Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 298/2003
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I 298/03

Urteil vom 14. Oktober 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Hadorn

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, 1991, Beschwerdegegner, handelnd durch die Eltern S.________ und
I.________

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 7. März 2003)

Sachverhalt:

A.
F. ________ (geb. 22. Februar 1991) leidet an einem Psychoorga-nischen
Syndrom (POS). Mit Verfügung vom 10. September 2002 lehnte die IV-Stelle des
Kantons Zürich ein Gesuch um medizinische Massnahmen zur Behandlung dieses
Leidens ab.

B.
Die von F.________, vertreten durch seine Eltern, hiegegen erhobene
Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit
Entscheid vom 7. März 2003 in dem Sinne gut, dass es die Sache zu näheren
Abklärungen im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben.

Während die Eltern von F.________ sich zur Sache äussern, ohne einen
konkreten Antrag zu stellen, schliesst das Bundesamt für So-zialversicherung
auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzlichen Be-stimmungen
zum Anspruch auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 Abs. 1
und 2 IVG; Art 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 3 GgV) und bei angeborenem POS (Ziff.
404 GgV-Anhang) sowie die Rechtsprechung (BGE 122 V 118 Erw. 3a; 105 V 20,
100 V 107; vgl. auch AHI 2003 S. 104 Erw. 2, 2000 S. 64 Erw. 1) zutreffend
dargelegt. Richtig ist auch, dass ATSG und ATSV vorliegend nicht anwendbar
sind. Darauf wird verwiesen.

2.
Im letztinstanzlichen Verfahren ist unbestritten, dass die psychische
Störung, an welcher der Versicherte leidet, die für die Anerkennung als
Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 404 GgV-Anhang geltenden Voraussetzungen nicht
erfüllt, weshalb medizinische Massnahmen gestützt auf Art. 13 IVG entfallen.
Zu prüfen bleibt, ob eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung gemäss
Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG in Betracht fällt, wobei
streitig ist, ob für die Beurteilung dieser Frage, wovon die Vorinstanz
ausging, ergänzende Abklärungen notwendig sind.

3.
Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat ein Versicherter Anspruch auf medizini-sche
Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern
unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die
Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbes-sern oder vor wesentlicher
Beeinträchtigung zu bewahren. Um Be-handlung des Leidens an sich geht es in
der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen pathologischen Geschehens.
Die Invalidenver-sicherung übernimmt grundsätzlich nur solche medizinische
Vorkeh-ren, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler oder
wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände oder Funktionsausfälle
hinzielen und welche die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten
Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (BGE 120 V 279 Erw. 3a
mit Hinweisen; AHI 2003 S. 104 Erw. 2). Bei nicht erwerbstätigen
minderjährigen Versicherten ist zu beachten, dass diese als invalid gelten,
wenn ihr Gesundheitsschaden künftig wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit
zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung können
daher medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon dann überwiegend der
beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen
Leidenscharakters von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne
diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter
Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder
beide beeinträchtigt würden (BGE 105 V 20; AHI 2003 S. 104 Erw. 2).

4.
Vorliegend ergibt sich aus dem Bericht von Dr. med. A._______, Facharzt FMH
für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, vom 9. August 2002,
dass die Psychotherapie bis Ende 2001 in wöchentlichen Stunden erfolgt sei,
hernach in zweiwöchentlichen Abständen bis Frühling 2002 und seither etwa
einmal monatlich. Die Behandlung sei sicher in drei- bis vierwöchentlichen
Abständen weiterhin notwendig, um die erreichten Fortschritte zu erhalten und
die sozialen Komponenten weiter zu verbessern. Es sei aber möglich, dass
wieder eine Krisensituation eintrete, welche eine intensivere, wöchentliche
Psychotherapie erfordern könnte. Bei Patienten mit einem POS sei meist eine
mehrjährige Behandlung nötig. Zudem bilde die Behandlung mit Ritalin einen
unverzichtbaren Bestandteil der Psychotherapie. Im Bericht vom 23. September
2002 präzisiert Dr. A.________, das Leiden des Versicherten sei nicht als
chronisch mit schlechter Prognose zu betrachten. Im Gegenteil habe der Junge
sich seit dem ersten Behandlungsjahr aus einer desolaten Situation sehr gut
entwickelt und die 4. Klasse erfolgreich bewältigen können. Diese gute und
recht rasche Entwicklung lasse "selbstverständlich" eine günstige Prognose
erwarten. Bei weiterhin positivem Verlauf seien eine erneute Reduktion der
Sitzungsfrequenz und ein Abschluss der Behandlung vorgesehen.

4.1 Die Angaben von Dr. A.________ sind insofern nicht ganz
wider-spruchsfrei, als im ersten Bericht von normalerweise mehrjährigen
Behandlungen die Rede ist und mit einem Rückfall in eine Krisensituation
gerechnet wird, während der zweite Bericht eine günstige Prognose und gar
einen Behandlungsabschluss in absehbarer Zeit in Aussicht stellt. Es kann
indessen festgehalten werden, dass einerseits bereits eine lange Zeit
andauernde Behandlung erfolgt und trotz gewisser Fortschritte ein Rückfall
mit Wiederaufflackern akuter Probleme nicht auszuschliessen ist und
anderseits die Einnahme von Ritalin unverzichtbar bleibt. Die günstige
Prognose vermag nicht zu überzeugen, wie sich aus dem Folgenden ergibt.

4.2 Das Leiden des Versicherten äussert sich unter anderem in
Hyperaktivität, Impulsivität, Konzentrationsstörungen und mangelnder
Verhaltenssteuerung (Bericht Dr. A.________ vom 17. Juli 2002). Es liegt mit
andern Worten eine hyperkinetische Störung vor (zum Begriff:
Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1994, S. 187 ff.; Lexikon der
Psychiatrie, Christian Müller [Hrsg.], Berlin, Heidelberg, New York, London,
Paris, Tokyo, 2. Aufl. 1986, S. 334). In der medizinischen Literatur
(Hans-Christoph Steinhausen, Psychische Störungen bei Kindern und
Jugendlichen, Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 4. Aufl., München
2000, S. 92, mit weiteren Hinweisen) wird zum Verlauf hyperkinetischer
Störungen, zu welchen die Leiden des Versicherten zu rechnen sind,
ausgeführt, dass sowohl retrospektive als auch prospektive Verlaufsstudien
die Möglichkeit einer Persistenz der hyperkinetischen Störungen über die
Adoleszenz hinaus belegen. Dabei ist die individuelle Prognose einer
hyperkinetischen Störung nicht zuletzt aufgrund des Spektrumcharakters der
Diagnose schwer bzw. kaum beurteilbar, sofern nicht eine massive dissoziale
Symptomatik im Kontext schon früh eine ungünstige Verlaufsform erwarten
lässt. Die pharmakotherapeutische Behandlung spielt bei hyperkinetischen
Störungen eine herausragende Rolle. Als Massnahme der ersten Wahl gilt dabei
die Behandlung mit Stimulanzien, zu welchen gemäss Arzneimittel-Kompendium
der Schweiz 2001 (S. 2207) auch Ritalin zu zählen ist. Nach
wissenschaftlichen Erkenntnissen bestehen die Wirkungen der Stimulanzien
kurzfristig in einer Besserung der Aufmerksamkeitsleistungen und einer
Abnahme der Hyperaktivität und des störenden Verhaltens gemäss Eltern- und
Lehrerurteil. Langfristig sind Stimulanzien ohne Gewöhnung und Abhängigkeit
weiterhin wirksam, wobei allerdings die Wirkung rein symptomatisch bleibt, so
dass eine anhaltende Besserung nach Absetzen der Medikation auf
Nachreifungsprozesse zurückgeführt werden muss (Steinhausen, a.a.O.,     S.
89 ff. mit weiteren Hinweisen). Vor diesem medizinischen Hinter-grund ist
erstellt, dass im Falle des Beschwerdegegners eine Therapie von
unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine längere Zeit hinweg in Frage
steht, wobei sich über den damit erreichbaren Erfolg keine zuverlässige
Prognose stellen lässt, weil klinisch oder wissenschaftlich sichere Faktoren,
welche für individuelle Patienten eine Vorhersage gestatten würden, nicht
existieren. Darüber hinaus kommt der Massnahme, da sie nicht geeignet ist,
den Eintritt eines stabilisierten Zustandes, wodurch die Berufsbildung oder
die Erwerbstätigkeit oder beide beeinträchtigt würden, zu verhindern, kein
überwiegender Eingliederungscharakter im Sinne des IVG zu. Da bei dieser
Sachlage bereits feststeht, dass die IV-Stelle einen Leistungsanspruch
aufgrund von Art. 12 IVG zu Recht verneint hat (vgl. AHI 2000 S. 67 Erw. 4b
mit Hinweis), erübrigen sich - entgegen der im angefochtenen Entscheid
vertretenen Auffassung - weitere Abklärungen. Die Massnahme gehört in den
Bereich der Krankenversicherung (zum Ganzen vgl. AHI 2003 S. 105 f. Erw. 4a
und b).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Ent-scheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 7. März 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 14. Oktober 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:
i. V.