Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 183/2003
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I 183/03

Urteil vom 16. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Meyer;
Gerichtsschreiber Attinger

V.________, 1958, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Christoph
Häberli, Strassburgstrasse 11, 8004 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 23. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1958 geborene V.________ leidet an einem (1989 diagnostizierten) Diabetes
mellitus mit diabetischer Nephro- und Retinopathie sowie an einer chronischen
Diarrhoe. Von Mitte Mai 1984 bis Ende März 1992 arbeitete er bei der
Bauunternehmung X.________, wobei er zunächst als Bauarbeiter und in der
Folge, nach Erwerb des entsprechenden Fähigkeitsausweises im November 1986,
als Kranführer beschäftigt wurde. Der Verlust dieser Stelle durch Kündigung
seitens der Arbeitgeberfirma war im Wesentlichen krankheitsbedingt. Von Mitte
Juni 1992 bis Ende Oktober 1995 war der Versicherte als Maschinenführer bei
der Firma Y.________ angestellt. Mit Verfügungen vom 3. November 1995 sowie
vom 15. August und 1. Oktober 1996 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art zu (Umschulung zum
Hotelportier im Rahmen einer praktischen Einarbeitung ab 1. Oktober 1996
unter begleitender Weiterführung des bereits am 23. Oktober 1995 begonnenen
Sprachunterrichts in Deutsch, Französisch und Englisch). Diese beruflichen
Massnahmen mussten am 20. November 1996 abgebrochen werden, weil der
Versicherte den Anforderungen nicht gewachsen war und namentlich seine
Kenntnisse der deutschen Sprache nicht ausreichend hatte verbessern können.
In der Folge prüfte die IV-Stelle die Rentenberechtigung von V.________ und
sprach ihm mit Verfügung vom 11. Dezember 1997 unter Zugrundelegung eines
Invaliditätsgrades von 55 % ab 1. November 1996 eine halbe Invalidenrente zu.

B.
B.aDas Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die dagegen erhobene
Beschwerde, mit welcher V.________ die Ausrichtung einer ganzen Rente
beantragt hatte, mit Entscheid vom 27. April 2000 teilweise gut, hob die
Rentenverfügung vom 11. Dezember 1997 insoweit auf, "als darin der Anspruch
auf berufliche Eingliederungsmassnahmen abgelehnt wird", und wies die
Streitsache "zur Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens betreffend
berufliche Eingliederungsmassnahmen" an die Verwaltung zurück.

B.b In teilweiser Gutheissung der von der IV-Stelle eingereichten
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hob das Eidgenössische Versicherungsgericht den
vorinstanzlichen Entscheid auf und wies die Sache an das kantonale Gericht
zurück, damit dieses über die Beschwerde von V.________ gegen die Verfügung
vom 11. Dezember 1997 betreffend Zusprechung einer halben Invalidenrente
entscheide (Urteil vom 20. August 2002, I 347/00). Daraufhin wies die
Vorinstanz die Beschwerde mit Entscheid vom 23. Januar 2003 ab, wobei das
Gericht von einer 63 %igen Invalidität ausging.

C.
V.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf
Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab 1. November 1996; eventuell sei
die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Auf die einleitenden Erw. 1a und b des hier angefochtenen Entscheids, in
welchen das kantonale Gericht seine Interpretation des Urteils des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 20. August 2002 wiedergibt, braucht
hier nicht näher eingegangen zu werden. Immerhin gilt es richtig zu stellen,
dass das Eidgenössische Versicherungsgericht im genannten Urteil keineswegs
eine Ausdehnung des Verfahrens über den Anfechtungsgegenstand hinaus
vorgenommen hat. Vielmehr hatte es von Amtes wegen die Frage nach der
Rechtmässigkeit der vorinstanzlichen Verfahrensausdehnung auf die beruflichen
Eingliederungsmassnahmen zu prüfen, was mangels einer diesbezüglichen
Prozesserklärung der Verwaltung verneint wurde. Von einer rechtskräftigen
Ablehnung des Anspruchs auf Eingliederungsvorkehren beruflicher Art kann
somit entgegen den Ausführungen des kantonalen Gerichts keine Rede sein.
Zutreffend ist hingegen, dass einzig die Rentenfrage Gegenstand des
vorinstanzlichen Entscheids vom 23. Januar 2003 bildete.

2.
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze über den
Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs
(Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung)
und die Bemessung der Invalidität bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 128 V 30 Erw. 1,
104 V 136 Erw. 2a und b) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 11. Dezember 1997)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1,
121 V 366 Erw. 1b).

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat auf Grund der medizinischen Akten, insbesondere
des Berichtes von Dr. S.________, Spezialarzt für Innere Medizin, vom 23.
Juni 1997 zutreffend festgestellt, dass der Beschwerdeführer trotz seiner
stark limitierenden gesundheitlichen Beschwerden in der Lage sein sollte, die
ihm verbliebene Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen und ausgeglichenen
Arbeitsmarkt zu verwerten. Zumutbar ist die Ausübung einer körperlich
leichten Halbtagstätigkeit (keine Schichtarbeit) mit möglichst geringem
Leistungsdruck und einem Arbeitsumfeld, welches auf seine Beeinträchtigungen
(gestörte Vorwarnung vor Unterzuckerung; zwei bis sechs Stuhlentleerungen pro
Tag) Rücksicht nimmt. In Übereinstimmung mit Verwaltung und Vorinstanz und
entgegen der Auffassung des Versicherten können diese Anforderungen an eine
Arbeitsstelle nicht nur im Rahmen einer geschützten Werkstätte erfüllt
werden. Der Beschwerdeführer war in seiner Heimat als Sprachlehrer tätig und
verfügt über intellektuelle Fähigkeiten, welche ihn für einen potentiellen
Arbeitgeber auf der Suche nach einer gut qualifizierten Hilfsarbeitskraft
attraktiv machen. Wie im angefochtenen Entscheid zutreffend ausgeführt,
kommen für den Versicherten in erster Linie Erwerbstätigkeiten aus dem
gesamten Dienstleistungsbreich in Frage. Hinsichtlich des trotz Behinderung
erzielbaren Invalideneinkommens ist deshalb beim Heranziehen der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 1996 des Bundesamtes für Statistik
vom in Tabelle TA 1 des Anhangs angeführten Zentralwert (Median) für den
gesamten privaten Dienstleistungssektor in der Höhe von Fr. 3882.- auszugehen
(standardisierter monatlicher Bruttolohn von Männern bei Ausübung einfacher
und repetitiver Tätigkeiten [Anforderungsniveau 4]; vgl. RKUV 2001 Nr. U 439
S. 347). Dieser statistische Monatslohn ist - unter Berücksichtigung des
Umstandes, dass ihm eine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden zu Grunde liegt
(LSE 1996 S. 5), welche etwas tiefer ist als die 1996 betriebsübliche
durchschnittliche Arbeitszeit im Dienstleistungsgewerbe von wöchentlich 41,9
Stunden (Die Volkswirtschaft, 2004 Heft 2, S. 90, Tabelle B 9.2) - auf Fr.
4066.- zu erhöhen, was einen Jahresverdienst von Fr. 48'792.- ergibt. Dieser
Betrag ist im Hinblick auf die nur mehr 50 %ige Arbeitsfähigkeit des
Beschwerdeführers auf Fr. 24'396.- zu halbieren. Vorab unter Berücksichtigung
der erwähnten leidensbedingten Einschränkungen und der darauf
zurückzuführenden besonderen Anforderungen an einen Arbeitsplatz rechtfertigt
sich ferner der vorinstanzlich vorgenommene höchstmögliche Abzug vom
Tabellenlohn von 25 % (BGE 129 V 481 Erw. 4.2.3, 126 V 79 f. Erw. 5b/aa-cc),
woraus ein jährliches Invalideneinkommen von Fr. 18'297.- (Fr. 24'396.- x
0,75) resultiert. Insofern bedarf die entsprechende Einkommensberechnung im
angefochtenen Entscheid (das kantonale Gericht ermittelte anhand identischer
Grundlagen ein Invalideneinkommen von Fr. 18'700.- pro Jahr) der
geringfügigen Korrektur.

3.2
3.2.1Vorinstanz und Beschwerdeführer stimmen zu Recht darin überein, dass
Letzterer ohne Gesundheitsschaden im Jahre 1996 mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit weiterhin bei der Bauunternehmung X.________ angestellt
gewesen wäre, erfolgte doch die auf Ende März 1992 ausgesprochene Kündigung
durch die Arbeitgeberfirma offenkundig mit Blick auf die zunehmenden
gesundheitlichen Probleme des Versicherten. Entgegen der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung ist jedoch nicht von
einem hypothetischen beruflichen Aufstieg im Sinne einer Weiterbildung im
Baugewerbe auszugehen, weil es diesbezüglich an den rechtsprechungsgemäss
erforderlichen konkreten Anhaltspunkten mangelt (BGE 96 V 30; AHI 1998 S. 171
Erw. 5a; RKUV 1993 Nr. U 168 S. 100 Erw. 3b). Was das ohne gesundheitliche
Beeinträchtigungen erreichbare sog. Valideneinkommen anbelangt, ist daher
nach dem Lohn zu fragen, den der Beschwerdeführer 1996 als Kranführer bei
seiner früheren Arbeitgeberin erzielt hätte.

3.2.2 Das kantonale Gericht stellte auf die Angaben der Firma X.________ vom
11. September 1997 ab, wonach sich der Stundenlohn des Versicherten im
Vorjahr auf Fr. 25.33 ("inkl. Ferien- und Feiertagsentschädigung sowie
Gratifikation") belaufen hätte, und ermittelte unter Berücksichtigung einer
durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit im genannten Betrieb von 41,5
Stunden ein Jahreseinkommen von Fr. 50'457.- (Fr. 25.33 x 41,5 x 48). Der
Vergleich mit dem unter Erw. 3.1 hievor errechneten Invalideneinkommen von
Fr. 18'297.- würde eine Erwerbseinbusse von 64 % ergeben, womit der zu einer
ganzen Rente berechtigende Invaliditätsgrad von mindestens zwei Dritteln
nicht erreicht würde.

In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird indessen wie bereits im
vorinstanzlichen und im Verwaltungsverfahren eingewendet, der am 12.
September 1991 von der Firma X.________ im Fragebogen für den Arbeitgeber
angegebene Stundenlohn von Fr. 19.70 hätte unter Einhaltung der minimalen
Lohnerhöhungen gemäss den vom Bundesrat jeweils allgemeinverbindlich
erklärten Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern im schweizerischen
Bauhauptgewerbe im Jahre 1996 Fr. 23.90 betragen. Weiter wird vom
Beschwerdeführer geltend gemacht, in Berücksichtigung der
gesamtarbeitsvertraglichen Normalarbeitszeit von 2138 Stunden pro Jahr und
des Anspruchs auf einen 13. Monatslohn beliefe sich das Valideneinkommen auf
mindestens Fr. 55'340.- (Fr. 23.90 x 2138 x 1,083). Aus der Gegenüberstellung
mit dem hievor ermittelten Invalideneinkommen von Fr. 18'297.- ergäbe sich
eine Invalidität von mindestens 67 % und damit ein Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente.

3.2.3 Auf Grund der vorliegenden Angaben der Firma X.________ lässt sich
nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit eruieren, wie viel der Versicherte
als Kranführer im Jahre 1996 bei dieser  Bauunternehmung hätte verdienen
können, wenn er gesund geblieben wäre. Die im Schreiben der früheren
Arbeitgeberin vom 11. September 1997 dargelegte hypothetische Steigerung des
Stundenlohnes des Beschwerdeführers von 1992 bis 1996 lässt sich in der Tat
mit der gesamtarbeitsvertraglich zwingend vorgeschriebenen Lohnentwicklung
gemäss Bundesratsbeschlüssen vom 6. Dezember 1991, 9. März 1993, 17. Februar
1994, 24. Februar 1995 und 23. April 1996 über die
Allgemeinverbindlicherklärung des Landesmantelvertrages für das Baugewerbe
nicht vereinbaren, dies unabhängig von der Lohnklassen-Einreihung des
Versicherten als Bauarbeiter mit Fachkenntnissen (B) oder - wie in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unter Hinweis auf die Kranführerausbildung
geltend gemacht wird - als Bau-Facharbeiter (A). Auf der andern Seite
bestehen auch Unsicherheiten mit Bezug auf den von der Baufirma X.________ am
12. September 1991 im Fragebogen für den Arbeitgeber angeführten Stundenlohn
von Fr. 19.70: Die Multiplikation dieses Betrages mit den im Jahre 1991
geleisteten Arbeitsstunden führt nämlich nicht zum Gesamtbetrag der im
Fragebogen angegebenen Monatslöhne. Gerade im Hinblick auf die vorliegenden
konkreten Gegebenheiten, bei denen es darum geht, einen knapp über oder unter
dem oberen Eckwert von Art. 28 Abs. 1 IVG (in der bis Ende 2003 gültig
gewesenen Fassung) liegenden Invaliditätsgrad zuverlässig zu ermitteln, hätte
die IV-Stelle zur Klärung der Ungereimtheiten im Zusammenhang mit den
Lohnangaben der ehemaligen Arbeitgeberfirma bei der X.________ ergänzende
Auskünfte einholen und gestützt darauf das zutreffende hypothetische
Valideneinkommen in Erfahrung bringen müssen. Die Verwaltung wird dies
nachzuholen haben. Dabei wird auch die Frage zu beantworten sein, ob sich der
Beschwerdeführer - wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht -
ohne Gesundheitsschaden insoweit hätte verbessern können, als er sein Salär
nicht mehr im Stunden-, sondern nunmehr in der für ihn vorteilhafteren Form
des Monatslohns bezogen hätte.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 23. Januar
2003 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 11. Dezember
1997 aufgehoben und die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit
diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den
Rentenanspruch ab 1. November 1996 neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse Ostschweizer Handel, St. Gallen, und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: