 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des
kantonalen Entscheides betreffend Verzugszinspflicht.
Während der Versicherte auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf
eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wendet sich die IV-Stelle einzig
insoweit gegen den vorinstanzlichen Entscheid, als sie darin zur Leistung von
Verzugszins im Falle der rückwirkenden Zusprechung einer Rente verpflichtet
worden ist, während sie ausdrücklich anerkennt, eine Rechtsverzögerung
begangen zu haben, sodass letztere Frage nicht mehr streitig und zu prüfen
ist.

2.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat von Amtes wegen zu prüfen, ob die
Sachurteilsvoraussetzungen, die für die Beurteilung der gestellten
Rechtsbegehren erfüllt sein müssen, gegeben sind. Hat die Vorinstanz
übersehen, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte, und hat sie
materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu
berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufzuheben ist
(BGE 128 V 89 Erw. 2a, 127 V 2 Erw. 1, 125 V 405 Erw. 4a; Gygi,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 73).

3.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil E. vom 20. März
2003, I 238/02, festgehalten hat, gilt in materiellrechtlicher Hinsicht der
allgemeine übergangsrechtliche Grundsatz, dass der Beurteilung jene
Rechtsnormen zugrunde zu legen sind, die gegolten haben, als sich der zu den
materiellen Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat (vgl. dazu BGE
127 V 467 Erw. 1, 126 V 136 Erw. 4b, je mit Hinweisen), und sind die
verfahrensrechtlichen Neuerungen mangels gegenteiliger Übergangsbestimmungen
mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem Umfang anwendbar (vgl.
dazu BGE 117 V 93 Erw. 6b, 112 V 360 Erw. 4a; RKUV 1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw.
3b). Die im ATSG enthaltenen und die gestützt darauf in den Spezialgesetzen
auf den 1. Januar 2003 geänderten Verfahrensbestimmungen gelangen daher
bereits vorliegend zur Anwendung.

4.
4.1 Die Vorinstanz ist - worüber Einigkeit unter den Parteien besteht -
zutreffend davon ausgegangen, dass seit In-Kraft-Treten des ATSG nicht mehr
das BSV, sondern das kantonale Sozialversicherungsgericht zuständig ist zur
Beurteilung von Rechtsverweigerungs- oder Rechtsverzögerungsbeschwerden im
Bereich der Invalidenversicherung (Urteil D. vom 23. Oktober 2003, I 387/03;
Meyer-Blaser, Die Rechtspflegebestimmungen des Bundesgesetzes über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], in: Haftung und
Versicherung [HAVE] 5/2002 S. 329; Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, Rz 11
zu Art. 56), und insoweit zu Recht auf die vom Versicherten erhobene Rüge
einer unrechtmässigen Rechtsverzögerung eingetreten.

4.2 Nach der zur Rechtslage vor In-Kraft-Treten des ATSG ergangenen
Rechtsprechung bilden die materiellen Rechte und Pflichten bei
Rechtsverweigerungs- oder Rechtsverzögerungsbeschwerden nicht
Streitgegenstand (vgl. RKUV 2000 Nr. KV 131 S. 245 Erw. 2; nicht
veröffentlichtes Urteil B. vom 5. Juli 1999, I 54/99). Begründet wurde diese
Praxis mit dem Grundsatz, dass die Gutheissung einer Rechtsverweigerungs-
oder Rechtsverzögerungsbeschwerde zur Rückweisung der Sache an die untätige
Vorinstanz führt (vgl. u.a. Gygi, a.a.O., S. 226; Rhinow/Koller/Kiss,
Öffentliches Prozessrecht und Justizverfassungsrecht des Bundes, Basel und
Frankfurt a.M. 1996, Rz 224, 229 und 1649; Kieser, Das Verwaltungsverfahren
in der Sozialversicherung, Zürich 1999, Rz 507 und 516;
Merkli/Aeschlimann/Herzog, Kommentar zum bernischen VRPG, Bern 1997, N 73 zu
Art. 49), und damit, dass es nicht Sache des kantonalen Gerichts ist, in
einem Rechtsverweigerungs- oder Rechtsverzögerungsprozess materiell zu
entscheiden und erstmals den rechtserheblichen Sachverhalt zu ermitteln (RKUV
2000 Nr. KV 131 S. 246 Erw. 2d).
An dieser Rechtsprechung ist auch unter dem Geltungsbereich des ATSG -
welches in Art. 56 Abs. 2 eine allgemeine Regelung des Beschwerderechtes bei
Sachverhalten von Rechtsverzögerung oder -verweigerung vorsieht -
festzuhalten (vgl. auch Kieser, ATSG-Kommentar, Rz 12 zu Art. 56).

5.
5.1 Auf das vom Beschwerdegegner im Rahmen des von ihm eingeleiteten
Rechtsverzögerungsverfahrens gleichzeitig gestellte Begehren um Zusprechung
von Verzugszins, welches materiellrechtlicher Natur ist und damit nicht zum
Streitgegenstand gehört, hätte die Vorinstanz nach dem Gesagten - sowohl
gemäss der vor als auch gemäss der nach In-Kraft-Treten des ATSG geltenden
Rechtslage (Erw. 4 hievor) - nicht eintreten dürfen. Ihr Entscheid ist daher,
soweit er die Verzugszinspflicht betrifft, von Amtes wegen aufzuheben.

5.2 Ganz abgesehen von diesen dem Gericht in prozessrechtlicher Hinsicht
gesetzten Schranken sei erwähnt, dass es mit Blick darauf, dass es sich beim
Verzugszins um eine akzessorische Leistung handelt, keinen Sinn machte, über
einen allfälligen Anspruch auf Verzugszins zu befinden, bevor nicht der
diesem zugrunde liegende Hauptanspruch - vorliegend der Anspruch des
Beschwerdegegners auf eine Rente der Invalidenversicherung - feststeht.

6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die IV-Stelle als obsiegende
Behörde hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 135 in Verbindung
mit Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 2. April 2003 insoweit
aufgehoben, als er die Verzugszinspflicht betrifft.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wird über eine Neuverlegung
der Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 23. Oktober 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin:

i.V.