Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 234/2003
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I 234/03

Urteil vom 13. Juli 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Berger Götz

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

K._________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Martin
Hablützel, Lutherstrasse 4, 8021 Zürich

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 4. März 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1960 geborene K._________, verheiratet und Vater dreier Kinder, hat am 8.
Oktober 1999 einen Unfall erlitten und ist seitdem nicht mehr arbeitsfähig.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen gewährte ihm mit Wirkung ab 1. Oktober
2000 eine ganze Rente, entsprechend einem Invaliditätsgrad von 100 %, und
drei Kinderrenten (Verfügung vom 14. Februar 2002).

B.
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde sprach das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen K._________ mit Wirkung ab 1.
Oktober 2000 eine Zusatzrente für seine Ehefrau zu und wies die Sache zur
Festsetzung des Rentenbetrages an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 4. März
2003).

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.

K. _________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) beantragt die
Gutheissung des Rechtsmittels.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben, und weil ferner das Sozialversicherungsgericht
bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 14. Februar 2002) eingetretenen
Sachverhalt abstellt, sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, je mit
Hinweisen). Dasselbe gilt für die auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen
Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 21. März
2003 und der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 (4.
IVG-Revision, mit welcher unter anderem die Zusatzrente für den Ehegatten
aufgehoben wurde).

2.
2.1 Nach Art. 34 Abs. 1 IVG (in der vom 1. Januar 1997 bis 31. Dezember 2002
gültig gewesenen, vorliegend massgebenden Fassung; vgl. Abs. 1 der
Übergangsbestimmungen zur Änderung des IVG im Rahmen der 10. AHV-Revision in
Verbindung mit lit. c Abs. 1-9, lit. f Abs. 2 und lit. g Abs. 1 der
Übergangsbestimmungen der 10. AHV-Revision zur Änderung des AHVG) haben
rentenberechtigte verheiratete Personen, die unmittelbar vor ihrer
Arbeitsunfähigkeit eine Erwerbstätigkeit ausübten, Anspruch auf eine
Zusatzrente für ihren Ehegatten, sofern diesem kein Anspruch auf eine Alters-
oder Invalidenrente zusteht, wobei die Zusatzrente nur ausgerichtet wird,
wenn der andere Ehegatte: a) mindestens ein volles Beitragsjahr aufweist;
oder b) seinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat. Eine
Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 34 Abs. 1 IVG üben gemäss Rechtsprechung
auch die im Betrieb des Ehegatten mitarbeitenden Versicherten ohne Barlohn
und die einer nicht beitragspflichtigen Beschäftigung nachgehenden
Versicherten aus (BGE 128 V 20).

Der Bundesrat hat gestützt auf die ihm in Art. 34 Abs. 2 IVG eingeräumte
Kompetenz die Bestimmung des Art. 30 IVV (in der vorliegend massgebenden, vom
1. Januar 1997 bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) erlassen,
wonach den erwerbstätigen Personen gleichgestellt sind: a) Arbeitslose,
welche Leistungen der Arbeitslosenversicherung beziehen; b) Personen, die
nach krankheits- oder unfallbedingter Aufgabe der Erwerbstätigkeit Taggelder
als Ersatzeinkommen beziehen.

2.2  Der Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit gemäss Art. 34 Abs. 1
IVG richtet sich nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG (in der bis 31. Dezember 2002
gültig gewesenen, vorliegend massgebenden Fassung) und fällt daher mit dem
Beginn der einjährigen Wartezeit für den Rentenanspruch zusammen (AHI 2003 S.
287 Erw. 3a/bb mit Hinweisen; SVR 2001 IV Nr. 36 S. 109 Erw. 1c mit Hinweis).

3.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdegegners auf eine
Zusatzrente für seine Ehefrau. Dabei steht auf Grund der Akten fest, dass der
Versicherte seit März 1995 arbeitslos war. Vom 6. August 1999 bis 26. April
2000 war er bei der Arbeitslosenversicherung zur Stellenvermittlung gemeldet
und wurde - zufolge zwischenzeitlicher Erschöpfung seines Anspruches auf
Taggelder der Arbeitslosenversicherung - vom Sozialamt der Stadt R._________
finanziell unterstützt. Durch die Bemühungen der T.________ AG kam es
ausserdem vom 25. August bis zum 10. September 1999 zu einem Arbeitseinsatz
als Allrounder Heizung/Sanitär für die Firma O.________. Die
invalidenversicherungsrechtlich relevante Arbeitsunfähigkeit ist im
Unfallzeitpunkt, am 8. Oktober 1999, somit zu einer Zeit, in welcher dem
Beschwerdegegner Fürsorgeleistungen gewährt wurden, eingetreten. Verstreicht
zwischen der Ausübung der Erwerbstätigkeit und dem Eintritt der
Arbeitsunfähigkeit fast ein Monat, ist die Voraussetzung, wonach die
Erwerbstätigkeit unmittelbar vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübt worden sein
muss, nicht erfüllt. Darüber besteht unter den Parteien zu Recht (SVR 2001 IV
Nr. 36 S. 109 Erw. 1c) Einigkeit. Umstritten ist hingegen, ob der Versicherte
unter den genannten Umständen als Arbeitsloser im Sinne von Art. 30 lit. a
IVV gilt und damit den erwerbstätigen Personen gemäss Art. 34 Abs. 1 IVG
gleichgestellt ist.

3.1  Das kantonale Gericht erwog, die grundsätzliche Rentenberechtigung in
der Invalidenversicherung beruhe auch bei den Arbeitslosen auf einem
Dauersachverhalt, nämlich der voraussichtlich bleibenden oder längere Zeit
dauernden Erwerbsunfähigkeit. Dabei würden Arbeitslose ganz
selbstverständlich als Erwerbstätige gelten, deren Invalidität durch einen
Einkommensvergleich zu ermitteln sei. Es gebe in der Tat keinen Grund, für
die Invalidenrente und die Kinderrente an die regelmässig unbestimmte Zeit
andauernde Erwerbsunfähigkeit, für die Ehegatten-Zusatzrente aber an die
sachlich und zeitlich zufällige Zugehörigkeit zur Gruppe der Bezüger von
Taggeldleistungen der Arbeitslosen-, Kranken- oder Unfallversicherung
anzuknüpfen. Als Erwerbstätigkeit gemäss Art. 34 Abs. 1 IVG könne darum nur
der "Status des Erwerbstätigen (im Gegensatz zum Status des
Nichterwerbstätigen im Sinne von Art. 28 Abs. 3 IVG bzw. Art. 27 IVV)"
verstanden werden. Art. 30 lit. a IVV, welcher Art. 34 Abs. 1 IVG einenge,
sei gesetzwidrig und unbeachtlich. Eine der Systematik des IVG und dem
Gleichbehandlungsgrundsatz Rechnung tragende Interpretation der
Gesetzesbestimmung zwinge dazu, dem ausgesteuerten, aber unmittelbar vor
Eintritt der Arbeitsunfähigkeit noch stellensuchenden Arbeitslosen - mithin
auch dem Beschwerdegegner - einen Anspruch auf Zusatzrente für den Ehegatten
einzuräumen.

3.2  Die IV-Stelle bringt dagegen vor, vom klaren Wortlaut des Art. 34 Abs. 1
IVG und des Art. 30 lit. a IVV dürfe nicht abgewichen werden, weil dafür
keine triftigen Gründe gegeben seien. Die Rechtssicherheit gebiete klare
Kriterien zur Definition der der Erwerbstätigkeit gleichgestellten
Sachverhalte. Beziehe eine arbeitslose Person keine Leistungen der
Arbeitslosenversicherung mehr, so sei sie entweder bereits längere Zeit ohne
Beschäftigung oder zu Beginn der Arbeitslosigkeit noch nicht lange
erwerbstätig gewesen. Es sei sachlich nicht begründbar, eine solche Person
den Erwerbstätigen gleichzusetzen. Im zu beurteilenden Fall habe der
Versicherte unmittelbar vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit weder eine
Erwerbstätigkeit ausgeübt noch Leistungen der Arbeitslosenversicherung
bezogen, weshalb ihm keine Zusatzrente auszurichten sei.

3.3  Der Beschwerdegegner macht in Anlehnung an den vorinstanzlichen
Gerichtsentscheid geltend, dem Zweck des Art. 34 IVG entsprechend seien
arbeitswillige Arbeitslose zum Kreis der Zusatzrentenberechtigten zu zählen,
auch wenn diese im massgebenden Zeitpunkt keine Arbeitslosentaggelder bezogen
hätten.

3.4  Nach Ansicht des BSV lässt der klare Wortlaut von Art. 34 IVG und Art.
30 IVV die vom kantonalen Gericht vorgenommene Auslegung nicht zu. Verzichte
man trotz der eindeutigen Formulierung von Art. 30 lit. a IVV bei
arbeitslosen Personen auf den tatsächlichen Bezug von Leistungen der
Arbeitslosenversicherung, wie dies die Vorinstanz verlange, so müssten
zumindest die Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosentaggelder erfüllt
sein, damit eine Zusatzrente für den Ehegatten gewährt werden könne. Im
vorliegenden Fall würde allerdings auch eine solche Interpretation dem
Versicherten nicht zu einer Zusatzrente für seine Ehefrau verhelfen.

4.
4.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hatte kürzlich Gelegenheit, sich
im Urteil H. vom 18. Juni 2004, I 104/03, zur Rechtmässigkeit von Art. 30
lit. a IVV zu äussern (zur gerichtlichen Überprüfung von Verordnungen des
Bundesrates: BGE 129 II 164 Erw. 2.3, 129 V 271 Erw. 4.1.1, 329 Erw. 4.1, je
mit Hinweisen). Dabei gelangte es zum Ergebnis, dass sich die
verordnungsmässige Eingrenzung der den Erwerbstätigen im Sinne von Art. 34
Abs. 1 IVG gleichgestellten Personen auf Arbeitslose, welche Leistungen der
Eidgenössischen Arbeitslosenversicherung beziehen, auf ernsthafte und
vernünftige Gründe stützt und sich darum nicht beanstanden lässt. Wie im
zitierten Urteil dargelegt wird, ist die gesetzliche Delegationsnorm, auf
welcher Art. 30 IVV beruht, als "Kann-Vorschrift" (Art. 34 Abs. 2 IVG)
ausgestaltet. Damit hat der Gesetzgeber dem Bundesrat zur Erweiterung des
Kreises der Zusatzrentenberechtigten auf bestimmte erwerbslose Personen einen
grossen Ermessensspielraum eingeräumt. Der Verordnungsgeber hat die
Gleichstellung mit Personen im Sinne von Art. 34 Abs. 1 IVG, die unmittelbar
vor ihrer Arbeitsunfähigkeit eine Erwerbstätigkeit ausübten, vom Bezug
eindeutig umschriebener Ersatzeinkommen abhängig gemacht. Der Wortlaut des
Art. 30 lit. a IVV ist klar: Gemeint sind Arbeitslose, welche Leistungen der
Eidgenössischen Arbeitslosenversicherung (ALV) beziehen. Nicht eingeschlossen
sind nach der Formulierung der Verordnungsbestimmung Personen, welchen
Taggelder der Arbeitslosenhilfe oder Leistungen  der Sozialhilfe ausbezahlt
werden. Dies deckt sich mit Sinn und Zweck der in Art. 34 Abs. 1 IVG
geregelten Zusatzrente, welcher darin besteht, den Wegfall des
Einkommensbestandteils, der bisher zum Unterhalt der ehelichen Gemeinschaft
beigetragen hat, finanziell aufzufangen (BGE 128 V 28 Erw. 3e). Von einem
Einbezug weiterer arbeitsloser Personen in den Kreis der
Zusatzrentenberechtigten konnte und durfte der Bundesrat mit Blick auf den
offen formulierten Art. 34 Abs. 2 IVG absehen, ohne die an ihn delegierte
Kompetenz zu verletzen. Art. 30 lit. a IVV ist auch aus anderen Gründen weder
verfassungs- noch gesetzwidrig. Hätte der Bundesrat die
Zusatzrentenberechtigung in Art. 30 lit. a IVV über ALV-Leistungsbezüger
hinaus ausgedehnt, so hätten sich auf Grund dieser Rechtslage Probleme mit
der Umschreibung des Ersatzeinkommens ergeben, dessen Wegfall mit der
Zusatzrente ausgeglichen werden soll. Wäre im Sinne einer Gleichbehandlung
aller unter den Anwendungsbereich des IVG fallenden Personen gänzlich auf die
Voraussetzung eines durch den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit wegfallenden
Ersatzeinkommens verzichtet worden und eine Ausdehnung der den erwerbstätigen
Personen im Sinne von Art. 34 Abs. 1 IVG Gleichgestellten auf Arbeitslose im
Allgemeinen erfolgt, so hätte die Verwaltung zur Ermittlung eines
Zusatzrentenanspruchs unter anderem Abklärungen über die Bemühungen der
rentenberechtigten Person hinsichtlich Arbeitssuche und über ihre
Vermittlungsfähigkeit treffen müssen, was sich im Einzelfall schwierig hätte
gestalten können und mit einem administrativen Zusatzaufwand in einem für die
IV-Stellen sachfremden Gebiet verbunden gewesen wäre. Zudem ist fraglich, ob
eine solche Regelung dem Sinn und Zweck des Art. 34 Abs. 1 IVG entsprochen
hätte, wonach mit der Zusatzrente für den Ehegatten der Wegfall des
unmittelbar vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit tatsächlich erzielten, zum
Unterhalt der ehelichen Gemeinschaft bestimmten Einkommensbestandteils (und
nicht des künftig allenfalls zu erwirtschaftenden Lohnes) ausgeglichen werden
soll.

4.2  Mit Blick auf die in Ziff. 4.1 hiervor zusammenfassend wiedergegebenen
Erwägungen des Urteils H. vom 18. Juni 2004, I 104/03, besteht kein Grund für
die vom kantonalen Gericht postulierte Unbeachtlichkeit des Art. 30 lit. a
IVV. Die vorinstanzliche Gleich-stellung ausgesteuerter Arbeitsloser mit
erwerbstätigen Personen im Sinne von Art. 34 Abs. 1 IVG kann unter diesen
Umständen nicht geschützt werden.

5.
Weil der Beschwerdegegner im massgebenden Zeitpunkt (8. Oktober 1999) oder
unmittelbar davor (SVR 2001 IV Nr. 36 S. 109) unstreitig weder eine
Erwerbstätigkeit ausgeübt noch Leistungen der ALV bezogen hat, entfällt der
Anspruch auf eine Zusatzrente für seine Ehefrau.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Ent-scheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. März 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 13. Juli 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: