Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 29/2003
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I 29/03

Urteil vom 30. September 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Hochuli

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Birmensdorferstrasse 94, 8003 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

betreffend C.________, 1939

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 10. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1939 geborene, als Maschinenoperateur für die F.________ AG in X.________
arbeitende C.________ litt unter beidseitigem grauem Star. Am 27. Dezember
2001 meldete er sich bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an. Diese
übernahm mit Verfügung vom 8. April 2002 die Staroperation am linken Auge als
medizinische Eingliederungsmassnahme und lehnte gleichzeitig eine
Leistungspflicht hinsichtlich desselben Eingriffs am rechten Auge ab, weil
der Versicherte für die Ausübung seiner Erwerbstätigkeit nicht auf
Binokularsehen angewiesen sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der HELSANA Versicherungen AG (nachfolgend:
HELSANA; obligatorische Krankenpflegeversicherung des C.________) hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 10. Dezember 2002 gut,
hob die Verwaltungsverfügung auf und wies die Sache zum weiteren Vorgehen im
Sinne der Erwägungen und anschliessenden Erlass einer neuen Verfügung an die
IV-Stelle zurück. Insbesondere verpflichtete das kantonale Gericht die
Verwaltung zur genauen Abklärung des konkreten Tätigkeitsspektrums des
Versicherten sowie zur Einholung einer augenärztlichen Stellungnahme
betreffend die Frage der Notwendigkeit des Binokularsehens.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids.

Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichten sowohl die HELSANA als auch der Versicherte auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Invaliditätsbegriff
(Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen des Anspruchs auf
Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und den Anspruch
auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG) zutreffend
dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen dazu, dass Art. 12 IVG
namentlich die gegenseitige Abgrenzung der Aufgabenbereiche der
Invalidenversicherung einerseits sowie der Kranken- und Unfallversicherung
andererseits bezweckt (BGE 104 V 81 Erw. 1 mit Hinweis), dass die Übernahme
der Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art.
12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit
Hinweisen), dass aber eine Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener
Sehfähigkeit des anderen Auges nur dann von der Invalidenversicherung
übernommen werden kann, wenn der Defekt die versicherte Person dermassen in
der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des
Eingriffs die Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre (AHI 2000 S.
296 f. Erw. 4b). Darauf wird verwiesen.

1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in
Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: vom 8. April 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE
121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Fest steht, dass bei C.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde
vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b,
97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen).
Unbestritten ist ferner, dass das Alter des Versicherten - er befand sich im
massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (8. April 2002) in seinem 63.
Lebensjahr - der Übernahme der Kataraktoperation im Januar/Februar 2002 durch
die Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des zu
erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegen steht (BGE 101 V 50 Erw.
3b).

3.
Während das kantonale Gericht unter Aufhebung der Verwaltungsverfügung die
Sache zur weiteren erwerblichen und medizinischen Abklärung sowie
anschliessenden Neuverfügung an die IV-Stelle zurückwies, beantragt das BSV
im Wesentlichen, auf zusätzliche Abklärungen sei zu verzichten, weil der
Versicherte für die Ausübung seiner Tätigkeit nicht auf Binokularsehen
angewiesen sei und auch der Blendeffekt keine wesentliche Beeinträchtigung
der Erwerbsfähigkeit zur Folge habe.

Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit des Versicherten beantwortet werden kann.

3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung
(vgl. AHI 2000 S. 294) zur Übernahme der Kataraktoperation durch die
Invalidenversicherung im Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend,
dass dieser Eingriff am zweiten Auge bei (durch Staroperation) erhaltener
Sehfähigkeit am andern Auge - unter Erfüllung der übrigen Voraussetzungen
nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische Eingliederungsmassnahme
zu übernehmen ist, wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im
Rahmen des ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser
Tätigkeiten die Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht
bejaht wird. In denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische
Mindestanforderungen an die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf
diese Visusgrenzwerte abzustellen, so dass sich in erwerblicher Hinsicht eine
detaillierte Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.

3.2 Den Akten ist nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V
195 Erw. 2, je mit Hinweisen) zu entnehmen, welche konkreten Tätigkeiten der
gelernte Mechaniker als Maschinenoperateur in der F.________ AG zu verrichten
hat. Die Verwaltung wird in geeigneter Form - z.B. durch Einholung eines
Pflichtenheftes und Befragung des Arbeitgebers - das Tätigkeitsspektrum des
Versicherten abklären.

3.3 Steht fest, welches die visuell anspruchvollste Tätigkeit des
Beschwerdegegners ist, wird die IV-Stelle einen fachärztlichen Bericht zur
diesbezüglichen Notwendigkeit des Binokularsehens einholen, der nicht allein
auf die subjektiven Angaben des Versicherten abstellt, sondern vielmehr für
die streitigen Belange umfassend ist, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben wird und der
konkreten medizinischen Situation Rechnung trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353
Erw. 3a). Soweit der einseitige Ausfall der Sehfähigkeit durch Angewöhnung an
den Verlust des stereoskopischen Sehens zumutbarerweise kompensiert werden
kann (vgl. z.B. die viermonatige Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in
der Führerausweis-Kategorie B gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober
1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV;
SR 741.51]), hat dies der Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu
Stellung zu nehmen. Zusätzlich wird er die Frage betreffend die Auswirkungen
von störenden Blendeffekten beantworten müssen. Erfolgt die augenärztliche
Beurteilung dieser Fragen - wie hier - erst nach bereits durchgeführter
Operation, sind sie medizinisch prognostisch aufgrund der Verhältnisse vor
der fraglichen Operation (AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen) zu
beantworten.

3.4 Nach dem Gesagten steht fest, dass die Vorinstanz die
Verwaltungsverfügung zu Recht aufhob und die Sache zur weiteren Abklärung an
die IV-Stelle zurückwies. Die Verwaltung wird dabei gemäss den Erwägungen
Ziffer 3.2 und 3.3 vorgehen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherten, der Ausgleichskasse der
Schweizer Maschinenindustrie, Zürich, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und der IV-Stelle Bern
zugestellt.

Luzern, 30. September 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: