Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 249/2003
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I 249/03

Urteil vom 20. Februar 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari und nebenamtlicher Richter
Weber; Gerichtsschreiber Hadorn

W.________, 1968, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Claude
Schnüriger, Aeschenvorstadt 77, 4010 Basel,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 27. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
W. ________ (geb. 1968) meldete sich am 14. Januar 1997 zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung an. Dieses Gesuch wies die IV-Stelle des
Kantons Bern mit unangefochten gebliebener Verfügung vom 14. August 1997 ab.

B.
Am 8. Oktober 1999 stellte W.________ erneut ein Gesuch um IV-Leistungen. Mit
Verfügung vom 18. Januar 2000 trat die IV-Stelle Bern auf die Neuanmeldung
nicht ein. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern mit Entscheid vom 12. April 2000 insofern gut, als es die
Angelegenheit zur materiellen Prüfung des zweiten Gesuchs an die IV-Stelle
zurückwies. Diese holte von der MEDAS, Zentrum für medizinische Begutachtung
(im Folgenden ZMB) ein polydisziplinäres Gutachten vom 25. April 2002 ein.
Gestützt auf diese Expertise lehnte die IV-Stelle Bern das Leistungsgesuch
von W.________ mit Verfügung vom 30. Juli 2002 ab.

C.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern mit Entscheid vom 27. Februar 2003 ab.

D.
W.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es sei
ihm ab 1. Januar 1997 mindestens eine halbe IV-Rente auszurichten. Hiezu legt
er ärztliche Berichte der Klinik X.________ vom 13. September 1999 und 24.
Januar 2003 sowie von Dr. med. G.________, Spezialarzt FMH für Innere
Medizin, vom 22. März 2003 ins Recht. Ausserdem ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Verbeiständung.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Verwaltungsgericht hat die gesetzlichen Voraussetzungen für den
Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1, 1bis und 2
IVG) sowie zum Vorgehen der Verwaltung bei Eingang einer Neuanmeldung nach
vorheriger Ablehnung eines Leistungsgesuchs (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV)
richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Ferner trifft zu, dass die
materiellen Bestimmungen des ATSG vorliegend nicht anwendbar sind. Zu
ergänzen ist, dass auch die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen
des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 und der
Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 nicht zur
Anwendung gelangen (BGE 129 V 4 Erw. 1.2)

2.
Da das Datum der angefochtenen Verwaltungsverfügung, vorliegend somit der 30.
Juli 2002, die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet
(BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind die vom Beschwerdeführer vorgelegten Berichte
der Klinik X.________ vom 24. Januar 2003 und von Dr. med. G.________ vom 22.
März 2003 insoweit nicht zu berücksichtigen, als damit eine Verschlechterung
seines Gesundheitszustandes nach dem genannten Stichdatum geltend gemacht
wird. Vielmehr ist der Versicherte auf das von ihm mit Schreiben vom 7. April
2003 an die IV-Stelle eingeleitete Revisionsverfahren zu verweisen.

3.
3.1 Die Verwaltung hat entsprechend der Aufforderung der Vorinstanz in deren
Entscheid vom 12. April 2000 ein ganzheitliches Gutachten  beim ZMB
eingeholt. Dessen Expertise vom 26. April 2002 kommt zu anderen Schlüssen und
insbesondere zu einer von den Wertungen der den Beschwerdeführer behandelnden
Ärzte Dr. med. G.________, Dr. med. Z.________, Innere Medizin/Rheumatologie
FMH, und der Klinik X.________ abweichenden Beurteilung. Jedoch bewirken die
von den Erkenntnissen des ZMB abweichenden Befunde der genannten Ärzte nicht,
dass das Gutachten vom 26. April 2002 seine Aussagekraft verlieren würde.
Vielmehr ist bei den Berichten der den Versicherten behandelnden Ärzte wie
bei Hausärzten der Erfahrungstatsache Rechnung zu tragen, dass diese im
Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen
mitunter eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen (BGE 125 V 353 Erw. 3b/cc).

3.2 Der Beschwerdeführer zweifelt die Unabhängigkeit des ZMB an mit der
Begründung, dass einige der dort tätigen Ärzte mit der Assekuranz sehr nahe
verbunden seien. Dr. med. A.________ sei Vertrauensarzt der Winterthur
Versicherungen. Indessen war dem Beschwerdeführer die Begutachtung durch das
ZMB mit Verfügung vom 16. August 2000 angezeigt worden. In jenem Zeitpunkt
hatte er keine Zweifel oder Beanstandungen an der Unabhängigkeit des ZMB
resp. seiner Ärzte geäussert. Die medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS;
Art. 72bis IVV) gelten nach der Rechtsprechung als verwaltungsunabhängige,
weisungsfreie Gutachterstellen (BGE 123 V 175; vgl. Urteil B. vom 26. Juli
2002, I 19/02). Ihre Expertisen unterliegen der freien, umfassenden und
pflichtgemässen Beweiswürdigung durch Verwaltung und Gericht (Meyer-Blaser,
Rechtsprechung des Bundesgerichtes zum IVG, S. 298). Die blosse Tatsache,
dass einzelne Gutachter des ZMB allenfalls auch für andere
Versicherungsgesellschaften gearbeitet haben, schliesst eine Tätigkeit als
Experte für das ZMB nicht aus (RKUV 1999 Nr. U 332 Erw. 2a). Der
Beschwerdeführer behauptet nicht, die betreffenden Ärzte seien in seinen
Angelegenheiten in anderer Funktion tätig gewesen, was allenfalls einen
Ausschliessungs- oder Ablehnungsgrund gemäss Art. 22 und 23 BZP dargestellt
hätte. Die Winterthur Versicherungen sind im vorliegenden Verfahren weder als
obligatorischer Unfallversicherer noch anderswie beteiligt, so dass auch der
gegenüber Dr. med. A.________ angebrachte Vorbehalt nicht stichhaltig ist.
Der blosse Umstand, dass die Gutachter des ZMB zu anderen Schlüssen gelangten
als die Ärzte, die den Beschwerdeführer behandelten, lässt die Experten noch
nicht als befangen erscheinen.

3.3 Zur Erstellung des Gutachtens holte das ZMB nebst einem
allgemein-medizinischen auch einen rheumatologischen, einen neurologischen
und einen psychiatrischen Status ein. Zusätzlich zum neurologischen Status
wurden die Ergebnisse einer neuropsychologischen Untersuchung präsentiert. Es
ist daher von einer umfassenden Exploration auszugehen, die sich auf die
kompletten Akten, insbesondere auch auf die Erkenntnisse aus dem stationären
Aufenthalt des Beschwerdeführers in der Klinik X.________ vom 3. bis 31.
August 1999, abstützen konnte. Die an der Begutachtung beteiligten Ärzte
stellten eine erhebliche Diskrepanz zwischen den subjektiv geklagten
Beschwerden und den objektiv erhebbaren Befunden fest. So konnte Dr. med.
J.________ das Aus- und Anziehen beim Beschwerdeführer ohne Behinderung mit
freiem Kopfspiel beobachten, und bei der Untersuchung präsentierte sich die
HWS frei beweglich. Neurologisch wurden die klinisch objektivierbaren Befunde
als leichtgradig eingestuft. Im Rahmen der neuropsychologischen Untersuchung
wies der begutachtende Neuropsychologe B.________ darauf hin, dass die
Resultate der Testuntersuchungen nicht interpretierbar seien, weil der
Explorand nach eigenen Angaben zwei Joints geraucht habe. Auch bei dem
während der Hospitalisierung in der Klinik X.________ vom 10. Dezember 2002
bis 7. Januar 2003 erstellten Neurostatus wurde darauf hingewiesen, dass der
Patient leicht durch Cannabis beeinflusst wirke. Im Vergleich zur
Erstuntersuchung hielten die Ärzte ein unverändertes Störungsmuster von
leichten bis mittelgradigen neuropsychologischen Minderfunktionen fest. Es
ist jedoch nicht sicher erstellt, dass derartige Minderfunktionen vorliegen,
weil sie wegen des Cannabis-Konsums im Rahmen der Erstellung des
ZMB-Gutachtens nicht erkannt werden konnten. Selbst wenn der Versicherte an
solchen leiden sollte, müssten sie auf Grund ihrer Schwere nicht zwingend zu
einer invalidisierenden Arbeitsunfähigkeit führen. Abgesehen davon kann der
Beschwerdeführer im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten gemäss
Art. 57 IVG nicht einfach durch andauernden Cannabis-Abusus während der
Begutachtungsperioden eine objektive Beurteilung seines neuropsychologischen
Status verhindern. Auf Grund dieser Situation kann daher dem ZMB-Gutachten
auch im neuropsychologischen Bereich die Aussagekraft nicht abgesprochen
werden. In dem vom Beschwerdeführer eingereichten Bericht der Klinik
X.________ wurde darauf hingewiesen, dass der Versicherte seinen
Cannabis-Konsum sistieren müsse, um Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben.
Zum psychiatrischen Status hielt das ZMB-Gutachten fest, dass aus
psychiatrischer Sicht keine Arbeitsunfähigkeit angenommen werden könne. Eine
posttraumatische Belastungsstörung habe nie bestanden, und eine
Anpassungsstörung könne nicht mehr diagnostiziert werden. Es ist nicht
erkennbar und wird vom Beschwerdeführer auch nicht belegt, warum der
begutachtende Psychiater Dr. med. A.________ eine vorgefasste Meinung über
den Versicherten gehabt haben sollte. Laut Bericht der Klinik X.________ vom
13. September 1999, auf welchen sich der Beschwerdeführer an verschiedener
Stelle beruft, hätten sich in stützenden psychotherapeutischen Gesprächen bei
der Psychologin E.________ gewisse psychische Auffälligkeiten ohne
psychiatrischen Stellenwert gezeigt. Der Vorwurf der Vorbefasstheit gegenüber
Dr. med. A.________, der zu den gleichen Schlüssen gelangte, greift somit ins
Leere. Ebenso kann auf Grund dieser Erkenntnisse den Überlegungen des Dr.
med. G.________, Spezialarzt FMH für Innere Medizin (und nicht etwa für
Psychiatrie und Psychotherapie), nicht gefolgt werden, wonach der
Beschwerdeführer eindeutig depressive Züge zeige. Ein solcher Befund konnte
weder vom begutachtenden Psychiater Dr. A.________ noch von der Psychologin
D.________ während der früheren Psychotherapie in der Klinik X.________
festgestellt werden. Das beim ZMB eingeholte Gutachten ist für die streitigen
Belange umfassend, beruht auf allseitigen Untersuchungen, berücksichtigt die
geklagten Leiden und wurde in Kenntnis der Vorakten erstellt. Ob allenfalls
der neurologische Status, der von der Klinik X.________ während der
Behandlung vom 10. Dezember 2002 bis 7. Januar 2003 festgestellt worden ist,
von früheren neurologischen Standortbestimmungen im Sinne einer
Verschlechterung abweicht, ist nicht im Rahmen dieses Prozesses, sondern in
dem vom Beschwerdeführer parallel eingeleiteten Revisionsverfahren zu prüfen.
Immerhin steht im Austrittsbericht der Klinik X.________ vom 24. Januar 2003
zu lesen, dass die Schmerzen im Nacken und linkem Arm bis zum Austritt nur
noch intermittierend aufgetreten seien. Wenn sich der Beschwerdeführer aus
Sorge wegen erneuter Schmerzexazerbation eher zurückhaltend gegenüber
angepasster medizinischer Trainingstherapie zeigte, verletzte er damit die
ihm in der Invalidenversicherung (Meyer-Blaser, a.a.O., S. 16) obliegende
Schadenminderungspflicht. Dem Ergebnis des ZMB-Gutachtens ist auch unter
Beizug der vom Beschwerdeführer eingereichten Unterlagen zuzustimmen und der
Anspruch auf eine Invalidenrente zu verneinen. Der Versicherte ist trotz
seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Lage, ein
rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen. Dementsprechend ist auch kein
Anspruch auf eine Umschulung gegeben, da der Beschwerdeführer in den von ihm
früher ausgeübten Tätigkeiten als Kellner oder Verkäufer vollumfänglich
arbeitsfähig ist.

4.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss
Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher
als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die
Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Dr.
Claude Schnüriger, Basel, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.-
(inkl. Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 20. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: