Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 164/2003
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I 164/03

Urteil vom 5. Dezember 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Hochuli

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________, 1940, Beschwerdegegnerin,

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 20. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1940 geborene, als Pflegeassistentin im Spital Z.________ (nachfolgend:
Arbeitgeberin) arbeitende A.________ meldete sich am 17. August 2001 wegen
grauem Star, am rechten Auge mehr als am linken, bei der IV-Stelle des
Kantons Basel-Stadt (nachfolgend: IV-Stelle) zum Leistungsbezug an. Die
Invalidenversicherung übernahm die am 28. September 2001 durchgeführte
rechtsseitige Kataraktoperation einschliesslich Nachbehandlung als
medizinische Eingliederungsmassnahme (Verfügung vom 24. Dezember 2001). Auf
erneutes Leistungsgesuch vom 2. Januar 2002 hin lehnte die IV-Stelle die
Übernahme der am 16. November 2001 durchgeführten Staroperation am linken
Auge als medizinische Massnahme zu Lasten der Invalidenversicherung ab
(Verfügung vom 14. Mai 2002), weil die Versicherte für die Ausübung ihrer
Erwerbstätigkeit nicht auf Binokularsehen angewiesen sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 20. Januar 2003 gut,
hob die angefochtene Verwaltungsverfügung auf und wies die Sache zur
Gewährung der "medizinischen Massnahmen hinsichtlich der Staroperation vom
16. November 2001 am linken Auge im notwendigen Umfang" an die IV-Stelle
zurück.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung die Aufhebung des kantonalen Entscheids.

Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, trägt A.________ sinngemäss auf Abweisung derselben.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Voraussetzungen des
Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und
den Anspruch auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG)
zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Wesentlichkeit
und Dauerhaftigkeit des voraussichtlichen Eingliederungserfolgs der
medizinischen Vorkehr (AHI 2000 S. 298 f. Erw. 1b und c mit Hinweisen) sowie
dazu, dass die Übernahme der Staroperation als medizinische
Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in
Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 VG namentlich bezweckt, die
Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen
Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese
Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder
einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den
Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 81 Erw.
1, 102 V 41 f.).

Gestützt auf AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4b ist zudem festzuhalten, dass eine
Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener Sehfähigkeit des anderen Auges
nur dann von der Invalidenversicherung übernommen werden kann, wenn der
Defekt die versicherte Person dermassen in der Ausübung ihrer
Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des Eingriffs die
Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre.

1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in
Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: vom 14. Mai 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE
121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Fest steht, dass bei A.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde
vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b,
97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen).
Unbestritten ist ferner, dass das Alter der Versicherten - sie befand sich im
massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (14. Mai 2002) in ihrem 62.
Lebensjahr - der Übernahme der Kataraktoperation vom 16. November 2001 durch
die Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des zu
erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegen steht (BGE 10 V 50 Erw.
3b).

3.
Das kantonale Gericht vertrat die Auffassung, das Tätigkeitsspektrum der
Versicherten als Pflegeassistentin bedürfe keiner weiteren Abklärung und auf
die Stellungnahme der behandelnden Augenärztin Dr. med. B.________ der Klinik
Y.________ vom 4. April 2002 sei abzustellen. Demnach benötige die
Versicherte zur Ausübung ihrer Tätigkeit binokulares Sehen. Insbesondere bei
"sehr feinen Arbeiten im Nahbereich", wie z.B. beim Tabletten-Ausgeben,
Tropfen-Geben und vor allem bei der Nagel- und Fusspflege mit sehr spitzigen
und scharfen Geräten, sei sie auf beidäugiges Sehen angewiesen, um das
Fremdgefährdungspotential bei diesen Verrichtungen auf ein Minimum zu
reduzieren. Die nach der ersten Kataraktoperation am rechten Auge
verbleibende und mit einer Brille nicht ausgleichbare Anisometropie von
mindestens drei Dioptrien habe die Versicherte als störend empfunden. Dagegen
wendet das Beschwerde führende BSV ein, Anisometropien bis zu vier Dioptrien
liessen sich in aller Regel durch eine Brille auskorrigieren. Störende
ungleiche Bildgrössen bzw. Doppelbilder könnten durch Abdecken des
schlechteren Auges vermieden werden. In den Akten fänden sich keine Hinweise
auf eine (Teil-) Arbeitsunfähigkeit der Versicherten infolge einer durch den
linksseitig verbleibenden grauen Star bedingten
Sehfähigkeitsbeeinträchtigung. Auf die Aussagen der in einem
Auftragsverhältnis zur Versicherten stehenden behandelnden Augenärztin könne
nicht abgestellt werden. Auch wenn bei der Versicherten aus medizinischer
Sicht zweifellos eine beidseitige Kataraktoperation indiziert gewesen sei,
habe die Invalidenversicherung durch die Übernahme des Eingriffs am rechten
Auge die bei der Versicherten drohende Invalidität abwenden können.
Sinngemäss macht das BSV geltend, die Versicherte sei zur Ausübung ihrer
Erwerbstätigkeit als Pflegeassistentin nicht auf binokulares Sehen
angewiesen.

Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit der Versicherten beantwortet werden kann.

3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung
zur Übernahme der Kataraktoperation am zweiten Auge (vgl. AHI 2000 S. 294) im
Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend, dass die Staroperation am
zweiten Auge (nach erfolgter Übernahme am ersten Auge) - bei Erfüllung der
übrigen Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische
Eingliederungsmassnahme durch die Invalidenversicherung zu übernehmen ist,
wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im Rahmen des
ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser Tätigkeiten die
Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht bejaht wird. In
denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische Mindestanforderungen an
die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf diese Visusgrenzwerte
abzustellen, so dass sich in erwerblicher Hinsicht eine detaillierte
Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.

3.2 Den Akten ist nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V
195 Erw. 2, je mit Hinweisen) zu entnehmen, welche konkreten Tätigkeiten
A.________ als Pflegeassistentin im Spital Z.________ zu verrichten hat. Alle
aktenkundigen Hinweise zu den einzelnen Aufgaben im Rahmen ihrer Anstellung
beruhen ausschliesslich auf den Angaben ihrer Augenärztin. Von Seiten der
Arbeitgeberin liegt dazu keine Stellungnahme vor. Unbekannt ist unter
anderem, auf welcher Abteilung des Spitals Z.________ die Versicherte
arbeitet. Weiter ist unklar, ob sie sämtliche Arbeiten alleine verrichten
muss, oder ob - und gegebenenfalls in welchem Ausmass - sie in einzelnen
Aufgaben durch weitere Pflegeassistentinnen oder z.B. betreffend Nagel- und
Fusspflege sogar durch ausgebildete Podologinnen unterstützt wird. Die
Beschreibung der Arbeiten durch die behandelnde Augenärztin, auf welche die
Vorinstanz abstellte, bedarf in dieser Hinsicht ergänzender Abklärungen. Die
Verwaltung, an welche die Sache vorweg zu diesem Zweck zurückzuweisen ist,
wird deshalb in geeigneter Form - z.B. durch Einholung eines Pflichtenheftes
und Befragung der Arbeitgeberin - das Tätigkeitsspektrum der Versicherten
abklären.

3.3 Steht fest, welches die visuell anspruchvollste Tätigkeit der A.________
ist, wird die IV-Stelle einen fachärztlichen Bericht zur diesbezüglichen
Notwendigkeit des Binokularsehens einholen, der nicht allein auf die
subjektiven Angaben der Versicherten abstellt, sondern vielmehr für die
streitigen Belange umfassend ist, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben wird und der
konkreten medizinischen Situation Rechnung trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353
Erw. 3a). Soweit der einseitige Ausfall der Sehfähigkeit durch Angewöhnung an
den Verlust des stereoskopischen Sehens zumutbarerweise kompensiert werden
kann (vgl. z.B. die viermonatige Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in
der Führerausweis-Kategorie B gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober
1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV;
SR 741.51]), hat dies der Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu
Stellung zu nehmen. Erfolgt die augenärztliche Beurteilung dieser Fragen -
wie hier - erst nach bereits durchgeführter Operation, sind sie medizinisch
prognostisch aufgrund der Verhältnisse vor der fraglichen Operation (AHI 2000
S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen) zu beantworten, wobei es zur Aufgabe des Arztes
oder der Ärztin gehört, dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und
bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person ohne die am 16. November
2001 durchgeführte Staroperation am linken Auge arbeitsunfähig geworden wäre
(vgl. BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen).

3.4 Fehlt es an den erforderlichen Grundlagen zur Beantwortung der Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit der Versicherten (vgl. Erw. 3.2 hievor), sind der angefochtene
Entscheid und die Verwaltungsverfügung aufzuheben. Die Sache ist an die
IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese bei den ergänzenden Abklärungen nach
den Erwägungen Ziffer 3.1 bis 3.3 vorgehen und anschliessend über das
Leistungsgesuch betreffend die am 16. November 2001 erfolgte
Kataraktoperation am linken Auge neu verfügen wird.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen,
dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 20. Januar
2003 und die Verwaltungsverfügung vom 14. Mai 2002 aufgehoben werden und die
Sache an die IV-Stelle des Kantons Basel-Stadt zurückgewiesen wird, damit
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über das
Leistungsgesuch betreffend die am 16. November 2001 durchgeführte
Staroperation am linken Auge neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
der Ausgleichskasse Basel-Stadt und der IV-Stelle Basel-Stadt zugestellt.

Luzern, 5. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: