Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 210/2003
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I 210/03

Urteil vom 26. August 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber
Ackermann

F.________, 1999, Beschwerdeführer, handelnd durch seine Eltern X.________
und Y.________, und diese vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte,
Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 17. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
F. ________, geboren am 16. März 1999, wurde am 30. September 1999 bei der
Invalidenversicherung zum Bezug medizinischer Massnahmen angemeldet. Die
IV-Stelle Luzern holte unter anderem diverse Arztberichte (so mehrere des
Spitals A.________) ein und sprach mit Mitteilung vom 30. November 1999
medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 395 (leichte
cerebrale Bewegungsstörungen [Behandlung bis Ende des 2. Lebensjahres]) und
mit Mitteilung vom 23. Mai 2000 Sonderschulmassnahmen zu. Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren lehnte die IV-Stelle Luzern mit Verfügung vom 5. März
2002 dagegen den Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung des
Geburtsgebrechens Nr. 390 (angeborene cerebrale Lähmungen [spastisch,
athetotisch, ataktisch]) ab, da eine angeborene ataktische cerebrale Lähmung
im Sinne dieses Geburtsgebrechens nicht ausgewiesen sei.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 17. Februar 2003 ab, nachdem es einen Bericht der
Neuropädiatrie des Spitals A.________ vom 24. Juni 2002 zu den Akten genommen
hatte.

C.
Unter Beilage eines Berichtes der Neuropädiatrie des Spitals A.________ vom
27. Januar 2003 und eines Berichtes der Physiotherapeutin vom 18. März 2003
lässt F.________, vertreten durch seine Eltern, Verwaltungsgerichtsbeschwerde
führen mit den Anträgen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und
der Verwaltungsverfügung seien ihm medizinische Massnahmen zuzusprechen,
eventualiter seien ergänzende medizinische Abklärungen vorzunehmen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 5. März
2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im
vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen
anwendbar.

2.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch auf
medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG) und zum Begriff
der Geburtsgebrechen (Art. 1 und 2 GgV), namentlich der angeborenen
cerebralen Lähmungen (spastisch, athetotisch, ataktisch; Ziff. 390 GgV
Anhang), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Zu ergänzen bleibt, dass Verwaltungsweisungen für das
Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich sind. Es soll sie bei seiner
Entscheidung mit berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste
und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen
zulassen. Es weicht anderseits insoweit von Weisungen ab, als sie mit den
anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 127 V 61 Erw.
3a, 126 V 68 Erw. 4b, 427 Erw. 5a, 125 V 379 Erw. 1c, je mit Hinweisen).

3.
Streitig ist, ob der vorliegende Gesundheitsschaden eine angeborene cerebrale
Lähmung (spastisch, athetotisch, ataktisch) darstellt und damit unter Ziff.
390 GgV Anhang fällt oder nicht.

3.1 Die Vorinstanz stellt letztlich auf die Einschätzung der IV-Ärztin ab und
geht davon aus, es liege nicht das Bild der vorausgesetzten Ataxie bei
Keinhirnschaden vor; die ausgewiesene muskuläre Hypotonie sei kein
Geburtsgebrechen gemäss Ziff. 390 GgV Anhang. Der Beschwerdeführer ist
demgegenüber der Auffassung, es sei die Einschätzung der Neuropädiatrie des
Spitals A.________ als massgebend zu erachten, welche als Kompetenzstelle von
einem Geburtsgebrechen nach Ziff. 390 GgV Anhang ausgehe und auch mit der
Einschätzung der Physiotherapeutin übereinstimme.

3.2 Die unter Ziff. 390 GgV Anhang fallenden Gesundheitsschäden sind nach der
Verwaltungspraxis eng auszulegen, verlangt doch das Kreisschreiben über die
medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME;
gültig ab 1. November 2000) in Ziff. 390.1 "eine eindeutige, typische, also
zweifelsfrei diagnostizierbare 'klassische' ... ataktische Symptomatik". Im
Weiteren ist nach Ziff. 390.2 KSME die muskuläre Hypotonie keine
monosymptomatische Form einer cerebralen Bewegungsstörung im Sinne der Ziff.
390 GgV, was auch das BSV in seiner Vernehmlassung - unter Hinweis auf die
Entstehungsgeschichte der Revision der Verordnung über die Geburtsgebrechen
per Januar 1986 - zum Ausdruck bringt und vom Eidgenössischen
Versicherungsgericht bereits in diesem Sinne entschieden worden ist (Urteil
R. vom 20. Februar 2002, I 64/01, mit Hinweisen). Von diesen engen
Voraussetzungen gemäss Verwaltungspraxis der unter Ziff. 390 GgV fallenden
Beschwerden ist deshalb auszugehen, da sie mit den anwendbaren normativen
Bestimmungen vereinbar sind (vgl. Erw. 2 in fine hievor). Es ist dabei
insbesondere zu berücksichtigen, dass dem Bundesrat in Art. 13 Abs. 2 IVG ein
weites normatives Ermessen eingeräumt worden ist (AHI 1999 S. 168 Erw. 2b)
und in Art. 1 Abs. 2 Satz 2 GgV das Eidgenössische Departement des Innern
ermächtigt wird, eindeutige - aber nicht im GgV Anhang erwähnte -
Geburtsgebrechen als solche im Sinne des Art. 13 IVG zu bezeichnen, womit die
rasche Anpassung an Fortschritte der Medizin gesichert ist (AHI 1999 S. 169
Erw. 2b); im Weiteren ist zu beachten, dass - wie sich aus der Vernehmlassung
des BSV ergibt - die muskuläre Hypotonie nach dem Willen des
Verordnungsgebers gerade nicht unter Ziff. 390 GgV Anhang fallen soll.

Somit ist zu prüfen, ob die für Leistungen zur Behandlung des
Geburtsgebrechens gemäss Ziff. 390 GgV Anhang vorausgesetzte eindeutige
ataktische Symptomatik vorliegend gegeben ist oder nicht. Bei der Durchsicht
der in den Akten liegenden Arztberichte fällt auf, dass Dr. med. S.________,
Leitender Arzt der Neuropädiatrie des Spitals A.________, in seinem Bericht
vom 14. März 2002 aufgrund der vorliegenden Befunde eine hypoton-ataktische
Cerebralparese annimmt, den Versicherten jedoch anlässlich der entsprechenden
Konsultation nicht selber gesehen hat, während die Ärztin der IV-Stelle,
welche in ihren kurzen (internen) Stellungnahmen eine angeborene ataktische
zerebrale Lähmung im Sinne der Ziff. 390 GgV Anhang verneint, den
Beschwerdeführer ebenfalls nicht selber gesehen hat. Bei dermassen heiklen
Abgrenzungsfragen wie hier kann jedoch von einer persönlichen Untersuchung
nicht abgesehen werden. Die Sache wird deshalb an die IV-Stelle
zurückgewiesen, damit sie die notwendigen Abklärungen zur Bestimmung des
vorliegenden Gesundheitsschadens vornehme und anschliessend neu verfüge.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen
Verfahrens entsprechend steht dem obsiegenden Versicherten eine
Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 17. Februar 2003 und
die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 5. März 2002 aufgehoben, und es wird
die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf medizinische
Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens gemäss Ziff. 390 GgV Anhang
neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Luzern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 26. August 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: