Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 221/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


I 221/03

Urteil vom 15. Juli 2003
II. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard;
Gerichtsschreiberin Hofer

L.________, 1957, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Charles
Wick, Schwanengasse 8, 3011 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 27. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1957 geborene, aus dem Kosovo stammende L.________ war seit 1994 als
Hilfspfleger und zuletzt seit Februar 1998 als Betriebsarbeiter tätig. Am 20.
Juli 1998 zog er sich bei der Arbeit eine Fraktur des linken Handgelenkes zu.
Trotz operativen Eingriffen entwickelte sich ein chronisches Schmerzsyndrom.
Am 9. März 2000 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern klärte die medizinischen und
erwerblichen Verhältnisse ab, wobei sie unter anderem verschiedene Berichte
des Handchirurgen Dr. med. B.________ beizog und eine BEFAS-Beurteilung durch
die Abklärungs- und Ausbildungsstätte X.________ (Schlussbericht vom 22.
Februar 2001) veranlasste. Mit Verfügung vom 27. Mai 2002 lehnte sie bei
einem Invaliditätsgrad von 12 % das Leistungsbegehren ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher L.________ eine geeignete
Umschulung, eventuell eine ganze oder subeventuell eine halbe Invalidenrente
geltend machen liess, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit
Entscheid vom 27. Februar 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt L.________ das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern. Zudem wird um unentgeltliche Rechtspflege
ersucht.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen lässt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über den
Invaliditätsbegriff (Art. 4 IVG), die Voraussetzungen und den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und Abs. 1bis IVG), die Invaliditätsbemessung
bei Erwerbstätigen nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG),
den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 IVG) und auf
Umschulung im Besonderen (Art. 17 IVG; BGE 124 V 110 Erw. 2b mit Hinweisen)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig ist auch, dass das am 1.
Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall
nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (hier: 27. Mai 2002) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

2.
Gestützt auf die medizinischen Berichte des Dr. med. B.________ vom 24. März
2000 und des Dr. med. K.________ von der Abklärungsstelle X.________ vom 22.
Februar 2001 ging die Vorinstanz davon aus, dass der Beschwerdeführer in
einer leidensangepassten, körperlich leichten und den linken Arm nicht oder
nur gering belastenden Tätigkeit uneingeschränkt arbeitsfähig ist. Dies wird
denn auch vom Beschwerdeführer nicht beanstandet.

3.
Damit stellt sich die Frage, ob die vorinstanzlich geschützte Annahme der
Verwaltung, wonach der Beschwerdeführer in der Lage wäre, ein
rentenausschliessendes Erwerbseinkommen zu erzielen, berechtigt war.

3.1 Mit der Vorinstanz ist dabei gestützt auf die Angaben der früheren
Arbeitgeberfirma vom 31. März 2000 von einem im Jahre 1998 ohne
Gesundheitsschädigung mutmasslich erzielbaren Jahreseinkommen von Fr.
50'700.- (Valideneinkommen) auszugehen, was in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ausdrücklich anerkannt wird.

Zu berücksichtigen gilt es indessen, dass nach der Rechtsprechung für den
Einkommensvergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt des Beginns eines
allfälligen Rentenanspruchs massgebend sind; Validen- und Invalideneinkommen
sind dabei auf zeitidentischer Grundlage zu erheben und allfällige
rentenwirksame Änderungen der Vergleichseinkommen bis zum Verfügungserlass zu
berücksichtigen (BGE 128 V 174). Die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit des
Beschwerdeführers besteht seit dem Unfall vom 20. Juli 1998, weshalb der
allfällige Rentenbeginn gestützt auf Art. 29 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 IVG auf
Juli 1999 zu veranschlagen ist und somit die zu diesem Zeitpunkt bestehenden
Einkommensverhältnisse zu berücksichtigen sind.

Bezogen auf das Jahr 1999 resultiert ein Valideneinkommen von Fr. 50'852.-
(Nominallohnentwicklung 1999: 0.3 %; Die Volkswirtschaft 1/2003, S. 95,
Tabelle B 10.2).
3.2 Zur Bestimmung der trotz Behinderung realisierbaren Einkünfte
(Invalideneinkommen) zog das kantonale Gericht die vom Bundesamt für
Statistik für das Jahr 1998 herausgegebene Lohnstrukturerhebung (LSE 1998)
bei, was angesichts der Tatsache, dass mangels erwerblicher Betätigung des
Beschwerdeführers keine anderweitigen konkreten Anhaltspunkte greifbar sind,
nicht zu beanstanden ist (BGE 126 V 76 Erw. 3b, 124 V 322 Erw. 3b/aa, je mit
Hinweisen). Ein Betätigungsvergleich ist entgegen der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung nicht vorzunehmen, da
dem Versicherten die Aufnahme einer leidensangepassten (unselbstständigen)
Erwerbstätigkeit zumutbar ist und die Invaliditätsbemessung bei
Erwerbstätigen nach Massgabe der Erwerbsunfähigkeit vorzunehmen ist (vgl.
Art. 28 Abs. 2 IVG). Allfälligen leidensbedingten Einschränkungen kann dabei
mit einem Abzug vom Tabellenlohn Rechnung getragen werden (BGE 126 V 78 Erw.
5). Damit ist der vorliegende Fall nicht mit dem in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde angeführten, in BGE 128 V 29 publizierten
Urteil zu vergleichen, bei dem es um die Invaliditätsbemessung eines
Selbstständigerwerbenden mit eigenem Gewerbebetrieb ging, dessen
Geschäftsergebnis von invaliditätsfremden Faktoren beeinflusst war.

Für die mit einfachen und repetitiven Aufgaben betrauten Männer im
Privatsektor, mithin bei dem für den Beschwerdeführer in Betracht fallenden
Anforderungsniveau 4, belief sich der Zentralwert laut Tabelle TA 1 der LSE
1998 bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden im Jahre 1998 auf Fr.
4268.-, was unter Annahme einer betriebsüblichen durchschnittlichen
Arbeitszeit von 41.9 Wochenstunden (Die Volkswirtschaft, a.a.O., S. 94,
Tabelle B 9.2) ein Gehalt von jährlich Fr. 53'648.- ergibt. Im Hinblick auf
die sich im Vergleich zu den statistisch ermittelten Werte beim
Beschwerdeführer einkommensmindernd auswirkenden Merkmale (BGE 126 V 78 Erw.
5a und b/aa) nahmen Verwaltung und Vorinstanz einen Abzug vom Tabellenlohn
von 20 % vor, was sich nicht beanstanden lässt. Damit resultiert für 1998
noch ein Einkommen von Fr. 42'919.-. Für das Jahr 1999 ergibt dies unter
Berücksichtigung der Nominallohnentwicklung von 0.3 % Fr. 43'047.-.
3.3 Verglichen mit dem Valideneinkommen von Fr. 50'852.- resultiert somit ein
Invaliditätsgrad von 15.35 %. Es muss daher bei der vorinstanzlichen
Feststellung bleiben, dass die Voraussetzungen für die Zusprechung
beruflicher Eingliederungsmassnahmen in Form der beantragten Umschulung
mangels einer anspruchsbegründenden Erwerbseinbusse nicht erfüllt und auch
die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Invalidenrente nicht gegeben
sind.

An diesem Ergebnis ändern sämtliche Einwendungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts. Auf dem allgemeinen (ausgeglichenen)
Arbeitsmarkt stehen dem Beschwerdeführer genügend Beschäftigungen offen, die
geringe Anforderungen an die Funktionstüchtigkeit des linken Armes stellen.
Im Bericht der Abklärungs- und Ausbildungsstätte X.________ vom 22. Februar
2001 werden beispielsweise Aufsichts- und Überwachungsfunktionen,
Kurierdienste mit dem Auto, einfachste Schalterdienste oder Mithilfe bei der
Annahme und Abgabe von Textilien in einem Textilreinigungsgeschäft genannt.
Dass der Versicherte bis anhin trotz intensiver Suche keine entsprechende
Stelle finden konnte, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Denn für
die Invaliditätsschätzung ist gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG massgebend, inwiefern
sich das ihm verbliebene Leistungsvermögen auf dem für ihn in Frage kommenden
Arbeitsmarkt wirtschaftlich verwerten lässt. Abzustellen ist nicht darauf, ob
ein Invalider unter den konkreten Arbeitsmarktverhältnissen tatsächlich
vermittelt werden kann, sondern einzig darauf, ob er die ihm verbliebene
Arbeitskraft noch wirtschaftlich nutzen könnte, wenn die verfügbaren
Arbeitsplätze dem Angebot an Arbeitskräften entsprechen würden (AHI 1998 S.
291).

4.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss
Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher
als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die
Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Charles
Wick, Bern, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 15. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der II. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: