Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 19/2003
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I 19/03

Urteil vom 29. Januar 2004
III. Kammer

Bundesrichter Rüedi, Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Flückiger

R.________, 2000, Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Eltern und diese
vertreten durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse
4, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 20. November 2002)

Sachverhalt:

A.
Die am 8. Mai 2000 geborene R.________ leidet seit Geburt am
Prader-Willi-Syndrom (auch Prader-Labhart-Willi-Syndrom, nachfolgend PWS) und
wurde wegen der damit verbundenen Symptome bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle Luzern zog Berichte des
Kinderspitals X.________ vom 13., 16. Juni, 5. Juli, 17. August und 14.
November 2000 bei. Gestützt darauf übernahm sie bestimmte Analyse-,
Krankenpflege- und Hospitalisationskosten. Dagegen verneinte die Verwaltung
nach Einholung einer Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung
(BSV) vom 10. Januar 2001 sowie Beizug eines Schreibens des PD Dr. med.
E.________, Kinder- und Jugendmedizin FMH, spez. Wachstums- und
Hormonstörungen, vom 1. März 2001 das Vorliegen einer cerebralen
Bewegungsstörung im Sinne der Geburtsgebrechen gemäss Ziffern 390 und 395 des
Anhangs zur Verordnung über Geburtsgebrechen, GgV (Verfügung vom 17. April
2001). Mit Verfügung vom 8. Mai 2001 lehnte es die IV-Stelle ausserdem ab, im
Rahmen des Geburtsgebrechens gemäss Ziffer 462 des Anhangs zur GgV
(angeborene Störungen der hypothalamohypophysären Funktion [hypophysärer
Kleinwuchs, Diabetes insipidus, Prader-Willi-Syndrom und Kallmann Syndrom])
eine Behandlung mit Wachstumshormonen sowie Physiotherapie zu übernehmen.

B.
Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern nach Vereinigung der beiden Verfahren ab (Entscheid vom 20. November
2002). Im Verlauf des Rechtsmittelverfahrens hatte das Gericht ein Gutachten
des Prof. Dr. med. S.________, Leitender Arzt Endokrinologie und Diabetologie
am Kinderspital Y.________, eingeholt, welches am 13. Mai 2002 erstattet
wurde. Die IV-Stelle hatte ein Schreiben des PD Dr. med. E.________ vom 29.
Januar 2002 eingereicht.

C.
R.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es seien ihr medizinische Massnahmen in Form einer Behandlung mit
Wachstumshormonen sowie von Physiotherapie zuzusprechen; eventuell sei die
Angelegenheit zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Mit
der Beschwerdeschrift wurden Gutachten von PD Dr. med. E.________ vom 19.
Dezember 2002 (mit diversen Beilagen) und Frau PD Dr. med. J.________, Spital
Z.________, vom 9. Januar 2003 aufgelegt.
Die IV-Stelle und das BSV schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 17. April
und 8. Mai 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1).

2.
2.1 Gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20.
Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen
medizinischen Massnahmen. Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche
diese Massnahmen gewährt werden; er kann die Leistung ausschliessen, wenn das
Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Art. 13 Abs. 2 IVG).
Geburtsgebrechen werden definiert als Gebrechen, die bei vollendeter Geburt
bestehen (Art. 1 Abs. 1 GgV). Sie sind im Anhang zur GgV aufgeführt; das
Eidgenössische Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen, die
nicht in der Liste im Anhang enthalten sind, als Geburtsgebrechen im Sinne
von Art. 13 IVG bezeichnen (Art. 1 Abs. 2 GgV).

2.2 Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines
Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach
bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den
therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2
Abs. 3 GgV). Die Massnahmen umfassen gemäss Art. 14 Abs. 1 IVG die
Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische
Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird (lit. a) und die
Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien (lit. b). Die versicherte Person hat
in der Regel nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck
angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen
Umständen bestmöglichen Vorkehren (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG); denn das Gesetz
will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese im
Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist. Ferner muss der
voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen
Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 124 V 110 Erw. 2a, 122 V 214 Erw. 2c,
je mit Hinweisen; SVR 2003 IV Nr. 12 S. 35 Erw. 1.1, Nr. 16 S. 48 Erw. 2.3).
2.3 Der Leistungsanspruch bei Geburtsgebrechen gemäss Art. 13 IVG besteht -
anders als nach der allgemeinen Bestimmung des Art. 12 IVG - unabhängig von
der Möglichkeit einer späteren Eingliederung in das Erwerbsleben (Art. 8 Abs.
2 IVG). Eingliederungszweck ist die Behebung oder Milderung der als Folge
eines Geburtsgebrechens eingetretenen Beeinträchtigung (BGE 115 V 205 Erw.
4e/cc; SVR 2003 IV Nr. 12 S. 35 Erw. 1.2, Nr. 16 S. 48 Erw. 2.3).
2.4 Die Leistungspflicht der Invalidenversicherung bei medizinischen
Massnahmen im Allgemeinen (Art. 12 IVG) und bei Geburtsgebrechen (Art. 13
IVG) im Besonderen setzt u.a. voraus, dass die Massnahmen nach bewährter
Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind (Art. 2 Abs. 1 IVV
und Art. 2 Abs. 3 GgV). Laut der Rechtsprechung gilt eine Behandlungsart dann
als bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft entsprechend, wenn
sie von Forschern und Praktikern der medizinischen Wissenschaft auf breiter
Basis anerkannt ist. Das Schwergewicht liegt auf der Erfahrung und dem Erfolg
im Bereich einer bestimmten Therapie (BGE 115 V 195 Erw. 4b, BGE 123 V 58
Erw. 2b/aa, je mit Hinweisen; AHI 2001 S. 76 f. Erw. 1b). Die für den Bereich
der Krankenpflege entwickelte Definition der Wissenschaftlichkeit findet prinzipiell auch auf die medizinischen Massnahmen der Invalidenversicherung
Anwendung. Eine Vorkehr, welche mangels Wissenschaftlichkeit nicht durch die
obligatorische Krankenpflegeversicherung zu übernehmen ist, kann
grundsätzlich auch nicht als medizinische Massnahme nach Art. 12 oder 13 IVG
zu Lasten der Invalidenversicherung gehen. Die in diesem Sinne lautende, zum
KUVG ergangene Rechtsprechung (BGE 123 V 60 Erw. 2b/cc mit Hinweisen; AHI
2001 S. 76 f. Erw. 1b) ist unter der Herrschaft des seit 1. Januar 1996
geltenden KVG weiterhin anwendbar (Urteile B. vom 11. Dezember 2003, I
519/03, Erw. 5, R. vom 11. März 2003, I 757/02, Erw. 2.1, Z. vom 4. Juli
2002, I 462/01, Erw. 2a, und S. vom 25. Oktober 2001, I 120/01, Erw. 2a).
Medizinische Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (Art. 12 und
13 IVG) sowie Analysen und Arzneimittel (Art. 4bis IVV) werden somit nur
unter der Voraussetzung gewährt, dass sie wissenschaftlich anerkannt sind.
Auch in der Invalidenversicherung gilt das fundamentale Prinzip der
wissenschaftlich nachgewiesenen Wirksamkeit (vgl. dazu BGE 129 V 170 f. Erw.
3.2 mit Hinweisen), d.h. der wissenschaftlichen Anerkennung (BGE 125 V 28
Erw. 5a in fine, 123 V 60 Erw. 2b/cc; Urteil B. vom 11. Dezember 2003, I
519/03, Erw. 5.1).
2.5 Die Verwaltung als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - das
Gericht dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von
ihrem Bestehen überzeugt sind (Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4.
Aufl., Bern 1984, S. 136). Im Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen
Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse
Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen
nicht. Der Richter und die Richterin haben vielmehr jener
Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die sie von allen möglichen
Geschehensabläufen als die Wahrscheinlichste würdigen (BGE 126 V 360 Erw. 5b,
125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen).

3.
Streitig ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf medizinische
Eingliederungsmassnahmen in Form von Wachstumshormontherapie und
Physiotherapie durch die Invalidenversicherung. Zu prüfen ist zunächst, ob
eine Übernahme dieser Behandlungen im Rahmen des Geburtsgebrechens Nr. 462
grundsätzlich in Frage kommt.

3.1 Ziffer 462 Anhang GgV nennt unter dem die Ziffern 451 bis 468 umfassenden
Titel "XVIII. Stoffwechsel und endokrine Organe" das Geburtsgebrechen
"angeborene Störungen der hypothalamohypophysären Funktion (hypophysärer
Kleinwuchs, Diabetes insipidus, Prader-Willi-Syndrom und Kallmann-Syndrom)".
Das PWS ist demnach in seiner Eigenschaft als angeborene Störung der
hypothalamohypophysären Funktion als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13
IVG anerkannt. Nach dem Gesagten (Erw. 2.3 und 2.4 hievor) besteht somit
grundsätzlich Anspruch auf diejenigen Vorkehren, welche nach bewährter
Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, die als Folge dieser
Störung eingetretene Beeinträchtigung in einfacher und zweckmässiger Weise zu
beheben oder zu mildern. Eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung
setzt daher zunächst voraus, dass die durch die Wachstumshormon- und die
Physiotherapie zu behandelnden Leiden als direkte Folge der mit dem PWS
verbundenen Störung der hypothalamohypophysären Funktion eingetreten sind.

3.2 Prof. Dr. med. S.________ führt in seinem der Vorinstanz erstatteten
Gutachten vom 13. Mai 2002 aus, es bestünden in der Literatur gute Hinweise,
dass beim PWS ein zumindest partieller Wachstumshormonmangel bestehe. Man sei
sich in Fachkreisen einig, dass beim PWS eine Form des Wachstumshormonmangels
vorliege. Zum PWS gehöre ganz klar eine hypothalamisch-hypophysäre Störung im
Sinne von Ziffer 462 des Anhangs zur GgV, die heute jedoch auf
neuroendokrinologischer oder molekularer Ebene nicht verstanden sei, obwohl
die genetische Mutation, eine Deletion auf Chromosom 15q11-13, seit langem
bekannt sei. Typischerweise gehörten zum PWS muskuläre Hypotonie bei
verminderter Muskelmasse, Kleinwuchs, Hypogonadismus, progressive Adipositas
per magna bei exzessivem Appetit, geistige Retardierung, Schlafstörungen,
Verhaltensauffälligkeiten und typische Dysmorphiezeichen. Gewisse, aber nicht
alle dieser klinischen Zeichen seien mit einer hypothalamisch-hypophysären
Störung vereinbar. Dies betreffe den relativen Wachstumshormonmangel, den
Hypogonadismus, den exzessiven Appetit und wahrscheinlich auch die muskuläre
Hypotonie. Wissenschaftlich nachgewiesen sei dies allerdings nicht, und es
werde in absehbarer Zukunft voraussichtlich auch nicht möglich sein, die
genauen Zusammenhänge zwischen hypothalamisch-hypophysärer Störung und
muskulärer Hypotonie pathophysiologisch zu verstehen. Allerdings gebe es ein
analoges klinisches Beispiel, das den Zusammenhang von
hypothalamisch-hypophysärer Störung und muskulärer Hypotonie speziell bei
Wachstumshormonmangel unterstütze: Ein nicht geringer Teil der Patienten mit
klassischem Wachstumshormonmangel (isoliert oder in Kombination mit anderen
hypothalamisch-hypophysären Hormonausfällen) zeige klinisch eine ausgeprägte,
teilweise gar invalidisierende muskuläre Hypotonie und Schwäche, die sich mit
der Wachstumshormontherapie normalisiere. Typischerweise zeige der Patient
mit klassischem Wachstumshormonmangel eine ähnliche, wenn auch nicht so
ausgeprägte Verschiebung der Körperzusammensetzung wie das PWS: weniger
Muskelmasse und mehr Fettgewebe.
Mehrere Studien zeigten den Benefit einer Wachstumshormontherapie beim PWS,
wenn auch nicht in dem Ausmass wie beim typischen Patienten mit
Wachstumshormonmangel: Verminderung der Fettgewebemasse, Zunahme der
Muskelmasse und Muskelkraft, Beschleunigung des Wachstums. Insbesondere die
Verbesserung der muskulären Hypotonie und Schwäche durch Wachstumshormon sei
nicht zu unterschätzen: Es verbessere sich dadurch die allgemeine Aktivität,
aber auch die Lungenfunktion durch Stärkung der Thoraxmuskulatur. Zudem gebe
es Hinweise auf eine direkte oder indirekte positive Wirkung von
Wachstumshormon auf das Atemzentrum im Hypothalamus. Dies wiederum
unterstütze die Hypothese eines direkten Zusammenhangs zwischen muskulärer
Hypotonie, Wachstumshormonmangel und hypothalamisch-hypophysärer Störung im
Sinne von Ziffer 462 Anhang GgV.
Angesichts des klar nachgewiesenen Benefits einer Wachstumshormonbehandlung
beim PWS, der geringen Zahl betroffener Patienten und der klaren oben
erwähnten klinischen Entität (zu der die muskuläre Hypotonie und der
zumindest intermediäre Wachstumshormonmangel bei hypothalamo-hypophysärer
Störung gehörten) sei die "überzeugte Empfehlung" des Gutachters an die
IV-Stelle, die Kosten der Behandlung mit Wachstumshormon bei PWS im Sinne von
Ziffer 462 Anhang GgV zu übernehmen.

3.3
3.3.1Dem Gerichtsgutachten des Prof. Dr. med. S.________ ist im Lichte der
durch die Rechtsprechung entwickelten Grundsätze (BGE 125 V 352 ff. Erw. 3)
volle Beweiskraft zuzuerkennen, zumal die darin enthaltenen Aussagen in den
Stellungnahmen von PD Dr. med. E.________ vom 19. Dezember 2002 und Frau PD
Dr. med. J.________ vom 9. Januar 2003 nicht in Frage gestellt werden.
Dementsprechend ist davon auszugehen, dass beim PWS eine Form des
Wachstumshormonmangels vorliegt, welche mit einer hypothalamo-hypophysären
Störung vereinbar ist. Dieses Leiden ist somit dem Geburtsgebrechen gemäss
Ziffer 462 des Anhangs zur GgV zuzurechnen.

3.3.2 Hinsichtlich der muskulären Hypotonie geht aus dem Gutachten hervor,
diese sei "wahrscheinlich" ebenfalls mit der dem Syndrom zuzurechnenden
hypothalamisch-hypophysären Störung vereinbar. Wissenschaftlich nachgewiesen
sei dies allerdings nicht, und es werde in absehbarer Zeit auch nicht möglich
sein, diesen Nachweis zu erbringen. Durch den Terminus "wahrscheinlich" macht
der Gutachter jedoch, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, deutlich, dass
er eher zu dieser Hypothese neigt als zur Annahme des Gegenteils. Es besteht
kein Grund, für die gerichtliche Beurteilung von dieser gutachterlichen
Einschätzung abzuweichen. Damit ist der in diesem Zusammenhang erforderliche
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Erw. 2.5 hievor)
erreicht. Dieses Ergebnis wird zusätzlich gestützt durch die Stellungnahmen
von PD Dr. med. E.________ vom 19. Dezember 2002 und Frau PD Dr. med.
J.________ vom 9. Januar 2003. Auch die muskuläre Hypotonie beim PWS fällt
daher - als direkte Folge der hypothalamohypophysären Störung - unter das
Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 462 des Anhangs zur GgV.

4.
Zu prüfen ist des Weiteren, ob Wachstumshormontherapie und Physiotherapie
beim PWS nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte
Vorkehren darstellen.

4.1 Gemäss der zitierten Rechtsprechung (Erw. 2.4 hievor) bestimmt sich der
Begriff der Wissenschaftlichkeit im Rahmen von Art. 12 und 13 IVG
grundsätzlich nach denjenigen Grundsätzen, welche auch für die Beurteilung
der Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung massgebend
sind.
Nach Art. 24 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 und Art. 32 KVG übernimmt die
obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten für die wirksamen,
zweckmässigen und wirtschaftlichen Leistungen, die der Diagnose oder
Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen, wobei die Wirksamkeit
nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein muss (dazu BGE 125 V 28
Erw. 5a) und - ebenso wie die Wirtschaftlichkeit - periodisch überprüft wird.
Die Leistungen umfassen u.a. die Untersuchungen, Behandlungen und
Pflegemassnahmen, die (...) von Ärzten oder Ärztinnen durchgeführt werden
(Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 KVG) sowie die ärztlich verordneten
Arzneimittel (Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG). Nach Anhörung der zuständigen
Kommissionen und unter Berücksichtigung der Grundsätze nach den Art. 32 Abs.
1 und Art. 43 Abs. 6 KVG erstellt das BSV gemäss Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG
eine Liste der pharmazeutischen Spezialitäten und konfektionierten
Arzneimittel mit Preisen (Spezialitätenliste [SL]), welche in elektronischer
und mindestens einmal jährlich in gedruckter Form veröffentlicht wird (Art.
64 KVV in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung). Die für die Aufnahme in
die Liste massgebenden Grundsätze werden in Art. 30 ff. KLV genannt. Bei der
Erstellung der SL wird das BSV durch die Eidgenössische
Arzneimittelkommission (EAK) beraten (Art. 37a lit. c und Art. 37e Abs. 1
KVV; zur Stellung dieser Kommission BGE 129 V 35 Erw. 3.2.2). Gemäss Art. 73
KVV kann die Aufnahme in die SL unter der Bedingung einer Limitierung
erfolgen, welche sich insbesondere auf die Menge oder die medizinischen
Indikationen bezieht (zum Ganzen: RKUV 2001 Nr. KV 158 S. 157 f. Erw. 2 mit
Hinweisen).

4.2
4.2.1Die in den Akten erwähnten Möglichkeiten einer Wachstumshormonbehandlung
sind in der SL aufgeführt: Norditropin mit der Limitatio "Anwendung nur bei
nachgewiesenem Somatropin-Mangel beim Kind", Genotropin mit der Limitatio
"Anwendung nur bei nachgewiesenem Somatropin-Mangel. Bei Erwachsenen nach
vorgängiger Kostengutsprache durch den Vertrauensarzt des
Krankenversicherers." Ebenfalls mit der Limitierung "Anwendung nur bei
nachgewiesenem Somatropin-Mangel beim Kind" nennt die SL die Produkte
Humotrope und Saizen. Eine ausdrückliche Erwähnung des PWS als Indikation für
diese Produkte enthält die SL dagegen nicht. Die Wirksamkeit der
Wachstumshormonbehandlung beim PWS ist demnach für die Belange der
Invalidenversicherung im Rahmen von Art. 12 und 13 IVG nur dann als
wissenschaftlich hinreichend erhärtet anzusehen, wenn von einem
Somatropin-Mangel im Sinne der Limitierung in der SL ausgegangen werden kann
oder wenn deren diesbezügliche Ergänzung im vorliegenden Verfahren
gerechtfertigt und zulässig ist.

4.2.2 Laut dem Gerichtsgutachten des Prof. Dr. med. S.________ ist man sich
heute in Fachkreisen einig, dass beim PWS eine Form des
Wachstumshormonmangels vorliegt. Dem Gutachten ist andererseits auch zu
entnehmen, dass dieser "zumindest partielle" oder "zumindest intermediäre"
Wachstumshormonmangel nicht ohne weiteres und in allen Punkten mit dem
klassischen Wachstumshormonmangel gleichgesetzt werden. Der Benefit der
Behandlung mit Wachstumshormonen ist bei PWS-Patienten nach Auffassung des
Gutachters gegeben, wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie bei Patienten mit
klassischem Wachstumshormonmangel.

4.2.3 Die Studien über den Wachstumshormonmangel bei PWS-Patienten und dessen
Behandlung durch Wachstumshormontherapie stammen durchwegs aus den letzten
Jahren. Die Aufnahme der erwähnten Arzneimittel in die SL bzw. die
Anerkennung der entsprechenden Leistungspflicht der Krankenversicherer (mit
Limitierung) erfolgte dagegen teilweise bereits früher. Aus diesem zeitlichen
Ablauf wird deutlich, dass sich die Limitierung (Anwendung nur bei
nachgewiesenem Somatropin-Mangel beim Kind) ursprünglich nur auf den
klassischen und nicht auch auf den mit dem PWS verbundenen
Wachstumshormonmangel beziehen konnte. Aus dem Gutachten des Prof. Dr. med.
S.________ geht hervor, dass der Wachstumshormonmangel beim PWS nicht in
allen Punkten und ohne weiteres mit dem klassischen Wachstumshormonmangel
gleichgesetzt werden kann. Zudem ist davon auszugehen, dass bei der
Beurteilung der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit auch die weiteren Symptome
des PWS berücksichtigt werden müssen, aus welchen sich beispielsweise
allenfalls Kontraindikationen ergeben könnten, die beim "klassischen"
Wachstumshormonmangel nicht gegeben sind. Die mit der Aufnahme der erwähnten
Medikamente in die SL verbundene Limitierung erfasst daher den
Wachstumshormonmangel beim PWS nicht. Eine Leistungspflicht des
obligatorischen Krankenpflegeversicherers - und damit auch der
Invalidenversicherung im Rahmen von Art. 12 und 13 IVG - lässt sich deshalb
für den vorliegend relevanten Zeitraum bis 8. Mai 2001 aus der limitierten
Aufnahme der genannten Arzneimittel in die SL nicht ableiten. Am 25. Juni
2001 wurde Genotropin nun auch hinsichtlich der Indikation PWS durch das
schweizerische Heilmittelinstitut, Swissmedic, registriert (vgl. die als
Anhang zum Gutachten des PD Dr. med. E.________ vom 19. Dezember 2002
eingereichte Registrierungsurkunde). Diese Registrierung stellt eine
notwendige Voraussetzung der Aufnahme in die SL dar (BGE 129 V 45 f. Erw.
6.2.1; vgl. auch Art. 65 Abs. 1 KVV und Art. 30 Abs. 1 lit. b KLV), vermag
diese jedoch als Grundlage der Leistungspflicht des obligatorischen
Krankenpflegeversicherers nicht zu ersetzen.

4.2.4 Die Aufnahme oder Nichtaufnahme eines Präparates in die
Spezialitätenliste kann durch das Eidgenössische Versicherungsgericht
überprüft werden, wobei die Kognition jedoch angesichts von Art. 105 Abs. 2
und Art. 132 OG eingeschränkt ist (SVR 2002 KV Nr. 7 S. 22 Erw. 3 mit
Hinweisen). Ausserdem ist bei der gerichtlichen Überprüfung Zurückhaltung am
Platz, soweit die Streitpunkte medizinische und pharmazeutische Fragen
betreffen, deren Beantwortung Fachkenntnis und Erfahrung verlangt, über
welche die EAK als zuständige Kommission im Sinne von Art. 52 Abs. 1 KVG in
höherem Masse verfügt als ein Gericht (BGE 129 V 35 Erw. 3.2.2 mit
Hinweisen). Im vorliegenden Fall geht aus den Gutachten des Prof. Dr. med.
S.________ und des PD Dr. med. E.________ hervor, dass gute Gründe für eine
Aufnahme der Wachstumshormonbehandlung beim PWS bestehen. Der medizinische
Sachverhalt kann aber nicht als dermassen eindeutig bezeichnet werden, dass
sich das Gericht über die während des relevanten Zeitraums geltende Fassung
der SL hinwegsetzen könnte. Aus den Akten geht vielmehr auch hervor, dass
Unterschiede zwischen dem "klassischen" Wachstumshormonmangel und demjenigen
beim PWS bestehen, welche eine gesonderte Prüfung der Aufnahme in die SL
rechtfertigen. Es lässt sich daher nicht beanstanden, dass es die IV-Stelle
abgelehnt hat, im Rahmen medizinischer Eingliederungsmassnahmen gemäss Art.
13 IVG die Wachstumshormonbehandlung beim PWS zu übernehmen. Die
Differenzierung nach der Art des Gesundheitsschadens bei der Beurteilung der
Leistungspflicht der Invalidenversicherung für Wachstumshormonbehandlungen
entspricht auch der bisherigen Praxis. So hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht im Urteil R. vom 12. November 2003, I 642/02, erkannt,
bei einer qualitativen Störung der Hormonsynthese oder einer angeborenen
Veränderung des Rezeptors für das Wachstumshormon bestehe mangels fundierter
wissenschaftlicher Erkenntnisse über deren Wirksamkeit kein Anspruch auf
Behandlung mit Wachstumshormonen.

4.3 Zu prüfen bleibt die Leistungspflicht der Invalidenversicherung für
Physiotherapie zur Behandlung der muskulären Hypotonie. Da diese, wie
dargelegt, dem Geburtsgebrechen Nr. 462 zuzuordnen ist, hängt die Antwort auf
die Frage, ob es sich um eine nach bewährter Erkenntnis der medizinischen
Wissenschaft angezeigte Vorkehr handelt, ebenfalls davon ab, ob die
obligatorische Krankenpflegeversicherung die Behandlung zu übernehmen hätte.
Gemäss Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG umfassen die Leistungen der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung u.a. die Untersuchungen,
Behandlungen und Pflegemassnahmen, die (...) durchgeführt werden von
Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin
Leistungen erbringen. Dazu zählen nach Art. 46 Abs. 1 lit. a und Art. 47 KVV
die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten. Der Umfang der
Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wird in Art. 5
KLV geregelt. Die Behandlung hat dementsprechend auch für die Belange der
medizinischen Eingliederungsmassnahmen nach Art. 12 und 13 IVG als nach
bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte Vorkehr zu
gelten. Aus den Akten, insbesondere der Stellungnahme des PD Dr. med.
E.________ vom 1. März 2001, geht ausserdem hervor, dass die Physiotherapie
im Zusammenhang mit der muskulären Hypotonie beim PWS geeignet ist, den
Eingliederungszweck (Erw. 2.3 hievor) in einfacher und zweckmässiger Weise
anzustreben. Die Invalidenversicherung ist somit diesbezüglich grundsätzlich
leistungspflichtig. Die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie
den Umfang des Leistungsanspruchs (Anzahl der Sitzungen, eventuell
[vorläufige] zeitliche Begrenzung) festsetze.

5.
5.1 Zusammenfassend ergibt sich, dass die zur Diskussion stehenden Vorkehren
ein Leiden betreffen, welches als Geburtsgebrechen anerkannt ist. Die
Wachstumshormontherapie hat jedoch auf Grund der im Bereich der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung geltenden Regelung nicht als nach
bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt zu gelten, wie
es Art. 2 Abs. 3 GgV voraussetzt. Insoweit besteht deshalb keine
Leistungspflicht der Invalidenversicherung. Demgegenüber ist ein Anspruch auf
Physiotherapie zur Behebung oder Milderung der muskulären Hypotonie gegeben,
wobei dessen Umfang durch die IV-Stelle verfügungsweise festzusetzen sein
wird. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist dementsprechend teilweise
gutzuheissen.

5.2 Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die teilweise obsiegende
Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung (Art.
159 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 135 OG).
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird beantragt, es sei die IV-Stelle zur
Tragung der Kosten der Gutachten von PD Dr. med. E.________ vom 19. Dezember
2002 und Frau PD Dr. med. J.________ vom 9. Januar 2003 zu verpflichten. Nach
der Rechtsprechung sind einer vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
obsiegenden Partei, die sich auf ein privates Gutachten stützt, alle
notwendigen Expertenkosten unter dem Titel Parteientschädigung im Sinne von
Art. 159 OG zu ersetzen (BGE 115 V 63 Erw. 5c; RKUV 2000 Nr. U 362 S. 44 Erw.
3b). Im vorliegenden Fall ergab sich der für die teilweise Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde massgebende Umstand, dass die muskuläre
Hypotonie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als direkte Folge der
hypothalamohypophysären Störung anzusehen ist, bereits aus dem durch die
Vorinstanz eingeholten Gutachten des Prof. Dr. med. S.________ vom 13. Mai
2002, während auf Grund der Stellungnahme des PD Dr. med. E.________ vom 1.
März 2001 hinreichend dargetan war, dass die Physiotherapie eine den
gesetzlichen Anforderungen gerecht werdende Art der Behandlung darstellt.
Unter diesen Umständen waren die beiden Privatgutachten für den Ausgang des
Prozesses nicht entscheidend. Die Parteientschädigung ist daher ohne Einbezug
dieser Kosten festzusetzen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die
Verwaltungsverfügung vom 8. Mai 2001 insoweit aufgehoben, als damit der
Anspruch auf Physiotherapie verneint wurde, und es wird die Sache an die
IV-Stelle Luzern zurückgewiesen, damit sie den Umfang dieses Anspruchs
verfügungsweise festsetze. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Luzern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 29. Januar 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Vorsitzende der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: