Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 239/2003
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I 239/03

Urteil vom 30. März 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Fessler

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

S.________, 1970, Beschwerdegegnerin, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 28. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1970 geborene S.________ begann am 21. April 1986 die kaufmännische Lehre
bei der Firma H.________ AG. Auf Ende Juni 1988 wurde das Lehrverhältnis im
gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst. Auf dem Weg über eine Abendschule
schloss S.________ im Juli 1993 die Lehre als kaufmännische Angestellte
erfolgreich ab.

1986 begann S.________ Drogen zu konsumieren. Wegen Intoxikation sowie zwecks
Entzugs wurde sie verschiedentlich stationär behandelt, zuletzt vom 23. April
bis 14. Juni 2000 in der Psychiatrischen Klinik R.________. Im Rahmen dieser
Hospitalisation wurde der Benzodiazepinentzug bei Substitution mit Methadon
durchgeführt. Daneben erfolgte eine antidepressive Behandlung.

Am 15. Juni 2000 trat S.________ in die Wohngemeinschaft X.________ ein. In
der Folge stand sie bei Dr. med. F.________, Allgemeine Medizin FMH, sowie
beim Psychiater und Psychotherapeuten Dr. med. M.________ in Behandlung.

Am 9. März 2001 wurde die in der Psychiatrischen Klinik R.________ begonnene
Methadon-Entzugstherapie abgeschlossen.

Am 10. Juli 2001 reichte S.________ bei der IV-Stelle des Kantons Zürich ein
Gesuch um Leistungen der Invalidenversicherung (u.a. Wiedereingliederung)
ein. In einem vom gleichen Tag datierten Schreiben gab sie an, sie wolle sich
nach langjähriger Sucht bzw. Depressionen wieder eingliedern. Es sei für sie
daher wichtig, den im November 2001 beginnenden 5-monatigen
Berufsförderungskurs zu besuchen. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
welche im Delegationsverfahren die beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten
abklärte, stellte am 21. März 2002 der zuständigen IV-Stelle des Kantons
Zürich folgenden Antrag:
«Berufliche Abklärung im Rahmen des Berufsförderungskurses (...) vom 6. Mai
bis 20. September 2002.

Taggeld

Vergütung für auswärtiges Wohnen, Essen, inkl. Betreuung in der
Wohngemeinschaft X.________ (...): Fr. 95.-/Tag

Reisespesen.»
Auf Weisung des Bundesamtes für Sozialversicherung verneinte die IV-Stelle
des Kantons Zürich mit Verfügung vom 31. Juli 2002 den Anspruch von
S.________ auf berufliche Massnahmen mit der Begründung, die
Arbeitsunfähigkeit beruhe auf reinem Suchtgeschehen und es bestehe keine
Invalidität im Sinne des Gesetzes.

B.
S.________ liess beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Beschwerde einreichen und beantragen, die Verfügung vom 21. Juli 2002 sei
aufzuheben und es seien ihr berufliche Massnahmen zuzusprechen:
Kostengutsprache für den Berufsförderungskurs vom 6. Mai bis 20. September
2002 samt Taggeld sowie für die auswärtige Unterkunft und Verpflegung in der
Wohngemeinschaft X.________.

Die IV-Stelle des Kantons Zürich schloss auf Abweisung des Rechtsmittels. In
einer weiteren Eingabe legte die Rechtsvertreterin von S.________ eine
Stellungnahme des Dr. med. M.________ vom 7. November 2002 zu verschiedenen
Fragen betreffend Drogensucht und psychischem Gesundheitszustand ins Recht.
Die IV-Stelle verzichtete auf eine Stellungnahme.

Mit Entscheid vom 28. Februar 2003 hiess das kantonale
Sozialversicherungsgericht die Beschwerde in dem Sinne gut, dass es die
Verfügung vom 31. Juli 2002 aufhob und feststellte, die Versicherte habe
Anspruch auf Übernahme der Kosten des Berufsförderungskurses vom 6. Mai bis
zum 20. September 2002 in St. Gallen. Es wies die Sache an die IV-Stelle
zurück, damit sie über den Taggeldanspruch in diesem Zeitraum sowie über den
Anspruch auf Übernahme der Kosten für auswärtige Unterkunft und Verpflegung
befinde.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben.

S. ________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen,
während die IV-Stelle auf Gutheissung des Rechtsmittels schliesst.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat für die Beurteilung des streitigen Anspruchs auf
berufliche Massnahmen (Berufsförderungskurs vom 6. Mai bis 20. September
2002) auf die tatsächlichen Verhältnisse sowie die Rechtslage im Zeitpunkt
der Verfügung vom 31. Juli 2002 abgestellt. Das ist richtig (BGE 127 V 467
Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). Insbesondere ist das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vorliegend nicht anwendbar.

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die Rechtsgrundlagen für die Beurteilung
der Streitsache zutreffend dargelegt. Zu erwähnen sind insbesondere die
Rechtsprechung zum Begriff der Invalidität bei Drogensucht (vgl. AHI 2001 S.
228 Erw. 2b) sowie bei Massnahmen der Umschulung oder Wiedereinschulung in
den bisherigen Beruf (Art. 17 Abs. 1 und 2 IVG sowie BGE 124 V 110 Erw. 2b).
Darauf wird verwiesen.

3.
Vorliegend ist in erster Linie umstritten, ob die ungenügende berufliche
Eingliederung invaliditätsbedingt ist. Es stellt sich die Frage, ob ein
psychisches Leiden von Krankheitswert besteht, welches sich von der
unmittelbar ursächlichen jahrelangen Drogensucht hinreichend klar abgrenzen
lässt.

3.1 Nach Auffassung des kantonalen Gerichts bestehen genügend Anhaltspunkte
für einen solchen psychischen Gesundheitsschaden, der an der Entwicklung der
Suchtproblematik zumindest mitbeteiligt war. Während des letzten stationären
Entzugs in der Psychiatrischen Klinik R.________ von April bis Juni 2000 habe
auch eine antidepressive Behandlung stattgefunden. Die betreuenden
medizinischen Fachpersonen hätten eine depressive Stimmungslage festgestellt
und die Versicherte habe von Suizidgedanken gesprochen. Auch nach einjähriger
Drogenabstinenz und nach Abschluss der Methadon-Entzugstherapie im März 2001
habe sie noch unter depressiven Verstimmungen gelitten. Dr. med. M.________
habe nach der Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik R.________ die
Fortführung sowohl der medikamentösen als auch der psychotherapeutischen
Behandlung für indiziert erachtet. Im Bericht vom 30. August 2001 habe der
Psychiater die Diagnose einer prämorbiden, «also schon vor der
Sucht-'Erkrankung' vorhanden gewesenen» neurotischen Störung gestellt. In der
im kantonalen Verfahren ins Recht gelegten Stellungnahme vom 21. November
2002 charakterisiere Dr. med. M.________ das Leiden als eine seit der
Adoleszenz bestehende kombinierte Persönlichkeitsstörung mit ängstlichen,
narzisstischen und histrionischen Wesenszügen. Er ordne dem
Gesundheitsschaden Krankheitswert zu und betrachte ihn als Auslöser für die
Drogensucht. Für diesen Zusammenhang spreche, dass laut Bericht des Dr. med.
F.________ vom 4. September 2001 die Versicherte mit dreizehn Jahren eine
Bulimie durchgemacht habe und dass auch nach Aufnahme des Drogenkonsums noch
Essstörungen in Form einer Magersucht im Jahre 1994 aufgetreten seien.

Im Weitern sei es unzweifelhaft auf das Krankheits- und Suchtgeschehen
zurückzuführen, dass die Versicherte nach dem erfolgreichen Abschluss der
Lehre als kaufmännische Angestellte 1993 lediglich noch sporadisch
berufstätig gewesen sei. Dass für einen erfolgreichen Wiedereinstieg ins
Berufsleben neben der medizinischen Behandlung auch gewisse begleitende
berufliche Massnahmen unabdingbar seien, leuchte ohne weiteres ein. Die ohne
gezielte berufliche Förderung bestehende Gefährdung der erfolgreichen
Wiedereingliederung stelle eine Invalidität im Sinne von Art. 17 IVG dar. Bei
fehlender Förderung müsste damit gerechnet werden, dass eine an sich gegebene
medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt nicht
verwertet werden könnte.

Schliesslich seien auch die Eingliederungsfähigkeit sowie die
Eingliederungswirksamkeit der in Frage stehenden beruflichen Massnahme zu
bejahen.

3.2 Die Aufsichtsbehörde bringt vor, ein vorbestehender Gesundheitsschaden
von Krankheitswert allein bedeute nicht, dass er prädisponierend auf eine
später eingetretene Suchterkrankung wirken könne. Vielmehr müsse die Schwere
der Grundproblematik ein bestimmtes Ausmass erreicht haben, damit sie im
Sinne einer Teilkausalität mit dem nachfolgenden Suchtgeschehen in
Zusammenhang gebracht werden könne. Nach Lage der Akten habe indessen die
Persönlichkeitsstörung kein Ausmass erreicht, welches die Versicherte
wesentlich an ihrem beruflichen Fortkommen gehindert habe. Insbesondere
spreche der Psychiater Dr. med. M.________ in seiner klinisch-diagnostischen
Beurteilung nicht von einer schweren Störung. Ebenfalls werde im Bericht der
Psychiatrischen Klinik R.________ vom 17. September 2001 keine
invalidisierende Persönlichkeitsstörung erwähnt. Schliesslich stellten weder
Hausarzt noch Psychiater die Diagnose einer Depression im Sinne der ICD-10
der WHO. Die von den Ärzten festgestellte Störung im affektiven Bereich
(Selbstwertkrise, Unsicherheit, Konzentrationsmangel, Suizidgedanken) würden
denn auch in Begriffen wie subdepressiv und Verstimmung umschrieben. Entgegen
dem kantonalen Gericht liessen sich somit den Akten keine ausreichenden
Anhaltspunkte für das Vorliegen eines verselbstständigten psychischen
Gesundheitsschadens von Krankheitswert im Sinne einer Invalidität entnehmen.
Die Arbeitsunfähigkeit der Versicherten sei auf ihre Drogenabhängigkeit und
somit auf das langjährige Suchtgeschehen zurückzuführen. Letzteres sei auch
der Grund für die Entwöhnung vom Erwerbsleben, und als solche bleibe es im
Sinne des Gesetzes invaliditätsfremd.

3.3
3.3.1Dr. med. M.________ hält in seiner Stellungnahme vom 7. November 2002
fest, es bestehe ein psychisches Leiden von Krankheitswert, welches die
Drogensucht ausgelöst habe. Die Abhängigkeit von Rauschmitteln ihrerseits
habe zu zeitweiser voller Arbeitsunfähigkeit geführt. Im Bericht vom 30.
August 2001 führt Dr. med. M.________ u.a. aus, die Versicherte, trotz
schwieriger Lebensumstände eine gute Schülerin und begabte Kunstturnerin, sei
wegen psychischer Instabilität in den Drogenkonsum abgeglitten. Durch die
lange Abwesenheit vom Beruf seien die Fertigkeiten und Kenntnisse einer
kaufmännischen Angestellten teilweise in Vergessenheit geraten oder verlernt
worden.

3.3.2 Die insoweit klaren Aussagen des Dr. med. M.________ werden nach
zutreffender Feststellung des Bundesamtes durch die übrigen medizinischen
Unterlagen nicht, zumindest nicht hinreichend gestützt. Insbesondere finden
sich im Bericht der Psychiatrischen Klinik R.________ vom 17. September 2001,
wo der letzte stationäre Drogenentzug vom 3. April bis 14. Juni 2000
durchgeführt wurde, keine genügenden Hinweise auf ein für das Suchtverhalten
kausal bedeutsames psychisches Leiden. Weder die hier erhobenen Befunde einer
depressiven Stimmungslage und Suizidgedanken noch die Tatsache, dass eine
antidepressive Behandlung vorgenommen wurde, lassen diesen gegenteiligen
Schluss zu.

Das ändert indessen nichts daran, dass nach Dr. med. M.________ ein
psychisches Leiden von Krankheitswert als auslösender Faktor für die
Drogensucht zu betrachten ist.

3.3.3 Angesichts der doch klaren Aussagen des Dr. med. M.________ einerseits
sowie des gegebenenfalls engen und nicht einfach zu erstellenden
Zusammenhangs zwischen Sucht und psychischem Leiden anderseits, kann der
rechtserhebliche Sachverhalt nicht als richtig und vollständig festgestellt
gelten. War tatsächlich eine vorbestehende Persönlichkeitsstörung ein
Hauptgrund für den jahrelangen Konsum von Rauschmitteln und die Unfähigkeit,
der Abhängigkeit zu entkommen, ist anzunehmen, dass das psychische Leiden
bereits früher erkannt und auch behandelt worden war. Darüber geben indessen
die Akten keine Auskunft. Der Bericht der Psychiatrischen Klinik R.________
vom 17. September 2001 allein bildet keine zuverlässige Grundlage. Immerhin
stand die Beschwerdegegnerin seit Oktober 1988 sechs Mal wegen der
Drogensucht in stationärer Behandlung. Medizinische Unterlagen hiezu fehlen.
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Versicherte im
Anmeldeformular vom 10. Juli 2001 erwähnte, sie sei von 1990 bis 1994 wegen
des psychischen Leidens und der Sucht von Dr. med. O.________ behandelt
worden.

Im Sinne des Vorstehenden wird die IV-Stelle weitere Abklärungen vorzunehmen
haben. Diese haben u.a. die Frage zum Gegenstand, inwiefern ein allfälliges
psychisches Leiden von Krankheitswert sich während des Konsums von Drogen und
unter Entzugsbedingungen äusserte. Anschliessend wird die Verwaltung über den
Anspruch auf berufliche Massnahmen (Berufsförderungskurs vom 6. Mai bis 20.
September 2002) neu verfügen.

4.
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin keinen Anspruch
auf Parteientschädigung für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht (Art. 159 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG).

Mit Bezug auf das kantonale Verfahren gilt die Beschwerdegegnerin nach wie
vor als obsiegende Partei. Die vorinstanzliche Zusprechung einer
Parteientschädigung ist daher zu belassen (Art. 159 Abs. 6 OG; Urteil W. vom
6. September 2000 [I 195/00] Erw. 5 mit Hinweis).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass
Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids des Sozialversicherungsgerichts des
Kantons Zürich vom 28. Februar 2003 und die Verfügung vom 31. Juli 2002
aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle des Kantons Zürich
zurückgewiesen wird, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen über
den Anspruch auf berufliche Massnahmen neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und der IV-Stelle des Kantons Zürich zugestellt.

Luzern, 30. März 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: