Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 214/2003
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I 214/03

Urteil vom 3. September 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Bucher

S.________, 1978, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Michael
Weissberg, Zentralstrasse 47, 2502 Biel/Bienne,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 25. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1978 geborene S.________ zog sich am 5. Juli 2000 bei einem Badeunfall
mit HWK6-Luxationsfraktur eine sensomotorisch komplette Tetraplegie sub C7
mit Teilinnervation C7-Th2 zu. Mit Verfügung vom 26. Juli 2002 sprach ihm die
IV-Stelle des Kantons Aargau mit Wirkung ab 1. Juli 2001 eine
Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit zu. Dabei ging sie
von einer Hilflosigkeit in den vier Bereichen Ankleiden/Auskleiden, Essen,
Verrichten der Notdurft und Fortbewegung/Kontaktaufnahme aus.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit der die Ausrichtung einer
Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit schweren Grades beantragt wurde,
wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab, wobei es im Gegensatz
zur Verwaltung auch eine Hilflosigkeit in der Lebensverrichtung
"Aufstehen/Absitzen/Abliegen" bejahte (Entscheid vom 25. Februar 2003).

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der kantonale Gerichtsentscheid und die Verwaltungsverfügung seien aufzuheben
und es sei ihm mit Wirkung ab 1. Juli 2001 eine Hilflosenentschädigung bei
Hilflosigkeit schweren Grades zuzusprechen.
Die IV-Stelle schliesst unter Hinweis auf die vorinstanzlichen Ausführungen
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die einschlägigen Bestimmungen über die
Hilflosenentschädigung (Art. 42 Abs. 1, 2 und 4 IVG; Art. 36 IVV) in der hier
anwendbaren, vor Inkrafttreten des ATSG geltenden Fassung (vgl. z. B. auch
SVR 2003 IV Nr. 19 S. 56 Erw. 2) zutreffend wiedergegeben. Das Gleiche gilt
für die dazu ergangene Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts, insbesondere zu den für die Bemessung der
Hilflosigkeit massgebenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen (BGE 127 V
97 Erw. 3c, 125 V 303 Erw. 4a), zur für die Annahme mittelschwerer
Hilflosigkeit erforderlichen Anzahl betroffener Lebensverrichtungen (BGE 121
V 90 Erw. 3b) sowie zum Vorgehen bei mehrere Teilfunktionen umfassenden
Lebensverrichtungen (BGE 121 V 91 Erw. 3c). Darauf wird verwiesen. Zu
ergänzen ist, dass sich die Bemessung der Hilflosenentschädigung in der
Invalidenversicherung nach denselben Kriterien richtet wie in der Alters- und
Hinterlassenenversicherung und in der Unfallversicherung (BGE 127 V 115 Erw.
1d; Art. 66bis Abs. 1 AHVV verweist auf Art. 36 IVV; Art. 38 Abs. 2 bis 4 UVV
lauten gleich wie Art. 36 Abs. 1 bis 3 IVV), sodass auch die Rechtsprechung
zu diesen Sozialversicherungszweigen herangezogen werden kann.

1.2 Hinsichtlich der Hilflosigkeit schweren Grades, deren Annahme nach Art.
36 Abs. 1 IVV voraussetzt, dass die versicherte Person nicht nur in allen
alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die
Hilfe Dritter angewiesen ist, sondern überdies der dauernden Pflege oder der
persönlichen Überwachung bedarf, ist ferner Folgendes beizufügen: Hier ist
die Dritthilfe bei Vornahme der einzelnen Lebensverrichtungen bereits derart
umfassend, dass der weiteren Voraussetzung der dauernden Pflege oder der
dauernden persönlichen Überwachung nur noch eine untergeordnete Bedeutung
zukommen kann und dass im Rahmen dieser Vorschrift daher schon eine minimale
Erfüllung eines dieser zusätzlichen Erfordernisse genügen muss (BGE 116 V 49
Erw. 6b, 107 V 150 Erw. 1d, 106 V 158 Erw. 2a, 105 V 56 Erw. 4b; zur
Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil I. vom 9. Juli
2003, I 385/01, Erw. 5.3). Dabei beziehen sich Pflege und Überwachung nicht
auf die alltäglichen Lebensverrichtungen. Es handelt sich vielmehr um eine
Art medizinischer oder pflegerischer Hilfeleistung, welche infolge des
physischen oder psychischen Zustandes der versicherten Person notwendig ist.
"Dauernd" hat dabei nicht die Bedeutung von "rund um die Uhr", sondern ist
als Gegensatz zu "vorübergehend" zu verstehen. Unter den Begriff der Pflege
fällt zum Beispiel die Notwendigkeit, täglich Medikamente zu verabreichen
oder eine Bandage anzulegen. Die Notwendigkeit der persönlichen Überwachung
ist beispielsweise dann gegeben, wenn eine versicherte Person wegen geistiger
Absenzen nicht während des ganzen Tages allein gelassen werden kann (BGE 116
V 48 Erw. 6b, 106 V 158 Erw. 2a, 105 V 56 Erw. 4b; ZAK 1990 S. 46 Erw. 2c).

2.
Unbestritten ist im letztinstanzlichen Verfahren, dass der Versicherte in den
fünf Bereichen Ankleiden/Auskleiden, Aufstehen/Absitzen/Abliegen, Essen,
Verrichten der Notdurft und Fortbewegung/Kontaktaufnahme regelmässig in
erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist. Ebenso wenig ist der
Beginn des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung streitig. Zu prüfen ist
indessen zum einen, ob die Hilfsbedürftigkeit auch die sechste für die
Bemessung der Hilflosenentschädigung massgebende alltägliche
Lebensverrichtung - die Körperpflege - beschlägt, und zum andern, ob der
Beschwerdeführer der dauernden Pflege oder persönlichen Überwachung bedarf.
Bei Bejahung beider Fragen hat der Versicherte Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung bei einer Hilflosigkeit schweren statt einer solchen
mittleren Grades. Die erste Frage wird von Verwaltung und Vorinstanz
verneint, vom Beschwerdeführer hingegen bejaht. Zur von Letzterem implizit
bejahten zweiten Frage äussert sich das kantonale Gericht, nachdem nach
seiner Auffassung schon die Anspruchsvoraussetzung der Hilflosigkeit in allen
sechs massgebenden alltäglichen Lebensverrichtungen nicht erfüllt ist, nicht,
während die Verwaltung im vorinstanzlichen Verfahren erwähnte, der
Versicherte bedürfe dauernder Pflege.

3.
3.1 Im am 27. Juni 2001 ausgefüllten Formular "Anmeldung und Fragebogen für
eine Hilflosenentschädigung der IV" gab der Versicherte an, er bedürfe beim
Baden/Duschen der regelmässigen und erheblichen Hilfe. Unter anderem müssten
Hilfsmittel wie Duschrollstuhl, Tücher, Shampoo usw. platziert werden. In
seiner vom 13. Februar 2002 datierenden Übersicht über Art und Umfang der
Behinderung erklärte er einerseits, er sei beim Duschen nicht auf Hilfe
angewiesen, und andererseits, er benötige Hilfe beim Transfer vom nassen
Duschrollstuhl ins Bett. Ebenso hielt die Spitex-Betreuerin im Rahmen einer
telefonischen Auskunft vom 19. März 2002 zum einen fest, der Versicherte
könne selber duschen, und führte zum andern an, dieser könne in der Regel den
Wechsel vom Rollstuhl ins Bett und auf den Duschstuhl selber bewerkstelligen,
benötige aber beim Transfer vom nassen Duschstuhl ins Bett Dritthilfe, da er
am Duschstuhl klebe. Schliesslich erklärte die gleiche Person in einer
schriftlichen Einschätzung der Selbstständigkeit des Versicherten vom 4.
April 2002, bei der Körperpflege seien Handreichungen notwendig. Unter diesen
Umständen ist davon auszugehen, dass mit der Verneinung einer
Hilfsbedürftigkeit beim Duschen, wie sie auch im Bericht über die Abklärung
an Ort und Stelle vom März 2002 erfolgte, lediglich der Duschvorgang selbst
gemeint war, unter Nichtberücksichtigung jedenfalls der glaubhaft
vorgebrachten und unbestrittenen beim Aussteigen aus dem Duschrollstuhl
erforderlichen Dritthilfe.

3.2 Das Aussteigen aus dem Duschrollstuhl ist indessen als Bestandteil der
Verrichtung "Duschen" zu betrachten. Es bildet eine Einheit mit dem
Duschvorgang, weil es die notwendige Folge desselben ist: Da der
Beschwerdeführer zum Duschen auf einen Duschrollstuhl angewiesen ist, muss er
vor dem Duschen in diesen ein- und nach dem Duschen aus diesem aussteigen.
Eine Hilfsbedürftigkeit beim Aussteigen aus dem Duschrollstuhl ist daher im
Sinne einer funktional gesamtheitlichen Betrachtungsweise beim Duschen und
damit bei der Lebensverrichtung "Körperpflege" zu berücksichtigen, ebenso wie
rechtsprechungsgemäss
- die Fremdhilfe beim Besteigen des Spezialbettes bei einer Person, die
sich nur darin an- und auskleiden kann, nicht nur bei der Lebensverrichtung
"Aufstehen/Absitzen/Abliegen", sondern auch im Rahmen der Lebensverrichtung
"Ankleiden/Auskleiden" (RKUV 1999 Nr. U 334 S. 204 Erw. 2b),
- die Fremdhilfe beim Besteigen der Badewanne ungeachtet der
Lebensverrichtung "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" beim Baden und damit bei der
Lebensverrichtung "Körperpflege" (nicht veröffentlichtes Urteil H. vom 26.
Juni 1998, I 438/96) und
- die nötige Hilfe beim Ordnen der Kleider oder bei der Reinigung im
Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung ungeachtet der Lebensverrichtungen
"Ankleiden/Auskleiden" und "Körperpflege" bei der Lebensverrichtung
"Verrichten der Notdurft" (BGE 121 V 93 Erw. 6) zu veranschlagen ist.

3.3 Dabei handelt es sich um eine regelmässige und - es wird die Anwesenheit
einer Drittperson bei jedem Duschen vorausgesetzt - wesentliche Dritthilfe.
Wegen dieser Hilfsbedürftigkeit bei der Teilfunktion "Duschen" der
Lebensverrichtung "Körperpflege" ist der Beschwerdeführer auch bei der
Körperpflege (BGE 121 V 91 Erw. 3c) und damit bei allen sechs massgebenden
alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die
Hilfe Dritter angewiesen. Die erste Voraussetzung einer schweren
Hilflosigkeit ist demnach erfüllt (Erw. 1.2 hievor). Ob nebst dem Aussteigen
aus dem Duschrollstuhl noch andere Aspekte des vorliegend zu beurteilenden
Sachverhalts auf eine Hilfsbedürftigkeit bei der Körperpflege schliessen
lassen, kann dahingestellt bleiben.

4.
Der Versicherte muss täglich ein Medikament in Pulverform einnehmen, dessen
Verpackung seine Mutter für ihn aufreissen muss. Er benötigt daher dauernde
Pflege in Form der täglichen Verabreichung eines Medikamentes, womit auch die
zweite Voraussetzung für die Annahme einer Hilflosigkeit schweren Grades
erfüllt ist (Erw. 1.2 hievor). Wenn schon eine Notwendigkeit dauernder Pflege
besteht, ist eine Überwachungsbedürftigkeit für die Bejahung einer schweren
Hilflosigkeit nicht erforderlich; nach dem klaren Wortlaut des Art. 36 Abs. 1
IVV und der dazu ergangenen Rechtsprechung (Erw. 1.2 hievor) muss zusätzlich
zur Hilfsbedürftigkeit in allen alltäglichen Lebensverrichtungen nur das
Merkmal der Pflege oder - alternativ - jenes der Überwachung gegeben sein.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Februar 2003 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 26. Juli 2002 hinsichtlich der
Bemessung der Hilflosigkeit aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der
Beschwerdeführer Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit
schweren Grades hat.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 3. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: