Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 16/2003
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I 16/03

Urteil vom 6. Mai 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Keel Baumann

CSS Versicherung, Rösslimattstrasse 40, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

betreffend M.________, 1987, vertreten durch seine Mutter F.________, und
diese vertreten durch Dr. med. Z.________,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 22. November 2002)

Sachverhalt:

A.
Am 9. September 1996 ersuchte F.________ die IV-Stelle des Kantons Zürich um
medizinische Massnahmen für ihren 1987 geborenen Sohn M.________. Mit
Verfügung vom 9. Oktober 1996 wurde M.________ Psychotherapie nach ärztlicher
Verordnung für die Dauer von Januar 1996 bis Mitte August 1997 zugesprochen,
welche Massnahme mit weiteren Verfügungen (vom 13. Juni 1997, 11. November
1998 und 27. Februar 2001) bis 31. Dezember 2001 verlängert wurde. Ein vom
behandelnden Arzt, Dr. med. Z.________, Facharzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie FMH, im Namen von M.________ am 21. Januar 2002 gestelltes
Gesuch um Übernahme der Psychotherapie für weitere drei Jahre als
medizinische Massnahme lehnte die IV-Stelle ab (Verfügung vom 9. April 2002).

B.
Die von M.________, gesetzlich vertreten durch seine Mutter und diese
vertreten durch Dr. med. Z.________, hiegegen mit dem Antrag auf Übernahme
der Psychotherapie als medizinische Massnahme erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, nach Beiladung der CSS
Versicherung als mitbeteiligtem Krankenversicherer, mit Entscheid vom 22.
November 2002 ab.

C.
Die CSS Versicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid und die Verwaltungsverfügung seien
aufzuheben und die IV-Stelle sei zu verpflichten, die Kosten für die
Fortsetzung der Psychotherapie von M.________ zu übernehmen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Der zum Verfahren beigeladene
M.________ lässt sinngemäss die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist im
vorliegend zu beurteilenden Fall nicht anwendbar, da nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 9. April 2002)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1,
121 V 366 Erw. 1b).

2.
2.1 Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat ein Versicherter Anspruch auf medizinische
Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern
unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die
Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher
Beeinträchtigung zu bewahren. Um Behandlung des Leidens an sich geht es in
der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen pathologischen Geschehens.
Die Invalidenversicherung übernimmt grundsätzlich nur solche medizinische
Vorkehren, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler oder
wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände oder Funktionsausfälle
hinzielen und welche die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten
Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (BGE 120 V 279 Erw. 3a
mit Hinweisen; AHI 2000 S. 64 Erw. 1).

2.2 Bei nichterwerbstätigen minderjährigen Versicherten ist zu beachten, dass
diese als invalid gelten, wenn ihr Gesundheitsschaden künftig wahrscheinlich
eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Nach der
Rechtsprechung können daher medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon
dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des
einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der Invalidenversicherung
übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein
sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die
Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden. In diesem Sinne werden die
Kosten der psychiatrischen Behandlung Minderjähriger von der
Invalidenversicherung getragen, wenn das psychische Leiden mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und
Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden oder gar verunmöglichenden stabilen
pathologischen Zustand führen würde. Umgekehrt kommen medizinische Massnahmen
der Invalidenversicherung auch bei Minderjährigen nicht in Betracht, wenn
sich solche Vorkehren gegen psychische Krankheiten richten, welche nach
heutiger Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne kontinuierliche
Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden können, was in der Regel unter
anderem bei Schizophrenien zutrifft (BGE 105 V 20; AHI 2000 S. 64 Erw. 1, je
mit Hinweisen).

3.
Aus den Akten ergibt sich, dass M.________ seit früher Kindheit an
psychischen Entwicklungsstörungen leidet, welche von den Ärzten der
Kantonalen Kinderstation B.________ in X.________ als hyperkinetische Störung
des Sozialverhaltens (Bericht vom 4. Oktober 1996) und von Dr. med.
Z.________ als emotionale Entwicklungsstörung und kombinierte Störung des
Sozialverhaltens (Bericht vom 22. Februar 2001) bezeichnet werden. Seit
Anfang 1995 steht er deswegen in psychiatrischer Behandlung.

4.
Das am 21. Januar 2002 gestellte Gesuch um Übernahme der Psychotherapie für
weitere drei Jahre begründete Dr. med. Z.________ damit, dass der
Versicherte, bei welchem pädagogisch kaum zu bewältigende Rückzugstendenzen,
Regressionen und Autoritätskonflikte beständen, welche sowohl für das
Heimleben als auch für die schulische Laufbahn einschneidende Konsequenzen
hätten, auf die Massnahme angewiesen sei. Es sei zu erhoffen, dass mit der
Vorkehr der bisherige günstige Verlauf - der Versicherte habe sein
überdurchschnittliches kognitives Potential gut weiter entwickeln können -
stabilisiert werde.

In seinem Bericht vom 22. Februar 2001 wies Dr. med. Z.________ erneut darauf
hin, dass eine Fortsetzung der jugendpsychiatrischen Behandlung inkl.
Psychotherapie - sie beinhalte eine Psychotherapiestunde pro Woche und
zusätzliche, ca. vierteljährlich stattfindende Beratungssitzungen mit den
Bezugspersonen - unbedingt erforderlich sei. Er führte aus, dass aufgrund der
Umplatzierung von M.________ in eine sonderpädagogische Oberstufenschule und
aufgrund der Psychotherapie eine bisher anhaltende und sehr positive
Entwicklung in Gang gekommen sei mit deutlicher Besserung der psychischen,
sozialen und schulischen Fertigkeiten. Den Gesundheitszustand bezeichnete er
als besserungsfähig und gab gleichzeitig an, dass die Behandlungsdauer
unabsehbar sei. Er erwähnte, dass es mit den bisherigen Massnahmen gelungen
sei, eine stabile Defektentwicklung zu verhindern und dies durch die
Fortsetzung der bisherigen Massnahmen mit grosser Wahrscheinlichkeit
weiterhin gewährleistet werden könne.
Mit Schreiben vom 23. Oktober 2002 äusserte sich Dr. med. Z.________
dahingehend, dass die Psychotherapie bzw. jugendpsychiatrische Behandlung
ausschliesslich dazu diene, einen stabilen Gesundheitszustand zu erlangen,
was bedeute, eine psychische und psychosoziale Entwicklung zu erreichen, bei
der keine massgebliche Beeinträchtigung durch die ursprünglichen
Krankheitssymptome mehr beständen. Er wies darauf hin, dass der bevorstehende
Wechsel von der Schule in eine Berufslehre therapeutisch begleitet werden
müsse, und gab an, dass eine Beendigung der Behandlung absehbar sei und der
Abschluss in den nächsten zwei Jahren realisierbar sein dürfte.

5.
Die Vorinstanz erwog, die psychiatrische Behandlung habe bis heute bereits
mehrere Jahre gedauert und solle weiter fortdauern, ohne dass ein Endzustand
in Sicht sei, von welchem gesagt werden könne, dass ein stabiler
Defektzustand beseitigt oder verhindert worden sei. Insbesondere sei nicht
ersichtlich, welcher stabile Defektzustand eintreten würde, wenn M.________
nicht psychiatrisch behandelt würde. Ebenso wenig sei der Umfang der noch
nötigen Behandlung in dem Sinne fest umrissen, dass diese bis zum Erreichen
eines bestimmten Punktes erforderlich wäre. Dies zeige sich auch daran, dass
die Weiterführung der Psychotherapie bis auf weiteres bzw. bis zur
Volljährigkeit verlangt werde. Dass ein Ende der Psychotherapie nicht
absehbar sei, schreibe im Übrigen auch Dr. med. Z.________ in seinem Bericht
vom 22. Februar 2001. Zu einer begrenzten und absehbaren Behandlung werde die
Therapie auch nicht dadurch, dass sie nach der von Dr. med. Z.________ am 23.
Oktober 2002 gestellten Prognose in etwa zwei Jahren sollte abgeschlossen
werden können. Überdies hätte die Behandlung dann neun Jahre gedauert, was
den Rahmen dessen, was als medizinische Massnahme von der
Invalidenversicherung zu übernehmen sei, sprenge.

6.
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Denn nach der in Erw. 2.2
angeführten Rechtsprechung fällt bei Minderjährigen die Übernahme von
Psychotherapie als medizinische Massnahme nicht schon deshalb ausser
Betracht, weil es um die Fortsetzung einer bereits mehrere Jahre andauernden
Behandlung geht. Von der Invalidenversicherung nicht getragen wird eine
solche Vorkehr hingegen, wenn sie sich gegen eine psychische Krankheit
richtet, welche nach heutiger Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne
kontinuierliche Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden kann. Wie sich
dem diagnostizierten Krankheitsbild (Berichte der Kantonalen Kinderstation
B.________ vom 4. Oktober 1996 und des Dr. med. Z.________ vom 22. Februar
2001) und den weitergehenden Ausführungen des Dr. med. Z.________ (Bericht
vom 22. Februar 2001, Schreiben vom 23. Oktober 2002) entnehmen lässt, ist
dies bei M.________ nicht der Fall. Aus den Stellungnahmen des Kinder- und
Jugendpsychiaters ergibt sich sodann deutlich, dass mit der Fortsetzung der
Behandlung verhindert werden kann, dass die Berufsbildung des Versicherten
aufgrund der bestehenden psychischen und sozialen Konflikte beeinträchtigt
wird und es denn auch mit den bisherigen Massnahmen gelungen ist, eine
stabile Defektentwicklung zu verhindern. Unter diesen Umständen ist die bei
Minderjährigen für die Übernahme einer Psychotherapie rechtsprechungsgemäss
(vgl. Erw. 2.2) ausreichende Voraussetzung, dass das psychische Leiden ohne
die psychotherapeutische Behandlung zu einem schwer korrigierbaren, die
spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden oder gar
verunmöglichenden stabilen pathologischen Zustand führen würde, vorliegend
erfüllt. In diesem Punkt unterscheidet sich der Fall von M.________ klar von
dem in der Stellungnahme des BSV zitierten Urteil G. vom 10. Dezember 2001 (I
340/00), in welchem die Übernahme der medizinischen Massnahme bereits daran
scheiterte, dass der Vorkehr kein überwiegender Eingliederungscharakter
zukam. Die Invalidenversicherung hat demnach die anbegehrte Massnahme, deren
Erforderlichkeit und Zweckmässigkeit feststeht und unbestritten ist, zu
übernehmen.

7.
7.1 Nach Art. 134 OG darf das Eidgenössische Versicherungsgericht im
Beschwerdeverfahren über die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen den Parteien in der Regel keine Verfahrenskosten
auferlegen. Diese Bestimmung wurde vom Gesetzgeber vor allem im Interesse der
versicherten Personen geschaffen, die mit einem Sozialversicherer im Streit
stehen. Nach der Rechtsprechung gilt der Grundsatz der Unentgeltlichkeit des
Verfahrens vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht nicht für den Fall,
dass sich zwei Unfallversicherer (BGE 120 V 494 Erw. 3, 119 V 223 Erw. 4c),
ein Kranken- und ein Unfallversicherer (BGE 126 V 192 Erw. 6, AHI 1998 S.
110), die Invalidenversicherung und ein Unfallversicherer (AHI 2000 S. 206
Erw. 2) oder - wie vorliegend - ein Krankenversicherer und die
Invalidenversicherung (Urteil L. vom 28. November 2002, I 92/02) über ihre
Leistungspflicht für einen gemeinsamen Versicherten streiten. Folglich hat
die IV-Stelle als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

7.2 Eine Parteientschädigung wird nicht zugesprochen, weil die obsiegende
Beschwerdeführerin als Krankenversicherer eine öffentlich-rechtliche Aufgabe
im Sinne von Art. 159 Abs. 2 OG wahrnimmt und die Voraussetzungen für die
ausnahmsweise Zusprechung einer Entschädigung nicht gegeben sind (BGE 123 V
309 Erw. 10, 119 V 456 Erw. 6b; SVR 2000 KV Nr. 39 S. 122 Erw. 3).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. November 2002 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 9. April 2002 aufgehoben und
die IV-Stelle wird verpflichtet, die Psychotherapie als medizinische
Massnahme zu übernehmen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 3000.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich, dem Bundesamt für
Sozialversicherung und M.________ zugestellt.

Luzern, 6. Mai 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin:
i.V.