Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 170/2003
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I 170/03

Urteil vom 25. Juni 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Signorell

U.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Lienhard,
Pelzgasse 15, 5001 Aarau,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 15. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
U. ________ ist gelernter Kaufmann und betätigte sich seit ... beim
Fussballclub X.________ als Spieler im bezahlten Fussball. Am 13. April 1988
erlitt er bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Trotz
anfangs gutem Heilungsverlauf blieben Restbeschwerden zurück. Nachdem eine
Rückkehr in den professionellen Fussball nicht mehr gelungen war, arbeitete
er zunächst in verschiedenen Teilzeitstellen. Seit dem 20. April 1994
versieht er eine Vollzeitstelle als Operationsgehilfe im Spital Y.________.

Am 2. März 1992 meldete sich U.________ bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. In der Folge bezog er verschiedene Rentenleistungen, die
jedoch sämtliche auf den 30. Juni 1999 befristet waren. Am 12. August 1999
meldete er sich erneut zum Leistungsbezug an, wobei er zunächst nur eine
Umschulung auf eine neue Tätigkeit beantragte. Nachdem die Abklärungen
ergeben hatten, dass er mit seiner jetzigen Tätigkeit optimal eingegliedert
ist und durch eine Umschulung keine Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten
erreicht werden kann, beantragte er die Rentenprüfung. Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren wies die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau
(SVA), IV-Stelle, das Rentengesuch mangels Erwerbseinbusse mit Verfügung vom
24. April 2002 ab.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies eine dagegen geführte
Beschwerde, mit welcher er die Zusprechung der gesetzlichen Leistungen und
die gutachterliche Abklärung, welche beruflichen Tätigkeiten er ohne Unfall
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nach seinem Karriereende als
Berufsfussballer hätte ausüben können und welches Einkommen er dabei hätte
erzielen können, beantragte, mit Entscheid vom 15. Januar 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt U.________ die Zusprechung einer
IV-Rente nach Gesetz, eventuell eine gutachterliche Abklärung der überwiegend
wahrscheinlichen Verdienstmöglichkeiten nach Abschluss der
Profi-Fussballerkarriere ohne Behinderung mit den Fähigkeiten aus einer
kaufmännischen Grundausbildung und der fussballerischen Profilaufbahn,
beantragen.

Die SVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist einzig die Festsetzung des Einkommens, das der
Versicherte erzielen könnte, wenn der Gesundheitsschaden nicht eingetreten
wäre (Valideneinkommen).

2.
Der ohne Invalidität erzielbare Verdienst ist unter Berücksichtigung der
individuellen, persönlichen und beruflichen Verhältnisse des Versicherten zu
bestimmen. Dabei sind nach der Rechtsprechung zu aArt. 28 Abs. 2 IVG und
aArt. 18 Abs. 2 UVG (je in der bis zum 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Fassung; seit 1. Januar 2003 Art. 16 ATSG) theoretisch vorhandene berufliche
Entwicklungs- oder Aufstiegsmöglichkeiten nur dann zu beachten, wenn sie mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit eingetreten wären. Für die Annahme einer
mutmasslichen beruflichen Weiterentwicklung wird daher der Nachweis konkreter
Anhaltspunkte dafür verlangt, dass der Versicherte einen beruflichen Aufstieg
und ein entsprechend höheres Einkommen auch tatsächlich realisiert hätte,
wenn er nicht invalid geworden wäre. Es müssen konkrete Hinweise für das
behauptete berufliche Fortkommen bestehen, so z.B. wenn der Arbeitgeber dies
konkret in Aussicht gestellt oder gar zugesichert hat. Sodann genügen blosse
Absichtserklärungen des Versicherten nicht. Vielmehr muss die Absicht,
beruflich weiterzukommen, bereits durch konkrete Schritte kundgetan worden
sein (BGE 96 V 29; EVGE 1968 S. 93 Erw. 2a; RKUV 1993 Nr. U 168 S. 100 Erw.
3b; nicht publizierte Urteile F. vom 28. August 1996, U 12/96, und M. vom 13.
September 1996, I 419/95).

3.
3.1 Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer im Jahre ... im Alter von 35
Jahren seine Karriere als Spitzenfussballer beendet hätte. Verwaltung und
Vorinstanz gehen davon aus, dass er anschliessend in seinem ursprünglich
erlernten Beruf als Kaufmann tätig geworden wäre. Sie legten dem
Einkommensvergleich ein Valideneinkommen in einer derartigen Erwerbstätigkeit
zu Grunde. Demgegenüber vertritt der Versicherte die Auffassung, dass er,
wenn er nicht bereits im Alter von 24 Jahren seine Fussballertätigkeit hätte
aufgeben müssen, in der zweiten Hälfte seiner Berufskarriere sich mit dem
Trainermetier intensiv auseinandergesetzt hätte. Es sei höchst
wahrscheinlich, dass er die erforderlichen Ausbildungen durchlaufen und dann
als Trainer tätig geworden wäre, auf welcher Stufe und mit welchem Erfolg sei
allerdings schwierig zu beurteilen. Davon seien auch die Berufsberater der
IV-Stelle im Jahre 1992 bei der Rentenverfügung und im Jahre 2002 bei der
Revision ausgegangen.

3.2 Das Valideneinkommen ist als eine der Vergleichsgrössen beim
Einkommensvergleich auch im Rentenrevisionsprozess nach aArt. 41 IVG (in der
bis zum 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung; seit 1. Januar 2003 Art.
17 ATSG) ohne Bindung an die der ursprünglichen Rentenverfügung zu Grunde
liegende Qualifikation frei überprüfbar (AHI 2002 S. 164 ff.). Unter
Umständen können sich aus der besonderen beruflichen Qualifizierung des
Versicherten im Invaliditätsfall Rückschlüsse auf die hypothetische
Entwicklung ergeben, zu der es ohne Eintritt des (unfallbedingten)
Gesundheitsschadens gekommen wäre; insbesondere dürfen beispielsweise ein
besonders hoher leistungsmässiger Einsatz, welchen der Versicherte als
Invalider zeigt, oder eine besondere berufliche Bewährung, die sich seitens
des Invalideneinkommens lohnwirksam niederschlägt, bei der Beurteilung, was
die versicherte Person ohne versicherte Gesundheitsschädigung
beruflich-erwerblich erreicht hätte, berücksichtigt werden (Urteil W. vom 26.
Mai 2003 [U 183/02] Erw. 6.2).

Der Beschwerdeführer hat nach seinem Verkehrsunfall alles versucht, um in
seinem Sport den Anschluss wieder zu finden. Er hat als Spieler im
Amateurfussball Spiele absolviert. Er begann aber auch eine Ausbildung als
Fussballtrainer und erwarb im Jahr ... mit gutem Erfolg das A-Diplom. Damit
ist er berechtigt, eine Mannschaft der 1. Liga (eingeschlossen die
Nachwuchsmannschaften der Nationalligen) als Trainer oder eine solche der
Nationalliga A als Assistenztrainer zu betreuen (vgl. Trainer-Reglement des
Schweizerischen Fussballverbandes, Ausgabe 2003). Seit der Saison ... übt er
diese Funktion auch tatsächlich aus (vgl. Aktennotiz der
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau vom 21. Februar 2002).

Bei diesen sportlichen Ausbildungsbestrebungen ist es äusserst
unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer ohne Gesundheitsschaden nach
Beendung der Karriere als Fussballer im bezahlten Spitzensport während mehr
als 15 Jahren eine Anstellung im erlernten Beruf als Kaufmann gesucht hätte.
Dass er sich damit begnügt hätte, entspricht weder seiner Persönlichkeit noch
seinem Werdegang. Es ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vielmehr davon
auszugehen, dass er eine Tätigkeit als Trainer angetreten hätte. Jedenfalls
hat er diesbezüglich konkrete Schritte zu einem beruflichen Weiterkommen
unternommen (AHI 1998 S. 171 Erw. 5a mit Hinweisen). Dass er andererseits die
Möglichkeit gehabt hätte, einen schweizerischen oder europäischen Spitzenclub
zu betreuen, ist hingegen rein spekulativ. Nicht unwahrscheinlich ist
hingegen, dass er die beiden höherwertigen Trainerdiplome (SFV-Instruktor und
NLA-Trainerdiplom), die er braucht, um einen Club der Nationalligen
trainieren zu dürfen, noch erlangt hätte.

Eine Tätigkeit als Sportlehrer, welche in der Beschwerdeschrift als
Möglichkeit genannt wird, fällt ausser Betracht. Wer als Turn- und
Sportlehrer arbeiten will, bedarf eines Turn- und Sportlehrerdiploms I oder
II. Als Grundvoraussetzung für den Erwerb müsste der Beschwerdeführer ein
Maturitätszeugnis oder ein Primarlehrerdiplom erlangen und anschliessend
einen vier- oder achtsemestrigen Studiengang an einer Universität absolvieren
(vgl. Verordnung des Bundesrates über die Turn- und Sportlehrerausbildung an
Hochschulen vom 21. Oktober 1987 [SR 415.023]). Als Alternative wäre eine
Ausbildung als Sportlehrer FH denkbar. Um zu diesem Diplomstudium zugelassen
werden zu können, wird u.a. eine Berufsmatura oder eine andere gleichwertige
Ausbildung oder eine bestandene Aufnahmeprüfung, die den Zugang an eine
Fachhochschule ermöglicht, verlangt (Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung des
VBS über das Fachhochschul-Diplomstudium Sport vom 20. Mai 1998; SR 415.75).
Nach einer bestandenen Eignungsabklärung (Art. 5 der VO) erfolgt die
eigentliche Ausbildung (Art. 6 VO) an der Eidg. Hochschule für Sport in
Magglingen und erstreckt sich über sechs Semester. Ausbildungsbemühungen in
diese Richtung fehlen indessen klarerweise.

3.3 Bei der Bemessung des hypothetischen Valideneinkommens ist nach dem
Gesagten zwar grundsätzlich von den (durchschnittlichen)
Verdienstmöglichkeiten eines Trainers eines Fussballclubs des bezahlten
Fussballs (Super-League, Challenge-League [Art. 3 der Statuten der Swiss
Football League des SFV vom 9. April 1999]) auszugehen. Allerdings spielt
auch hier die Regel von Angebot und Nachfrage: Einer beschränkten Anzahl von
in Frage kommenden Vereinen stehen recht viele Stellensuchende mit dem
entsprechenden Trainerdiplom gegenüber. Auch für einen ehemaligen
Spitzenspieler ist es eher unwahrscheinlich, bei Beginn der Trainerlaufbahn
ein Engagement als Trainer in einem nationalen Spitzenclub zu erhalten.
Spitzenverdiener der Berufsgruppe scheiden als Referenzgrösse daher aus. In
quantitativer Hinsicht lässt sich immerhin feststellen, dass der mögliche
Lohn im bezahlten Fussball höher anzusetzen ist als in anderen Bereichen des
bezahlten Sportes. Ein Fussballtrainer wird mit anderen Worten mehr verdienen
als ein angestellter Sportlehrer (hier: gemäss Berufsberater rund Fr.
102'000.-), womit Berufsrisiken (wie etwa die starke Erfolgsabhängigkeit,
Gefahr einer fristlosen Entlassung nach kurzer Anstellungszeit, usw.)
ausgeglichen werden. Auch wenn die Bandbreite der bezahlten Löhne sehr gross
ist, dürfte ein Jahressalär von Fr. 200'000.-, wie in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht wird, in der Schweiz für einen
durchschnittlichen Verein der obersten Spielklasse an der obersten Grenze
liegen. In der zweitobersten Spielklasse liesse es sich kaum mehr
realisieren. Angesichts der hierorts begrenzten Nachfrage ist mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer
trotz höherwertiger Qualifikation jedenfalls anfänglich am ehesten eine
Anstellung in der Challenge League oder in der ersten Liga erhalten hätte.
Wie sich die Karriere weiterentwickelt hätte, ist spekulativ. Denn aus einem
hervorragenden Spieler wird nicht zwingend ein erfolgreicher und begehrter
Trainer. Bei einem Engagement in der ersten Liga könnte der Beschwerdeführer
kaum mit einer Vollzeitanstellung rechnen. Die Trainertätigkeit wäre in einem
solchen Fall ein Teil- oder Nebenverdienst, der allerdings zu seinem
gewöhnlichen Erwerbseinkommen hinzuträte.

Die branchenüblichen Löhne ergeben sich aus den Akten nicht. Es wird daher an
der Verwaltung liegen, die notwendigen Abklärungen zu treffen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 15. Januar 2003
und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 24. April 2004
aufgehoben und die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Aargau
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über den Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer
für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse des Verbandes der
schweizerischen Waren- und Kaufhäuser, Zürich, dem Versicherungsgericht des
Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 25. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: