Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 18/2003
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I 18/03

Urteil vom 5. Dezember 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiberin
Bollinger

B.________, 1960, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland
Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 16. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1960 geborene B.________ arbeitete seit 1. März 1986 als Staplerfahrer
bei der Firma X.________ und war bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am
21. November 1995 rutschte er auf einem nassen Bahnwagen aus, fiel über einen
Puffer und zog sich eine zentrale Leberruptur zu. Die SUVA erbrachte die
gesetzlichen Leistungen. Ende Juli 1996 war B.________ wieder
teilarbeitsfähig; eine Wiederaufnahme der Arbeit fand jedoch - abgesehen von
wenigen Stunden dauernden Arbeitsversuchen - nicht statt. Die SUVA verfügte
am 29. November 1996 eine Arbeitsfähigkeit von 50 % ab 29. Juli 1996, eine
solche von 75 % ab 26. August 1996, von 0 % ab 11. September 1996, von 50 %
ab 29. November 1996 und von 100 % ab 2. Dezember 1996. Am 19. Dezember 1996
wurde B.________ die Arbeitsstelle gekündigt. Ab 24. Dezember 1996 bezog er
Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Mit Einspracheentscheid vom 6. März
1997, den das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau am 13. August 1997
schützte, setzte die SUVA die Arbeitsfähigkeit vom 26. August bis 10.
September 1996 auf 50 % fest; im Übrigen bestätigte sie die Verfügung vom 29.
November 1996. Am 18. Juni 1997 meldete sich der Versicherte wegen
Leberproblemen zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an.

Im Mai 1998 wurde B.________ wegen multipler Narbenhernien im Spital
Y.________ operiert, ohne dass eine Verbesserung des Gesundheitszustandes
erreicht werden konnte. Im Juli 1998 diagnostizierten die Ärzte anlässlich
einer erneuten Hospitalisation eine biliäre Pankreatitis mit Verdacht auf ein
inkarzeriertes Konkrement papillär bei Cholezystiolithiasis; am 27. Juli 1998
fand eine Cholecystektomie statt. Die SUVA richtete dem Versicherten ab 19.
Mai 1998 ein 100%Biges Taggeld und ab 1. September 2000 eine Invalidenrente
bei einer Erwerbsunfähigkeit von 100 % aus. Nach medizinischen und
erwerblichen Abklärungen, Beizug der Akten der SUVA und durchgeführtem
Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau B.________ am
3. Juli 2002 eine ganze Invalidenrente, nebst Zusatzrente für die Ehegattin
und Kinderrenten, ab 1. Mai 1998 zu.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher B.________ die Zusprechung einer
ganzen Invalidenrente "auch für die Zeit ab Beginn der langedauernden
Krankheit bis am 31. Dezember 1998", eventualiter die Rückweisung an die
IV-Stelle, verlangte, wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau
mit Entscheid vom 16. Dezember 2002 ab, soweit sie darauf eintrat.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Ausrichtung
einer ganzen Invalidenrente "ab Beginn der langdauernden Krankheit" bis 1.
Mai 1998, eventualiter die Durchführung weiterer Abklärungen bzw. Rückweisung
an die Verwaltung, beantragen.

Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (vom 3. Juli
2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im
vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen
anwendbar.

2.
Unbestrittenermassen ist der Beschwerdeführer seit Mai 1998 vollständig
invalid. Streitig und zu prüfen ist, ob und allenfalls in welchem Umfang
bereits vor diesem Zeitpunkt Anspruch auf eine Invalidenrente besteht.

2.1 Nach Art. 4 Abs. 1 IVG gilt als Invalidität die durch einen körperlichen
oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit
oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde
Erwerbsunfähigkeit. Gemäss Art. 28 Abs. 1 IVG haben Versicherte Anspruch auf
eine ganze Rente, wenn sie mindestens zu 66 2/3 %, auf eine halbe Rente, wenn
sie mindestens zu 50 %, oder auf eine Viertelsrente, wenn sie mindestens zu
40 % invalid sind.

Art. 29 Abs. 1 IVG bestimmt, dass der Rentenanspruch nach Art. 28 IVG
frühestens in dem Zeitpunkt entsteht, in dem der Versicherte mindestens zu 40
% bleibend erwerbsunfähig geworden ist (lit. a) oder während eines Jahres
ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 %
arbeitsunfähig gewesen war (lit. b), und wenn sich daran eine
Erwerbsunfähigkeit in mindestens gleicher Höhe anschliesst (BGE 121 V 274
Erw. 6b/cc, 119 V 115 Erw. 5a mit Hinweisen). Bleibende Erwerbsunfähigkeit
ist nach der Rechtsprechung anzunehmen, wenn ein weitgehend stabilisierter,
im Wesentlichen irreversibler Gesundheitsschaden vorliegt, welcher die
Erwerbsfähigkeit voraussichtlich dauernd in rentenbegründendem Masse
beeinträchtigt. Als relativ stabilisiert kann ein labil gewesenes Leiden erst
betrachtet werden, wenn vorausgesehen werden kann, dass in absehbarer Zeit
keine praktisch erhebliche Wandlung mehr erfolgen wird (BGE 119 V 102 Erw.
4a; AHI-Praxis 1999 S. 79). Die Annahme bleibender Erwerbsunfähigkeit im
Rahmen von Art. 29 IVG ist selten. Es genügt nicht, dass der
Gesundheitsschaden irreversibel ist, wenn er nicht gleichzeitig als
mindestens relativ stabilisiert erscheint (Meyer-Blaser, Bundesgesetz über
die Invalidenversicherung [IVG], in: Murer/Stauffer [Hrsg.], Die
Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997,
S. 232 f.).
2.2 Aus den Akten geht hervor, dass sich der Gesundheitszustand des
Beschwerdeführers im Anschluss an den Unfall vom 21. November 1995 nach
anfänglichen Komplikationen besserte. Ab dem 29. Juli 1996 betrug die
Arbeitsunfähigkeit lediglich noch 50 %; ab dem 2. Dezember 1996 bestand
wieder volle Arbeitsfähigkeit, wobei die aus ärztlicher Sicht bereits ab
Anfang November 1996 bestehende uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit lediglich
aus administrativen Gründen erst ab Dezember 1996 zum Tragen kam. Im Mai 1998
trat eine Verschlechterung der gesundheitlichen Verhältnisse ein (Operation
multipler Narbenhernien am 22. Mai 1998; im Juli 1998 Diagnose einer biliären
Pankreatitis mit Verdacht auf inkarzeriertes Konkrement papillär bei
Cholezystolithiasis, in der Folge Durchführung einer Cholezystektomie;
Carpaltunnelsyndrom rechts im Sommer 1998; andauernde Persönlichkeitsstörung
bei chronifiziertem Schmerzsyndrom). Der Beschwerdeführer war somit zunächst
vom 21. November 1995 bis 28. Juli 1996 vollständig arbeitsunfähig, in der
Folge aber bis November bzw. Dezember 1996 - mit Ausnahme einer vollständigen
Arbeitsunfähigkeit vom 11. bis 30. September 1996 wegen einer Hospitalisation
- teilweise und danach uneingeschränkt arbeitsfähig. Erst ab Mai 1998 trat
eine vollständige und dauerhafte Arbeitsunfähigkeit ein; ab diesem Zeitpunkt
kann von einer voraussichtlich bleibenden oder längere Zeit dauernden
Erwerbsunfähigkeit (Art. 4 IVG; Erw. 2.1 hievor) gesprochen werden. Soweit
der Beschwerdeführer eine seit dem Unfall bestehene Arbeitsunfähigkeit aus
psychischen Gründen geltend macht, ist die Vorinstanz unter Würdigung der
medizinischen Unterlagen zum zutreffenden Schluss gelangt, dass dieses
Vorbringen unbegründet ist. Aus den Akten ergibt sich nichts, was zu einer
anderen Beurteilung zu führen vermöchte. Der auf den 1. Mai 1998 festgesetzte
Rentenbeginns ist somit korrekt. Von weiteren Abklärungen kann abgesehen
werden, da davon keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (antizipierte
Beweiswürdigung; BGE 124 V 94 Erw. 4b; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b).

2.3 Wenn sich der Beschwerdeführer darauf beruft, die
Arbeitslosenversicherung habe seine Vermittlungsfähigkeit vom 24. Dezember
1996 bis 31. Mai 1998 auf 50 % beziffert, kann er daraus hinsichtlich des
Invaliditätsgrades nichts zu seinen Gunsten ableiten. Gemäss Art. 15 Abs. 1
AVIG ist der Arbeitslose vermittlungsfähig, wenn er bereit, in der Lage und
berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Zur Vermittlungsfähigkeit
gehört demnach nicht nur die Arbeitsfähigkeit im objektiven Sinn, sondern
subjektiv auch die Bereitschaft, die Arbeitskraft entsprechend den
persönlichen Verhältnissen während der üblichen Arbeitszeit einzusetzen (ARV
1998 Nr. 5 S. 28 Erw. 3 mit Hinweisen). Der Begriff der Invalidität gemäss
Art. 4 IVG deckt sich somit nicht mit jenem der Vermittlungsfähigkeit, was
sich im Übrigen auch darin zeigt, dass der Bezug einer ganzen Invalidenrente
die Vermittlungsfähigkeit nicht grundsätzlich ausschliesst und jemand, der
trotz eines schweren Gesundheitsschadens invalidenversicherungsrechtlich
nicht in rentenbegründendem Masse erwerbsunfähig ist, gleichwohl
arbeitslosenversicherungsrechtlich gesehen vermittlungsfähig sein kann (vgl.
ARV 1998 Nr. 5 S. 31 Erw. 3b/bb mit Hinweisen).

2.4 Da der Beschwerdeführer von Dezember 1996 bis Ende April 1998 vollständig
arbeitsfähig gewesen ist, erübrigt sich die Prüfung eines
behinderungsbedingten Abzugs vom Tabellenlohn, da auch der
rechtsprechungsgemäss zulässige Maximalabzug von 25 % (BGE 126 V 79 Erw.
5b/aa-cc) in diesem Zeitraum nicht zu einer rentenbegründenden Invalidität zu
führen vermöchte.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 5. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: