Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 206/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


I 206/03

Urteil vom 4. August 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber
Hochuli

B.________, 1961, Beschwerdeführer, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 14. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 19. August 2002 lehnte die IV-Stelle des Kantons Graubünden
(nachfolgend: IV-Stelle) das Leistungsgesuch des 1961 geborenen, seit Herbst
1998 unter den Folgen einer EBV-Infektion (EBV = Epstein-Barr-Virus)
leidenden B.________ - gelernter Autospengler (zuletzt bis zum 31. Oktober
1999: Service-Techniker im Aussendienst für die F.________ SA) - nach
verschiedenen spezialärztlichen Untersuchungen, einer interdisziplinären
Expertise im Aerztlichen Begutachtungsinstitut GmbH in X.________
(nachfolgend: ABI) und dem Einholen eines Berichtes des Bundesamtes für
Sozialversicherung (BSV) ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des B.________ hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 14. Januar 2003 wie folgt gut
(Dispositiv Ziffer 1):
"Die Beschwerde wird gutgeheissen, die angefochtene Verfügung aufgehoben und
die Sache zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen."
An der entscheidenden Stelle in Erwägung Ziffer 3 auf Seite 10 des kantonalen
Entscheides wurde ausgeführt:
"Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die IV-Stelle das
Leistungsbegehren zu Unrecht abgewiesen hat, da die Stellungnahmen des
IV-Arztes und des BSV die Erkenntnisse im ABI-Gutachten und im Bericht von
Prof. Dr. Z.________ nicht zu widerlegen vermögen. Der angefochtene Entscheid
ist daher aufzuheben und die Sache ist an die Vorinstanz zur weiteren
Behandlung zurückzuweisen. Sollte die Vorinstanz das Vorhandensein eines
invalidisierenden Gesundheitsschadens noch nicht als erwiesen betrachten,
steht es ihr frei, allenfalls weitere medizinische Abklärungen vornehmen zu
lassen, um schliesslich neu über das Leistungsbegehren des Versicherten zu
entscheiden."

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ unter Aufhebung des
kantonalen Entscheides und der Verwaltungsverfügung die Zusprechung einer
ganzen Invalidenrente beantragen; zudem sei festzustellen, "dass vorliegend
ein grundsätzlicher Anspruch auf Umschulungsmassnahmen der
Invalidenversicherung besteht".

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das BSV auf eine Vernehmlassung.

Nach Abschluss des Schriftenwechsels lässt der Beschwerdeführer mit Datum vom
30. Juni 2003 eine weitere Stellungnahme einreichen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidgenössische Versicherungsgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne
von Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Im
verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur
Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige
Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung
genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den beschwerdeweise
weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es an einem
Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und
insoweit keine Verfügung ergangen ist (BGE 125 V 414 Erw. 1a, 119 Ib 36 Erw.
1b, je mit Hinweisen).

1.2 Die Frage nach der Festlegung des Anfechtungsgegenstandes beurteilt sich
nicht ausschliesslich auf Grund des effektiven Inhalts der Verfügung. Wohl
bilden zunächst diejenigen Rechtsverhältnisse Teil des
Anfechtungsgegenstandes, über welche die Verwaltung in der Verfügung
tatsächlich eine Anordnung getroffen hat. Zum beschwerdeweise anfechtbaren
Verfügungsgegenstand gehören aber - in zweiter Linie - auch jene
Rechtsverhältnisse, hinsichtlich deren es die Verwaltung zu Unrecht
unterlassen hat, verfügungsweise zu befinden. Dies ergibt sich aus dem
Untersuchungsgrundsatz und dem Prinzip der Rechtsanwendung von Amtes wegen,
welche für das gesamte Administrativverfahren der Invalidenversicherung
massgeblich sind (BGE 116 V 26 Erw. 3c mit Hinweis). Nach der Rechtsprechung
wahrt die versicherte Person mit der Anmeldung alle nach den Umständen
vernünftigerweise in Betracht fallenden Leistungsansprüche. Die
Abklärungspflicht der IV-Stelle erstreckt sich auf die nach dem Sachverhalt
und der Aktenlage im Bereich des Möglichen liegenden Leistungen. Insoweit
trifft sie auch eine Beschlusses- bzw. Verfügungspflicht (BGE 111 V 264 Erw.
3b).

1.3 Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts stellt
der Rückweisungsentscheid einer kantonalen Rekursinstanz eine im Sinne von
Art. 128 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG und Art. 5 VwVG mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht
anfechtbare Endverfügung dar. Anfechtbar ist grundsätzlich nur das
Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides. Verweist indessen
das Dispositiv eines Rückweisungsentscheides ausdrücklich auf die Erwägungen,
werden diese zu dessen Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand
gehören, an der formellen Rechtskraft teil. Dementsprechend sind die Motive,
auf die das Dispositiv verweist, für die Behörde, an die die Sache
zurückgewiesen wird, bei Nichtanfechtung verbindlich. Beziehen sich diese
Erwägungen auf den Streitgegenstand, ist somit auch deren Anfechtbarkeit zu
bejahen (BGE 120 V 237 Erw. 1a mit Hinweis).

2.
Strittig ist, ob dem Beschwerdeführer aufgrund der Verhältnisse, wie sie sich
bis zum Erlass der angefochtenen Ablehnungsverfügung (hier: vom 19. August
2002) entwickelt haben (BGE 121 V 366 Erw. 1b), Leistungen der
Invalidenversicherung zustehen. Daher ist das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in materiellrechtlicher
Hinsicht für die Beurteilung der Sache nicht massgeblich (BGE 127 V 467 Erw.
1).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer macht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend, von
weiteren medizinischen Abklärungen durch die IV-Stelle sei entgegen dem
angefochtenen Entscheid abzusehen, da auf Grund der sich aus dem
ABI-Gutachten ergebenden Erkenntnisse von einem invalidisierenden
Gesundheitsschaden auszugehen sei; darauf habe ja das kantonale Gericht die
Gutheissung der vorinstanzlichen Beschwerde abgestützt.

3.2 Die Vorinstanz unterliess es im angefochtenen Entscheid, über den
Streitgegenstand schlüssig zu bestimmen. Wohl hob das kantonale Gericht die
Verwaltungsverfügung vom 19. August 2002 mit der Bemerkung auf, die IV-Stelle
habe "das Leistungsbegehren zu Unrecht abgewiesen" (Dispositiv Ziffer 1 in
Verbindung mit Erwägung Ziffer 3). Es begründete dies damit, "die
Stellungnahmen des IV-Arztes und des BSV [würden] die Erkenntnisse im
ABI-Gutachten und im Bericht des Prof. Dr. Z.________ nicht zu widerlegen
vermögen." Sinngemäss stellte es somit auf die Ergebnisse des ABI-Gutachtens
vom 8. Februar 2002 ab, wonach die Experten davon ausgingen, dass beim
Exploranden retrospektiv ab November 1999 von einer 75 %igen
Arbeitsunfähigkeit auszugehen und ab 8. Februar 2002 eine 50 %ige
Arbeitsfähigkeit anzunehmen sei. Diese Auffassung, gestützt auf welche die
vorinstanzliche Beschwerde gutgeheissen und die Verwaltungsverfügung
aufgehoben wurde, steht in direktem Widerspruch zur unmittelbar
anschliessenden Aussage, dass die Verwaltung, falls diese vom Vorhandensein
eines invalidisierenden Gesundheitsschadens - entgegen dem hier angefochtenen
Entscheid - nicht überzeugt sei, nach Belieben weitere medizinische
Abklärungen vornehmen lassen könne. Mit dieser Formulierung wäre es der
Verwaltung anheim gestellt, zum Beispiel durch eine erneute medizinische
Begutachtung dem kantonalen Entscheid nachträglich gegebenenfalls die
Grundlage zu entziehen, was zu einem verfahrensmässigen Leerlauf führen
würde. Die Vorinstanz, an welche die Sache zur neuen Entscheidung über die
Beschwerde gegen die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Graubünden vom 19.
August 2002 zurückzuweisen ist, wird in unmissverständlicher Form und mit
einer entsprechenden Begründung versehen zum Streitgegenstand (vgl. Erw. 2
und 1.2 hievor) Stellung nehmen und sich dabei in für die IV-Stelle
verbindlicher Weise entscheiden müssen, ob die vorhandenen medizinischen
Unterlagen zur schlüssigen Beantwortung der Frage nach einem Anspruch auf
Leistungen der Invalidenversicherung ausreichen oder nicht.

4.
Bei diesem Verfahrensausgang steht dem obsiegenden Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu (Art. 159 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 14. Januar 2003
aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im
Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde gegen die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons Graubünden vom 19. August 2002 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden, der Ausgleichskasse Grosshandel und Transithandel und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 4. August 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber:

i.V.