Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 318/2003
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I 318/03

Urteil vom 12. Oktober 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Keel Baumann

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

M.________, 1990, Beschwerdegegner, vertreten
durch seine Eltern, und diese vertreten durch
Dr. med. F.________

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 28. März 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1990 geborene M.________ wurde 1997 in die Normalklasse eingeschult.
Anlässlich der ersten Untersuchung vom 14. Februar 2001 diagnostizierte Dr.
med. F.________, Pädiatrie FMH, beim Versicherten ein psychoorganisches
Syndrom (POS). Er leitete eine psychomotorische Therapie ein und schlug die
Behandlung mit Ritalin vor. Am 14. Juni 2001 wurde M.________ durch seine
Eltern bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Mit
Verfügung vom 28. Februar 2002 verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich,
nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren, einen Anspruch auf medizinische
Massnahmen.

B.
Ein von Dr. med. F.________ gestelltes Gesuch um Wiedererwägung wurde von der
IV-Stelle, nachdem die Eltern von M.________ die entsprechende
Vertretungsvollmacht nachgereicht hatten, als Beschwerde an das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich überwiesen. Dieses hiess das
Rechtsmittel mit Entscheid vom 28. März 2003 in dem Sinne gut, dass es die
Verfügung insoweit aufhob, als damit ein Anspruch auf medizinische Massnahmen
im Sinne von Art. 12 IVG verneint wurde, und wies die Sache an die IV-Stelle
zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen vorgehe und über den Anspruch auf
medizinische Massnahmen neu verfüge.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen
Entscheides.
Die den Versicherten gesetzlich vertretenden und ihrerseits durch Dr. med.
F.________ vertretenen Eltern lassen sich nicht vernehmen. Die IV-Stelle
schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im letztinstanzlichen Verfahren ist nicht mehr bestritten, dass die
hyperkinetische Störung in Form eines POS, an welcher der Versicherte leidet,
die für die Anerkennung als Geburtsgebrechen gemäss Art. 13 IVG in Verbindung
mit Ziffer 404 GgV Anhang geltenden Voraussetzungen (vgl. dazu auch BGE 122 V
113) nicht erfüllt, weshalb eine Kostenübernahme gestützt hierauf entfällt.
Es kann diesbezüglich auf die zutreffenden Erwägungen im kantonalen Entscheid
verwiesen werden.
Zu prüfen bleibt, ob eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung gemäss
Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG in Betracht fällt, wobei
streitig ist, ob für die Beurteilung dieser Frage, entsprechend dem
angefochtenen Rückweisungsentscheid, ergänzende Abklärungen notwendig sind.

2.
2.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 28.
Februar 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit
Hinweisen).

2.2 Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat ein Versicherter Anspruch auf medizinische
Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern
unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die
Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher
Beeinträchtigung zu bewahren. Um Behandlung des Leidens an sich geht es in
der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen pathologischen Geschehens.

Die Invalidenversicherung übernimmt grundsätzlich nur solche medizinische
Vorkehren, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler oder
wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände oder Funktionsausfälle
hinzielen und welche die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten
Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (BGE 120 V 279 Erw. 3a
mit Hinweisen; AHI 2003 S. 104 Erw. 2). Bei nicht erwerbstätigen
minderjährigen Versicherten ist zu beachten, dass diese als invalid gelten,
wenn ihr Gesundheitsschaden künftig wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit
zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung können
daher medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon dann überwiegend der
beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen
Leidenscharakters von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne
diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter
Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder
beide beeinträchtigt würden (BGE 105 V 20; AHI 2003 S. 104 Erw. 2). Umgekehrt
kommen medizinische Massnahmen der Invalidenversicherung auch bei
Minderjährigen nicht in Betracht, wenn sich solche Vorkehren gegen psychische
Krankheiten richten, welche nach heutiger Erkenntnis der medizinischen
Wissenschaft ohne kontinuierliche Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden
können. Dies trifft unter anderem auf Schizophrenien zu (AHI 2000 S. 64 Erw.
1). Es darf keine Therapie von unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine
längere Zeit hinweg in Frage stehen, bei der sich hinsichtlich des damit
erreichbaren Erfolges keine zuverlässige Prognose stellen lässt (AHI 2003 S.
106 Erw. 4b).

3.
3.1 Einen Anspruch auf Übernahme der Behandlung mit Ritalin bei POS hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt abgelehnt (AHI 2003 S. 103;
Urteile F. vom 14. Oktober 2003, I 298/03, und B. vom 27. Oktober 2003, I
484/02). Zur Begründung hat es unter Hinweis auf die medizinische Literatur
(Hans-Christoph Steinhausen, Psychische Störungen bei Kindern und
Jugendlichen, Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 4. Aufl., München
2000,  S. 89 ff. mit weiteren Hinweisen) festgehalten, der Massnahme komme
kein überwiegender Eingliederungscharakter zu, weil sie nicht geeignet sei,
den Eintritt eines stabilisierten Zustandes, wodurch die Berufsbildung oder
die Erwerbstätigkeit oder beide beeinträchtigt würden, zu verhindern. Es
stehe eine Therapie von unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine längere
Zeit hinweg in Frage, wobei sich über den damit erreichbaren Erfolg keine
zuverlässige Prognose stellen lasse, weil klinisch oder wissenschaftlich
sichere Faktoren, welche für individuelle Patienten eine Vorhersage erlauben
würden, nicht existierten.

3.2 Beim vorliegend am Recht stehenden Versicherten verhält es sich nicht
anders. Aus diesem Grunde steht bereits im heutigen Zeitpunkt fest, dass die
IV-Stelle einen Leistungsanspruch hinsichtlich der Behandlung mit Ritalin
aufgrund von Art. 12 IVG zu Recht verneint hat, sodass sich - entgegen der im
angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung - weitere Abklärungen
erübrigen (AHI 2003 S. 105 Erw. 4a und b; vgl. auch AHI 2000 S. 67 Erw. 4b
mit Hinweis), wie das BSV in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend
geltend macht.

4.
Was die streitige Psychomotorik-Therapie anbelangt, stellt sich vorab die
Frage, ob diese im vorliegenden Fall als medizinische oder eher als
pädagogisch-therapeutische Massnahme zu qualifizieren ist (vgl. dazu BGE 121
V 13 Ew. 3, 114 V 27 Erw. 3a mit Hinweisen). Da sich den vorhandenen Akten
nur gerade entnehmen lässt, dass der Versicherte die Therapie bei G.________
besucht hat, nähere Angaben zu Inhalt und Zielsetzung der Vorkehr hingegen
vollständig fehlen, lässt sich nicht feststellen, welcher der beiden
Gesichtspunkte überwiegt. Diese Frage wird durch die IV-Stelle, an welche die
Sache zurückgewiesen wird, zu prüfen sein. Ist die Psychomotorik-Therapie als
medizinische Vorkehr zu betrachten, wäre die vom BSV in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde angesprochene Eingliederungswirksamkeit der
Massnahme näher abzuklären. Fest steht hingegen, dass eine Qualifikation als
pädagogisch-therapeutische Vorkehr zu einer Ablehnung des Leistungsbegehrens
führen würde, weil die psychomotorische Therapie nicht zu den in Art. 9 Abs.
2 IVV abschliessend (vgl. dazu AHI 2000 S. 74 Erw. 3b) aufgezählten, von der
Invalidenversicherung im Falle des Volksschulbesuchs zu entschädigenden
Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art zählt, wie das Eidgenössische
Versicherungsgericht in BGE 128 V 95 entschieden hat.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird insoweit teilweise gutgeheissen, als
der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 28. März
2003 vollständig und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 28.
Februar 2002, soweit sie die Psychomotorik-Therapie betrifft, aufgehoben
werden. Die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie über den
Anspruch auf Übernahme der Psychomotorik-Therapie, nach erfolgter Abklärung
im Sinne der Erwägungen, erneut verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der IV-Stelle des Kantons Zürich und der Ausgleichskasse des Kantons
Zürich zugestellt.
Luzern, 12. Oktober 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: