Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 286/2003
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I 286/03

Urteil vom 1. Juli 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiber Attinger

S.________, 1948, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 25. Februar 2003)

Sachverhalt:
A.aDie 1948 geborene S.________ leidet seit dem 18. Juni 1995 an einer
sensomotorisch kompletten Paraplegie unterhalb Th 6. Die IV-Stelle des
Kantons Aargau sprach ihr mit Verfügung vom 26. Januar 1998 unter
Berücksichtigung eines Invaliditätsgrades von 73 % ab 1. Juni 1996 eine ganze
Invalidenrente zu. Mit einer weiteren Verfügung vom selben Datum gewährte die
IV-Stelle S.________ mit Wirkung ebenfalls ab 1. Juni 1996 eine
Hilflosenentschädigung wegen Hilflosigkeit "mittleren Grades" in der Höhe von
Fr. 498.- pro Monat. Dieser Betrag entsprach denn auch dem im
Verfügungsformular angegebenen mittleren Hilflosigkeitsgrad, wogegen die
IV-Stelle sowohl im der Verfügung beiliegenden Begründungsblatt als auch im
Vorbescheid vom 3. November 1997 und in der Mitteilung des
"HE/IV-Beschlusses" an die Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 30.
Dezember 1997 jeweils festgestellt hatte, es liege eine Hilflosigkeit
"leichten Grades" vor. Dass sie irrtümlicherweise eine Entschädigung für den
mittleren statt für den geringsten Hilflosigkeitsgrad verfügt und
ausgerichtet hatte, realisierte die Verwaltung erst im Januar 2000. Am 18.
Oktober 2000 setzte die IV-Stelle die bisher ausgerichtete
Hilflosenentschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren Grades rückwirkend ab
Leistungsbeginn (1. Juni 1996) auf eine solche wegen leichter Hilflosigkeit
herab und forderte gleichzeitig von S.________ den zu Unrecht bezogenen
Differenzbetrag im Umfange von insgesamt Fr. 11'330.- zurück.

Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 4. April 2001 in dem Sinne gut, als es die
streitige Herabsetzungs- und Rückerstattungsverfügung aufhob und die Sache an
die IV-Stelle zurückwies, damit diese, nach erfolgter Abklärung hinsichtlich
des Hilflosigkeitsgrades, über den Anspruch von S.________ auf
Hilflosenentschädigung ab 1. Juni 1996 und eine allfällige
Rückerstattungspflicht neu verfüge.

In Abweisung der von der IV-Stelle erhobenen Verwaltungsgerichtsbeschwerde
änderte das Eidgenössische Versicherungsgericht den vorinstanzlichen
Rückweisungsentscheid mit Urteil vom 13. September 2001 dahingehend, dass die
Verwaltung auch hinsichtlich der allenfalls zur Diskussion stehenden
Wiedererwägungsvoraussetzungen und der dadurch bestimmten
Rückerstattungspflicht ergänzende Abklärungen durchzuführen hätte.

A.b Gestützt auf einen Bericht über die in der Wohnung von S.________
vorgenommene Abklärung vom 15. April 2002 sprach ihr die IV-Stelle mit
Verfügung vom 20. Mai 2002 rückwirkend ab 1. Juni 1996 nur mehr eine
Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit zu. Überdies erneuerte
die Verwaltung mit Verfügung vom 24. Mai 2002 ihre Rückforderung über Fr.
11'330.- an unrechtmässig bezogenen Differenzbetreffnissen.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen die Rückforderung
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 25. Februar 2003 ab.

C.
S.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei von
einer Rückforderung abzusehen; eventuell sei die Streitigkeit durch Vergleich
zu erledigen.

Sowohl die IV-Stelle als auch das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten
auf eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Was die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung
dazu entwickelten Grundsätze anbelangt, kann auf die entsprechenden
eingehenden Darlegungen sowohl im angefochtenen Entscheid als auch im hievor
erwähnten Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 13. September
2001 verwiesen werden.

Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 24. Mai 2002)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1,
121 V 366 Erw. 1b).

In Abweichung davon sind verfahrensrechtliche Neuerungen mangels
gegenteiliger Übergangsbestimmungen mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort
und in vollem Umfang anwendbar (BGE 117 V 93 Erw. 6b, 112 V 360 Erw. 4a; RKUV
1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b). Die im ATSG enthaltenen und die gestützt
darauf in den Spezialgesetzen auf den 1. Januar 2003 geänderten
Verfahrensbestimmungen gelangen daher gegebenenfalls bereits im vorliegenden
Prozess zur Anwendung.

2.
Im Hinblick auf die von der IV-Stelle am 15. April 2002 durchgeführte
Abklärung des Hilflosigkeitsgrades ist nunmehr unter sämtlichen
Verfahrensbeteiligten zu Recht unbestritten, dass der Beschwerdeführerin eine
Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit zusteht (Art. 36 Abs. 3
lit d sowie lit a IVV; BGE 117 V 149 ff. Erw. 3a und b), wobei sich die
diesbezüglichen Gegebenheiten seit Leistungsbeginn (1. Juni 1996) nicht
verändert haben. Im eingangs erwähnten, ebenfalls die hier am Recht stehende
Versicherte betreffenden Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom
13. September 2001 wurde bereits festgestellt, dass der seinerzeitige Fehler
der Verwaltung (die [heute als richtig erkannte] Annahme einer bloss leichten
Hilflosigkeit führte bei der verfügungsmässigen Umsetzung irrtümlicherweise
zur Zusprechung einer Hilflosenentschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren
Grades) einen AHV-analogen Gesichtspunkt betraf (BGE 110 V 301 Erw. 2b).
Unter diesen Umständen greift grundsätzlich die rückwirkende
Leistungsherabsetzung mit daraus resultierender Rückerstattungspflicht
hinsichtlich der unrechtmässig bezogenen Differenzbetreffnisse Platz (Art. 85
Abs. 3 IVV; Meyer-Blaser, Die Rückerstattung von
Sozialversicherungsleistungen, in: ZBJV 131/1995 S. 473 ff., S. 493 f.). Wie
indessen im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt wurde, ist die
Rückforderung von zu Unrecht bezogenen Geldleistungen in der
Sozialversicherung nur unter den für die Wiedererwägung oder die prozessuale
Revision formell rechtskräftiger Verfügungen massgebenden Voraussetzungen
zulässig (126 V 23 Erw. 4b, 46 Erw. 2b, 399 Erw. 1). Auf die im
vorinstanzlichen Entscheid angeführten Wiedererwägungsvoraussetzungen der
zweifellosen Unrichtigkeit und der erheblichen Bedeutung der Berichtigung
(BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen) kann ebenfalls verwiesen werden.
Schliesslich lässt sich nicht beanstanden, dass IV-Stelle und Verwaltung die
Wiedererwägungserfordernisse im vorliegenden Fall bejaht haben. Die
ursprüngliche (irrtümlich erfolgte) Zusprechung einer Hilflosenentschädigung
wegen mittelschwerer Hilflosigkeit gemäss Verfügung vom 26. Januar 1998 war
angesichts des Abklärungsergebnisses vom 15. April 2002 auch materiell
zweifellos unrichtig. Ferner ist der Berichtigung dieser Verfügung mit Blick
auf die zu Unrecht bezogenen Differenzbetreffnisse von insgesamt Fr. 11'330.-
erhebliche Bedeutung beizumessen. Die verfügte, vorinstanzlich bestätigte
Rückerstattungspflicht entspricht nach dem Gesagten Gesetz und
Rechtsprechung.

3.
Zu prüfen bleibt, ob die Versicherte auf Grund des Vertrauensschutzprinzips
etwas zu ihren Gunsten ableiten kann.

3.1 Der in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben schützt den
Bürger und die Bürgerin in ihrem berechtigten Vertrauen auf behördliches
Verhalten und bedeutet u.a., dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden
unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende
Behandlung der Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist
eine falsche Auskunft bindend,

1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte
Personen gehandelt hat;

2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder
wenn die rechtsuchende Person die Behörde aus zureichenden Gründen als
zuständig betrachten durfte;

3. wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres
erkennen konnte;

4. wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen
getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können;

5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunftserteilung keine Änderung
erfahren hat (BGE 127 I 36 Erw. 3a, 126 II 387 Erw. 3a; RKUV 2001 Nr. KV 171
S. 281 Erw. 3b, 2000 Nr. KV 126 S. 223, Nr. KV 133 S. 291 Erw. 2a; zu Art. 4
Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 121 V 66 Erw. 2a
mit Hinweisen).
Diese Grundsätze gelten umso mehr, wenn die Behörde nicht nur eine Auskunft
erteilt, sondern Anordnungen getroffen hat; denn mit dem Erlass einer
konkreten Verfügung wird in der Regel eine noch viel eindeutigere
Vertrauensbasis geschaffen als mit einer blossen Auskunft (BGE 114 Ia 107
Erw. 2a, 214 Erw. 3b, 113 V 70 Erw. 2 mit Hinweisen, 106 V 72 Erw. 3b; ARV
1999 Nr. 40 S. 237 Erw. 3a mit weiteren Hinweisen auf Rechtsprechung und
Lehre).

3.2 Soweit die Beschwerdeführerin beanstandet, dass ihr mit Schreiben der
IV-Stelle vom 11. Oktober 2000, d.h. noch eine Woche vor Erlass der
Leistungsherabsetzungs- und Rückerstattunsverfügung vom 18. Oktober 2000,
mitgeteilt wurde, sie habe "weiterhin Anspruch auf die bisherige
Hilflosenentschädigung", ist festzuhalten, dass es im vorliegenden
Zusammenhang primär um die Beurteilung einer konkreten Anordnung der
Verwaltung (ursprüngliche Zusprechung einer Hilflosenentschädigung wegen
mittelschwerer Hilflosigkeit) geht. Die Frage des Vertrauensschutzes stellt
sich deshalb hier unter dem Bickwinkel des Erlasses von Verfügungen und nicht
des Erteilens von unrichtigen Auskünften. Bei diesen Gegebenheiten steht
ausser Zweifel, dass die Voraussetzungen 1 (Handeln in einer konkreten
Situation), 2 (Zuständigkeit der Behörde), 3 (Unrichtigkeit nicht ohne
weiteres erkennbar) und 5 (keine Rechtsänderung) für den Vertrauensschutz
erfüllt sind (ARV 1999 Nr. 40 S. 238 Erw. 3b). Fraglich ist damit nur noch,
ob die Beschwerdeführerin im Vertrauen auf die Richtigkeit der Verfügung vom
26. Januar 1998 Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil
rückgängig gemacht werden können (Voraussetzung 4). Entgegen der Auffassung
der Vorinstanz hat das Eidgenössische Versicherungsgericht die mit BGE 100 V
157 Erw. 3c, 158 und 163 Erw. 4 aufgestellte sogenannte "6. Voraussetzung",
wonach eine unmittelbar und zwingend aus dem formellen Gesetz sich ergebende
Sonderregelung die Berufung auf Treu und Glauben von vornherein ausschloss,
bereits mit BGE 116 V 298 preisgegeben.

Die Versicherte führte schon in ihrer vorinstanzlichen Beschwerdeschrift aus,
"von der ersten Auszahlung an" sei die (irrtümlicherweise zu hohe)
Hilflosenentschädigung "auch für den Hauptzweck der sozialen Kontakte
gebraucht" worden; "man kennt die Ausgaben für Handreichungen u.ä.".
Letztinstanzlich machte sie geltend, "wichtig für den Betroffenen ist (...)
die Höhe des ausbezahlten Betrages und die damit sich eröffnenden
Möglichkeiten für die Abgeltung der Betreuung vor allem im Bereich der
Sozialkontakte". Diese Ausführungen legen die Folgerung nahe, dass die
Versicherte zumindest einen namhaften Teil der seinerzeit ausgerichteten
Hilflosenentschädigung für die Bezahlung von Drittpersonen einsetzte, welche
ihr bei der alltäglichen Lebensverrichtung Fortbewegung (ausser Haus)/Pflege
gesellschaftlicher Kontakte Hilfestellung leisteten. Auf Grund der
vorliegenden Akten kann nicht ausgeschlossen werden, dass die
Beschwerdeführerin von dieser bezahlten Dienstleistung entsprechend
zurückhaltender Gebrauch gemacht hätte, wenn sie bereits damals gewusst
hätte, dass ihr nur 40 % der zugesprochenen Hilflosenentschdädigung zustehen
(Art. 37 IVV) und sie demzufolge die unrechtmässig bezogenen
Differenzbetreffnisse zurückzahlen muss. Die Verwaltung wird näher abzuklären
haben, ob in diesem Sinne tatsächlich von einer rechtserheblichen, ursächlich
auf die Verfügung vom 26. Januar 1998 zurückzuführende Disposition im Sinne
der dargelegten Rechtsprechung auszugehen ist. Dabei wird auch der Frage
nachzugehen sein, ob der Versicherten im damaligen Zeitraum eine andere
Handlungsmöglichkeit überhaupt offen stand.

Allenfalls wird sich im Verwaltungsverfahren die von der Beschwerdeführerin
aufgeworfene weitere Frage nach der Erledigung der Streitigkeit durch
Vergleich im Sinne von Art. 50 ATSG stellen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Februar 2003
und die Verfügung vom 24. Mai 2002 aufgehoben werden und die Sache an die
IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen wird, damit diese, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Rückforderung neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 1. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: