Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 213/2003
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I 213/03

Urteil vom 24. November 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Jancar

H.________, 1955, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 26. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1955 geborene H.________ arbeitete seit Mai 1991 zu 51 % (21
Wochenstunden bei einer 41-Stundenwoche) als Non-food-Verkäuferin bei der
Firma X.________. Sie leidet seit Mai 2000 an einem Schmerzsyndrom im linken
Fuss, weswegen sie im Juni 2000 operiert wurde (Excision eines Morton-Neuroms
interdigital II/III und III/IV). Seit Januar 2001 arbeitet sie während 10,5
Stunden pro Woche im angestammten Beruf in der Firma X.________. Vom 3. bis
10. April 2001 war sie im Spital Y.________ hospitalisiert. Am 10. Dezember
2001 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Zur
Abklärung der Verhältnisse holte die IV-Stelle Aargau diverse Arztberichte
ein. Weiter liess sie die Versicherte am 5. August 2002 einen Fragebogen
betreffend Arbeitsfähigkeit im Haushalt ausfüllen. Eine Haushaltsabklärung in
der Wohnung der Versicherten wurde nicht durchgeführt. Mit Verfügung vom 29.
August 2002 lehnte die IV-Stelle den Rentenanspruch ab. Zur Begründung wurde
ausgeführt, ohne Behinderung würde die Versicherte zu 51 % als Verkäuferin
und zu 49 % im Haushalt tätig sein. Als Gesunde würde sie jährlich Fr.
25'805.- (Fr. 1985.- x 13) verdienen. Mit der Behinderung erziele sie Fr.
12'818.- (Fr. 985.50 x 13), was eine Einschränkung von 50,33 % bzw. einen
erwerbsbezogenen Invaliditätsgrad von 25,67 % ergebe. Im Haushaltbereich
betrage die Einschränkung 9 %, woraus anteilsmässig ein Invaliditätsgrad von
4,41 % resultiere. Die Gesamtinvalidität betrage damit 30 %.

B.
Hiegegen erhob die Versicherte beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Beschwerde und reichte neu unter anderem einen Bericht der Frau Dr. med.
P.________, Oberärztin Anästhesie/Leitende Ärztin Schmerztherapie, Spital
Y.________, vom 4. Mai 2001 ein. Das kantonale Gericht hiess die Beschwerde
teilweise gut und wies die Sache zur weiteren Abklärung und Neuverfügung im
Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück. Es ging davon aus, die
Versicherte wäre als Gesunde zu 51 % erwerbstätig und zu 49 % im Haushalt
tätig. Für die Erwerbstätigkeit nahm es eine 50%ige Arbeitsunfähigkeit an und
ermittelte einen Invaliditätsgrad von 25,68 %. Im Haushaltsbereich könne der
Invaliditätsgrad nicht festgelegt werden, da die erforderliche Abklärung an
Ort und Stelle fehle. Die Verwaltung habe diese nachzuholen und danach über
den Rentenanspruch neu zu verfügen (Entscheid vom 26. Februar 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des
kantonalen Entscheides sei festzustellen, dass ihre Arbeitsunfähigkeit im
erwerblichen Bereich 75 % betrage; eventuell sei festzustellen, dass diese
Restarbeitsfähigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt wirtschaftlich nicht mehr
nutzbar sei, so dass im erwerblichen Bereich von einem Invaliditätsgrad von
100 % auszugehen sei; die Sache sei an das kantonale Gericht bzw. an die
IV-Stelle zurückzuweisen, damit in diesem Sinne und nach Abklärung des
Haushaltbereichs eine Neubeurteilung erfolge. Sie legt einen neuen Bericht
der Frau Dr. med. P.________ vom 20. März 2003 auf.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Mit Eingabe vom 16. Oktober 2003 macht die Versicherte geltend, ihr
Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, nachdem sie am 21. Juni 2003
gestürzt sei und eine Fraktur des Lendenwirbelkörpers 2 erlitten habe. Sie
legt diesbezüglich einen Bericht des Dr. med. K.________, praktischer Arzt
vom 8. Oktober 2003 auf.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und die Grundsätze
über den Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen und den
Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), die Begriffe der
Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit (BGE 121 V 331 Erw. 3b, 115 V 133 Erw. 2, je
mit Hinweisen), die Invaliditätsbemessung bei erwerbstätigen Versicherten
nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 128 V 30 Erw.
1), bei nichterwerbstätigen Versicherten nach der spezifischen Methode (Art.
5 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 IVV; BGE 128
V 31 Erw. 1, 104 V 136 Erw. 2a) und bei Teilerwerbstätigen nach der
gemischten Methode (Art. 27bis Abs. 1 IVV; BGE 125 V 148 ff. Erw. 2, 104 V
136 Erw. 2a) sowie die Festlegung der Gesamtinvalidität bei
teilerwerbstätigen Versicherten (BGE 125 V 149 Erw. 2b mit Hinweisen) richtig
wiedergegeben. Ebenfalls beizupflichten ist den vorinstanzlichen Erwägungen
zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261
Erw. 4 mit Hinweisen), zum Abklärungsbericht Haushalt (Art. 69 Abs. 2 IVV;
BGE 128 V 93, AHI 2001 S. 161 Erw. 3b und c, je mit Hinweisen) und zu dem im
Sozialversicherungsrecht geltenden Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b mit Hinweisen). Gleiches gilt im
Weiteren bezüglich der Erwägungen der Vorinstanz, dass das am 1. Januar 2003
in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall
nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (hier: 29. August 2002) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).
Darauf wird verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass hinsichtlich des Beweiswerts eines Arztberichts
entscheidend ist, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf
allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in
der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen
Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet
und nachvollziehbar sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a; AHI 2001 S. 113 Erw. 3a).

2.
Der im letztinstanzlichen Verfahren ausserhalb der Rechtsmittelfrist und des
Schriftenwechsels nachgereichte Bericht des Dr. med. K.________ vom 8.
Oktober 2003 ist unbeachtlich. Denn er beschreibt eine nach dem Erlass der
strittigen Verfügung eingetretene gesundheitliche Entwicklung (Unfall der
Versicherten vom 21. Juni 2003) und bietet daher keinen Anlass für eine
abweichende materiellrechtliche Beurteilung in diesem Prozess (BGE 129 V 4
Erw. 1.2, 127 V 353).

3.
Die Invaliditätsbemessung hat unbestrittenermassen nach der gemischten
Methode im Sinne von Art. 27bis IVV zu erfolgen, wobei der Anteil der
Erwerbstätigkeit 51 % und derjenige der Betätigung im Haushalt 49 % beträgt.

4.
Die Vorinstanz hat zutreffend erwogen, dass bezüglich der Leistungsfähigkeit
der Versicherten im Aufgabenbereich Haushalt zu Unrecht eine Abklärung an Ort
und Stelle fehle, weshalb die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen sei,
damit sie das Versäumte nachhole. Dies ist unbeanstandet geblieben.

5.
Streitig ist die Höhe des erwerbsbezogenen Invaliditätsgrades.

5.1 Aus den Angaben der Arbeitgeberin vom 26. Februar 2002 ergibt sich, dass
die Versicherte ohne Gesundheitsschaden in ihrer 51%igen Tätigkeit (21
Wochenstunden) als Verkäuferin monatlich Fr. 1985.- verdienen würde.

5.2
5.2.1In medizinischer Hinsicht steht fest, dass die Versicherte mit der
Behinderung in der Lage ist, im angestammten Beruf maximal 50 % ihres
vorherigen Pensums zu leisten, d.h. 10,5 Stunden verteilt auf zwei Tage à
5,25 Stunden pro Woche. Eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit ist nicht
möglich (Berichte des Dr. med. S.________, Neurologie FMH, vom 15. Mai 2002
und der Frau Dr. med. P.________ vom 20. März 2003). Seit Januar 2001
arbeitet die Beschwerdeführerin in diesem Umfang im angestammten Beruf und
erzielt damit ein Monatseinkommen von Fr. 985.50.
5.2.2 Die Versicherte macht geltend, ihre Arbeit von wöchentlich 10,5 Stunden
sei nur deshalb möglich, weil ihr Ehemann Leiter der Firma X.________ sei.
Dies entspreche aber nicht der Situation, mit der sie am freien Arbeitsmarkt
konfrontiert sei. Es sei somit zu prüfen, ob ihre Restarbeitsfähigkeit auf
dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt verwertbar sei.

5.2.3 Für die Bestimmung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch
realisierbaren Einkommens (Invalideneinkommen) ist primär von der
beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte
Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine
Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile
Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr
verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, sowie das
Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn
erscheint, gilt grundsätzlich der von ihr tatsächlich erzielte Verdienst als
Invalidenlohn (BGE 126 V 76 Erw. 3b/aa mit Hinweisen).
Vorliegend kann von stabilen Arbeitsverhältnissen ausgegangen werden, da die
Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Auftretens des Gesundheitsschadens (Mai
2000) während 9 Jahren beim gleichen Arbeitgeber tätig gewesen ist und nach
der Behinderung weiter beschäftigt wurde. Die Versicherte macht denn auch
nicht geltend, dass sie nur provisorisch oder befristet beschäftigt werde und
gehalten sei, eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Auf Grund der ärztlichen
Angaben (Erw. 5.1 hievor) steht weiter fest, dass sie die verbleibende
Arbeitsfähigkeit am bisherigen Arbeitsplatz zumutbarerweise voll ausnützt.
Schliesslich kann nicht von einem Soziallohn gesprochen werden, da die
Versicherte für die Hälfte des vor der Invalidität geleisteten Pensums 49,6 %
Lohn erhält. Verwaltung und Vorinstanz haben demnach zu Recht das
Invalideneinkommen von Fr. 985.50 als massgebend erachtet.

6.
6.1
6.1.1Gestützt auf das Valideneinkommen von Fr. 1985.- und das
Invalideneinkommen von Fr. 985.50 hat das kantonale Gericht einen
Minderverdienst von 50,35 % ermittelt und diesen mit dem dem hypothetischen
Teilarbeitspensum entsprechenden Anteil gewichtet, was einen erwerbsbezogenen
Invaliditätsgrad von 25,68 % (0,51 x 50,35 %) ergibt.

6.1.2 Die Versicherte wendet ein, die Vorinstanz trage dem Umstand, dass sie
vor Eintritt des Gesundheitsschadens nur einer beschränkten Erwerbstätigkeit
nachgegangen sei, doppelt zu ihren Ungunsten Rechnung, nämlich einerseits
beim Vergleich des Teilzeiteinkommens mit dem noch realisierbaren
Invalideneinkommen und andererseits bei der Berechnung des Invaliditätsgrades
(Anteil Erwerb/Haushalt). Dies widerspreche dem Willen des Gesetz- und
Verordnungsgebers und stelle eine ungerechte Diskriminierung der
teilzeiterwerbstätigen Personen dar. Vielmehr müsse auch bei
Teilzeitbeschäftigten in einem ersten Schritt das Erwerbseinkommen bei einer
Vollzeitbeschäftigung mit dem noch zumutbaren Invalideneinkommen verglichen
werden. Erst danach sei der Anteil der Haushalttätigkeit
mitzuberücksichtigen. Aus dem Ergebnis dieser Schritte sei der
Invaliditätsgrad zu ermitteln.

6.2 Die vorinstanzliche Berechnung entspricht der Gerichts- und
Verwaltungspraxis, wonach die Einschränkung im erwerblichen Bereich, welche
auf der Grundlage der ohne Behinderung ausgeübten Teilerwerbstätigkeit
ermittelt wurde, bei der Festsetzung der Gesamtinvalidität nicht voll in
Anschlag zu bringen ist, sondern gewichtet mit dem dem hypothetischen
Teilzeitarbeitspensum entsprechenden Anteil (BGE 125 V 146 ff.). In jenem
Entscheid hat sich das Eidgenössische Versicherungsgericht einlässlich zu der
von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Frage geäussert. Ihre Argumentation
bietet keinen Anlass für eine Praxisänderung (vgl. dazu BGE 126 V 40 Erw. 5a,
125 V 207 Erw. 2). Insbesondere sind die Ausführungen nicht geeignet, die in
BGE 125 V 146 festgestellte Gesetzmässigkeit von Art. 27bis IVV in Frage zu
stellen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 24. November 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: