Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 165/2003
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I 165/03
Urteil vom 17. Juli 2003
II. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard;
Gerichtsschreiberin Hofer

A.________, 1989, Beschwerdeführerin, handelnd durch ihren Vater M.________
und dieser vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Bürglistrasse 11,
8002 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 20. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
Die 1989 geborene A.________ steht seit September 1998 wegen psychischer
Störungen in der Behandlung von Dr. phil. H.________. Am 24. Januar 2002
meldeten die Eltern sie bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an
und beantragten die Übernahme der Therapiekosten. Die IV-Stelle des Kantons
Zürich holte die Berichte von Dr. med. S.________ vom 8. Januar und 15.
Februar 2002, von Dr. phil. H.________ und Dr. med. K.________ vom 28. März
2001 und von Dr. med. X.________ vom 18. April 2002 mit gleichzeitiger
Stellungnahme von Dr. phil. H.________ ein. Mit Verfügung vom 7. Mai 2002
lehnte sie das Leistungsbegehren ab, da die Leidensbehandlung im Vordergrund
stehe.

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 20. Dezember 2002 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ beantragen, in Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids sei die IV-Stelle zu verpflichten, die
Psychotherapiekosten zu übernehmen. Zudem liess sie die Berichte von Dr. med.
S.________ vom 25. Februar 2003 und Dr. phil. H.________ vom 4. März 2003
einreichen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 7. Mai
2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im
vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen
anwendbar.

2.
Das kantonale Gericht hat die vorliegend massgebenden gesetzlichen
Bestimmungen und von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über den
Anspruch von nichterwerbstätigen Personen vor dem vollendeten 20. Altersjahr
auf psychiatrische Behandlung als medizinische Eingliederungsmassnahme der
Invalidenversicherung (Art. 5 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 1 IVG; BGE 105 V 19 mit
Hinweisen; AHI 2003 S. 104 Erw. 2, 2000 S. 64 Erw. 1) zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen. Danach kommen medizinische Massnahmen der
Invalidenversicherung auch bei Versicherten unter 20 Jahren nicht in
Betracht, wenn sich solche Vorkehren gegen psychische Krankheiten richten,
welche nach der herrschenden Auffassung der Psychiatrie ohne kontinuierliche
Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden können (BGE 105 V 20; AHI 2000 S.
64 Erw. 1). Gleichgültig ob bei psychischen oder physischen Leiden, ist die
Invalidenversicherung jedenfalls nicht leistungspflichtig, wenn eine
Dauerbehandlung im Sinne einer zeitlich unbegrenzten Therapie medizinisch
erforderlich ist (ZAK 1991 S. 176, 1984 S. 501; Meyer-Blaser, Rechtsprechung
des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 84).

3.
3.1 Die Vorinstanz hat erwogen, die im September 1998 eingeleitete
psychotherapeutische Behandlung habe bereits vier Jahre gedauert und solle
gemäss den ärztlichen Angaben noch weitere drei bis vier Jahre weitergeführt
werden, ohne dass ein Endzustand in Sicht sei, von welchem gesagt werden
könne, dass ein stabiler Defektzustand beseitigt oder verhindert worden sei.
Selbst wenn die Behandlung nach der Prognose der Schulärztin, Dr. med.
S.________, in zwei bis drei Jahren abgeschlossen werden könne, hätte sie
insgesamt sieben bis acht Jahre gedauert, was den zeitlichen Rahmen dessen
sprenge, was als medizinische Massnahme von der Invalidenversicherung zu
übernehmen sei.

3.2 Dieser Auffassung kann insofern nicht beigepflichtet werden, als nach der
Rechtsprechung bei Minderjährigen die Übernahme von Psychotherapie als
medizinische Massnahme nicht schon deshalb ausser Betracht fällt, weil es um
die Fortsetzung einer bereits mehrere Jahre andauernden Behandlung geht
(Urteil M. vom 6. Mai 2003, I 16/03). Bei nicht erwerbstätigen minderjährigen
Versicherten ist nicht entscheidend, ob eine Sofortmassnahme oder eine
zeitlich ausgedehntere (aber nicht unbegrenzte) Vorkehr angeordnet wird (ZAK
1984 S. 503 Erw. 3). Die Massnahmen zur Verhütung einer Defektheilung oder
eines sonst wie stabilisierten Zustandes kann sehr wohl eine gewisse Zeit
andauern. Sie dürfen jedoch nicht Dauercharakter haben, d.h. zeitlich
unbegrenzt erforderlich sein, wie dies beispielsweise beim Diabetes oder bei
Schizophrenien und manisch-depressiven Psychosen (BGE 105 V 20, 100 V 44) der
Fall ist. Solche Krankheiten schliessen medizinische Massnahmen der
Invalidenversicherung auch gegenüber Jugendlichen aus. Dies gilt auch für
Krankheiten, bei denen im Einzelfall keine hinlängliche Zuverlässigkeit dafür
besteht, dass die Prognose günstig ist (AHI 2003 S. 103, 2000 S. 63, ZAK 1984
S. 503 Erw. 3). Bleibt eine Störung (z. B. psychotischer Zustand im Gegensatz
zu einer ausgeprägten Psychose) bei einem Kind lange fortschreitend, dient
eine psychotherapeutische Massnahme in der Regel nicht der Verhinderung eines
stabilen Defektzustandes, der sich in naher Zukunft einstellen würde, weshalb
die Invalidenversicherung nicht dafür aufzukommen hat (ZAK 1971 S. 604 Erw.
3b).  Hingegen sind nach der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht
ausdrücklich als gesetzeskonform bezeichneten (BGE 105 V 20 in fine)
Verwaltungspraxis die Voraussetzungen für die Gewährung medizinischer
Massnahmen an Versicherte vor vollendetem 20. Altersjahr u.a. erfüllt bei
schweren erworbenen psychischen Leiden, sofern - abgesehen von weiteren
Erfordernissen - gemäss spezialärztlicher Feststellung von einer weiteren
Behandlung erwartet werden darf, dass der drohende Defekt mit seinen
negativen Auswirkungen auf die Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz
oder in wesentlichem Ausmass verhindert werden kann (Rz 645-647/845-847.5).

4.
4.1 Der Psychiater Dr. med. X.________ diagnostizierte im Arztbericht vom 18.
April 2002 Angst und depressive Störung gemischt (ICD-10 41.2) mit phobischen
Störungen (F 93.1), Zwangshandlungen (F 41.1), einer chronischen motorischen
Tic-Störung (F 95.1) und Enuresis (F 98.0). Die Standardfrage der IV-Stelle,
ob mit einer psychotherapeutischen Behandlung die drohenden negativen
Auswirkungen der Erkrankung auf die Berufsbildung und Erwerbsfähigkeit ganz
oder in wesentlichem Ausmass verhindert werden kann, kreuzte er mit "Ja" an.
Bezüglich Behandlung und Prognose verwies er auf den beigelegten Bericht der
behandelnden Psychotherapeutin Dr. phil. H.________. Diese spricht von
tiefliegenden schweren Angststörungen mit teilweise psychosomatischer
(Enuresis) und teilweise neurotischer (Phobien/ Zwänge) Verarbeitung. Im
Laufe der Behandlung sei es der Patientin gelungen, einen Teil ihrer
tiefliegenden unbewussten Ängste in bewusste Schulangst umzuwandeln, was
sowohl für die Behandlung als auch prognostisch sehr günstig sei. Die
Entwicklung von unbewusster Symptombildung zu bewusster Konfliktwahrnehmung
erlaube es, die schwere Angststörung therapeutisch konkret und gezielt zu
bearbeiten. Da die positive Entwicklung indessen nicht geradlinig verläuft,
sondern bis anhin immer wieder Rückschläge zu verzeichnen waren, ist nach den
Darlegungen der Psychotherapeutin die Behandlung trotz allgemein günstigem
Verlauf weiterzuführen. Aufgrund der bisherigen Entwicklung könne trotz der
schweren Störung mit einer sehr guten Heilungschance gerechnet werden. In
gleichem Sinne äusserte sich am 8. Januar 2002 auch Dr. med. S.________. Die
Psychotherapie sei zur Unterstützung der erschwerten
Persönlichkeitsentwicklung und insbesondere im Hinblick auf die beginnende
Pubertät dringend indiziert. Gemäss dem Bericht der Schulärztin vom 15.
Februar 2002, in welchem von einer Entwicklungsneurose und depressiven
Verstimmung mit Suizidäusserungen bei Panikzuständen ausgegangen wird, ist
nach dem bisherigen Verlauf anzunehmen, dass die Versicherte im Laufe der
Pubertät selbstständig wird. Die Therapie könne voraussichtlich nach dem
16./17. Altersjahr abgebrochen werden, genaueres könne jedoch erst im Alter
von 14/15 Jahren gesagt werden. Im Schreiben vom 25. Februar 2003 führte sie
an, dass es nicht um eine palliative Begleittherapie gehe, sondern um eine
Therapie mit guter Prognose im Hinblick auf die spätere Selbstständigkeit der
Versicherten.

4.2 Aus dem Dargelegten erhellt, dass vorerst offenbar das Anliegen im
Vordergrund steht, der Versicherten zu helfen, ihre existentiellen Ängste -
namentlich im Schulalltag - zu überwinden, den Herausforderungen der
Adoleszenz auf positive und konstruktive Weise zu begegnen und den Weg in die
Unabhängigkeit von den Eltern hin zur Selbstständigkeit zu fördern (vgl. auch
das Schreiben von Dr. phil. H.________ vom 4. März 2003). Eine medizinische
Massnahme, die an sich der Leidensbehandlung dient, kann von der
Invalidenversicherung jedoch nur übernommen werden, wenn sie dazu bestimmt
ist, bei einer minderjährigen Versicherten einen sich in naher Zukunft
einstellenden stabilen Defektzustand mit seinen negativen Auswirkungen auf
die Berufsbildung und die Erwerbstätigkeit zu verhindern. Ob dies mit Bezug
auf die verschiedenen bei der Versicherten diagnostizierten psychischen
Störungen der Fall ist, lässt sich den Akten nicht mit hinreichender
Zuverlässigkeit entnehmen. Wohl ist von erheblichen Fortschritten und guten
Heilungschancen die  Rede. Unklar bleibt jedoch, auf was genau sich diese
Aussage bezieht. In keinem der von den mit der Versicherten befassten
Personen eingereichten Berichte wird nämlich dazu Stellung genommen, ob die
Psychotherapie (auch) dazu dient - über die Selbstständigkeit im Alltag
hinausgehend - einen stabilen Gesundheitszustand im Sinne einer psychischen
und psychosozialen Entwicklung zu erreichen, bei dem keine massgebliche
Beeinträchtigung durch die psychischen Störungen und Krankheitssymptome mehr
besteht bzw. ob sich eine dahingehende Prognose mit hinlänglicher
Zuverlässigkeit stellen lässt. Dies bedarf der zusätzlichen Abklärung, zu
welchem Zweck die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen ist.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 20. Dezember
2002 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 7. Mai 2002
aufgehoben werden und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen wird, damit
sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Leistungsanspruch neu
verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 17. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der II. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: